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Das backsteinrote Werftarbeiterhaus, in dem Henna Franzen mit ihrer Verlobten wohnte, lag an einer viel befahrenen Straße, aber die Aussicht auf das Gelände der Lindenauwerft und die Förde war spektakulär. Island stand am Fenster von Hennas Zimmer und beobachtete drei Frachter, die vor Heikendorf lagen und auf die Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal warteten. Sonnenstrahlen fielen durch die Wolken und brachten das Wasser millionenfach zum Glitzern, weshalb Island sich geblendet abwenden musste.

Drüben in der Küche öffnete Swantje Propst, eine gut aussehende, dunkelhaarige junge Frau, den Kühlschrank und kam anschließend mit einer Plastikbox in der Hand zu Island herüber.

»Das ist Hennas Notfallbox.«

Sie stellte den Behälter auf Hennas Schreibtisch, der von drei großen Flachbildschirmen dominiert wurde. Eine Spielekonsole lag auf dem Flokati vor dem Bett, das mit Star-Wars-Bettwäsche bezogen war. Henna ist eine Gamerin, dachte Island. Erzählt hat sie davon nie etwas. Nur einmal, bei einem früheren Fall, hatte sie mal durchblicken lassen, dass sie sich für Paintball interessierte. Dafür hatte man sie eher belächelt.

»Die Kühlbox hat sie sonst immer im Auto dabei. Es ist gekühltes Insulin drin und Glukagon für den Fall, dass sie unterzuckert ist. Das Glukagon spritzt sie sich einfach in den Oberschenkel. Ich weiß wirklich nicht, wo sie ihren Kopf hatte, als sie gestern Morgen los ist. Sie hat einfach vergessen, sie mitzunehmen. Sie stand noch auf dem Küchentisch.«

»Heißt das, sie hat sich seit gestern Morgen nichts gespritzt?«

»Sie hatte sicher ihren Stick dabei, aber der muss gestern Mittag schon leer gewesen sein. Sie meinte morgens, dass sie auf jeden Fall um achtzehn Uhr wieder zu Hause ist. Wir waren mit den Musikerinnen von der Hochzeitskapelle verabredet, um die Songs auszusuchen. Aber kurz vorher hat Henna angerufen und gesagt, ich soll ruhig schon mal ohne sie anfangen, sie wird es nicht schaffen zur verabredeten Zeit. Wie das so ist, wenn man mit einer Polizistin zusammen ist.«

»Was, sie hat abends noch mal angerufen?«

»Ja, gegen fünf.«

»Haben Sie denn rausgekriegt, wie die Freunde aus Felde heißen?«

Swantje Propst schüttelte hilflos den Kopf. »Ich habe alles Mögliche probiert, im Internet gesucht und alte Adressbücher und Telefonverzeichnisse durchgesehen, aber ich habe keinen Hinweis gefunden.«

Island nahm die Notfallbox und wandte sich zum Gehen.

»Rufen Sie mich bitte an, sobald Sie etwas hören!«

Auf der Fahrt über die Holtenauer Hochbrücke fuhr Island zu schnell. Das Blitzgerät am Fahrbahnrand war weder getarnt noch zu übersehen und machte, hinterhältig wie es nun einmal war, eine Aufnahme. Sie fluchte. Schon bei der Hinfahrt nach Friedrichsort war sie mitten auf der Brücke geblitzt worden. Während sie weiterfuhr, warf sie einen Blick durch das Brückengeländer hindurch auf den Kanal. Die Aufbauten eines Passagierschiffes konnte sie erkennen, ansonsten nur Wasser und das weite Land.

Den Kieler Ortsteil Holtenau jenseits der Brücke konnte sie von hier aus nicht sehen. Holtenau, ging es ihr durch den Kopf, Holtenau. Der tote Rentner am Kanal. Frühmorgens hatte man ihn tot auf einer Bank gefunden, ein kleines Fernglas in der Hand. Seine Pflegerin hatte von den Aufzeichnungen erzählt, die er regelmäßig gemacht hatte. Sie hatte sich die Kladde nur flüchtig angesehen, als Dutzen sie bei der Teambesprechung herumgereicht hatte. Das Gekrakel war nicht besonders aufschlussreich gewesen. Trotzdem musste sie immer wieder daran denken. Schiffe und Uhrzeiten hatte der Rentner notiert. Aber warum?

