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Paul-Walter Tüx stand über den Tisch gebeugt unter der alten, schwarz lackierten Schreibtischlampe und studierte die Seekarte. Die Luft im U-Boot-Bunker war feuchtkalt und roch nach Schimmel. An den eiskalten Wänden hatte sich Kondenswasser gebildet. Das Geräusch der Tropfen, die auf den Boden der Kammer fielen, hallte in dem engen Raum wider. Bald würde es so weit sein. In zwei Tagen war Neumond. Perfekt für das, was sie vorhatten.
Bisher lief alles nach Plan. Die Strecke kannten sie inzwischen im Schlaf. Sie waren sie unzählige Male gefahren, bei Tag und bei Nacht. Natürlich konnte noch jede Menge schiefgehen, doch genau das war der Kick. Im Krieg hatte man auch nicht gewusst, ob man den Tag überlebte.
An das U-Boot hatten sie sich erst gewöhnen müssen, es war nicht so, als würde man Auto fahren. Aber zusammen mit Cyrano hatte er es flottgekriegt. Jetzt lief es wie geschmiert. Er spürte, wie die Kälte durch sein dünnes Hemd drang, und begann, auf- und abzugehen. Durch die offene Eisentür konnte er in das Wasserbecken sehen, in dem sich das Boot kaum wahrnehmbar bewegte.
Er kniff die Augen zusammen und stellte sich vor, wie sie hier gelegen hatten, die Neger, Marder, Biber, Molche und Hechte – all die Kleinst-U-Boote des Zweiten Weltkrieges, die bis in die letzten Kriegstage viele Männer das Leben gekostet hatten. Allerdings stand nicht fest, dass unter der tiefen Betondecke wirklich Boote gelegen hatten, denn es war, wie er im Gutsarchiv gelesen hatte, kein U-Boot-Bunker im eigentlichen Sinne, sondern nur ein Unterstand, bereits im Ersten Weltkrieg an dieser Stelle errichtet.
Er hatte alles gelesen, was sein Vater an Unterlagen dazu gehortet hatte, und alles, was es im Gutsarchiv dazu gab. Ein halbes Jahr lang hatte er sich in alles versenkt, was ihm zum Thema U-Bootbau, -antrieb und -funktion in die Finger gekommen war. In den Osterferien, als keiner seiner Freunde Zeit gehabt hatte, ihn auf dem Gutshof zu besuchen, hatte er sich stundenlang im Bunker verkrochen. Niemand hatte ihn gestört. Er hatte Ruhe gehabt, alles auszuprobieren. Die ersten Tauchgänge hatte er aber erst zusammen mit Tom und Cyrano im Juni unternommen, als die Mädchen noch nicht da gewesen waren. Cyrano war der perfekte Kaleu. Sein Vater besaß einen Hubschrauber, den er gelegentlich selber flog. Cyrano hatte ihn oft begleitet. Er verfügte über die nötige Coolness auch in unübersichtlichen Situationen.
Das Boot, die Deep-Water-Super-Challenge, war ein ausgemustertes Forschungs-U-Boot. Ein amerikanischer Milliardär hatte es bei einem kalifornischen U-Boot-Freak in Auftrag gegeben. Dieser hatte ein paar Jahre daran herumgetüftelt, bis es seetauglich war: ein U-Boot-Leichtgewicht – dazu geeignet, von einem Schiff transportiert und zu Wasser gelassen zu werden, von Laien ebenso leicht zu navigieren wie von Meeresforschern. Ein praktisches, kleines Ding, vollgestopft mit Hightech, das aber jeder mit einigermaßen wachem Verstand bedienen konnte. Sein Vater hatte es in Monterey an der Pier liegen sehen und sofort gekauft. Schließlich besaß er diesen alten U-Boot-Unterstand, der bis dahin leer gestanden hatte.
Das U-Boot war acht Meter lang und konnte fünf Personen aufnehmen. Es war verdammt eng, die Beine schliefen einem ein, wenn man längere Zeit darin hockte. Es hatte einen Batterieantrieb, der bis zu vierundzwanzig Stunden Betriebsdauer ermöglichte. Und es schaffte locker eine Tiefe von vierhundert Metern. Aber das Beste war, dass es zwei Greifarme besaß, die über Bildschirm zu steuern waren. Auf diese Weise konnte man alles, was man vom Meeresgrund aufheben wollte, in einen Fangkorb unter dem Rumpf legen, um es zu transportieren. Das hatte sie überhaupt erst auf die Idee zu ihrem Projekt gebracht.