Als sie durch den Tunnel von Projensdorf brauste, hielt sie die Luft an und sang einen Ton. Das hatte sie als Kind immer gemacht, wenn sie mit Thea während der Kieler Woche nach Schilksee zum Segelschiffegucken gefahren war. Jetzt fiel ihr dieses Spiel wieder ein. Aber ihre Puste reichte lange nicht mehr bis zum Tunnelausgang, sie schnappte schon vorher gehörig nach Luft. Auf der anderen Seite des Tunnels betätigte sie die Freisprechanlage.

Jan Dutzen meldete sich sofort.

»Ganz kurze Frage«, sagte Island. »Erinnerst du dich noch an den Rentner aus Holtenau?«

»Hab ich Alzheimer, oder was?«

»Dann kannst du mir sicher sagen, wo die Kladde ist, die du bei der Teambesprechung dabeihattest.«

»Welche Kladde?«

»Na, dieses Spiralheft. Der Mann hatte doch irgendwelche Sachen aufgeschrieben, mit denen wir nichts anfangen konnten.«

»Ach so, das Heft mit den Schiffsnamen oder so. Das hab ich in seine Wohnung zurückgebracht und wieder auf die Fensterbank gelegt, wo ich es gefunden hatte. War ja sein Eigentum. Die Erben werden sicher alles schon ausgeräumt haben.«

»Er hatte keine Erben.«

»Wie traurig. Was willst du denn mit dem Heft?«

»Mir ist gerade etwas durch den Kopf gegangen. Wer hat einen Schlüssel zur Wohnung von Hinrichs?«

»Die Nachbarn müssten einen haben.«

An der nächsten Kreuzung wendete sie den Wagen und fuhr zurück. Zum dritten Mal an diesem Tag überquerte sie die Holtenauer Hochbrücke. Wenig später hielt sie vor dem Haus in der Kanalstraße. Die Eingangstür war fest verschlossen. Sie klingelte bei Schmirgel, und als sich dort nichts tat, bei Möller. Es dauerte ein paar Minuten, dann kam mit schlurrenden Schritten jemand die Treppe herunter. Die Tür öffnete sich, und sie schaute in das fragende Gesicht eines verschlafenen jungen Mannes.

»Guten Tag, ich bin von der Kripo«, erklärte Island und zeigte ihren Ausweis. »Ich würde gern noch einmal einen Blick in die Wohnung von Herrn Hinrichs werfen. Wissen Sie, wer den Schlüssel hat?«

»Ich«, sagte der junge Mann. »Die Schmirgels haben gesagt, ich kann mir ein paar Sachen von Hinrichs nehmen, der Rest kommt sowieso auf den Müll.«

»Wären Sie dann so freundlich und würden mich reinlassen?«

»Was suchen Sie denn?«

»Ein Notizheft.«

Der junge Mann stutzte. »Stimmt denn was nicht?«

»Doch, aber würden Sie mich trotzdem bitte noch mal in die Wohnung lassen?«

Er bat sie, vor Hinrichs Wohnung im ersten Stock zu warten, und schlurfte nach oben. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zurück und überreichte ihr den Schlüssel.

In der Wohnung des Rentners roch es nach Medizin und Rheumasalbe. Die Blumen im Erker waren vertrocknet, und die Blätter der Pflanze raschelten, als Island das Spiralheft hervorzog. Sie legte es auf den Tisch und schlug es auf.

Die zittrige Handschrift war trotz allem gut lesbar. »Sonntag, 1.Juli«, las Island, »0.45 Uhr. Keine Vorkommnisse.«

Sie blätterte zurück.

»Samstag, 30.Juni, 0.30 Uhr. Schwarzer kommt die Straße entlang, steht am Ufer, Lichter im Kanal, kreisende Bewegung, Kronos II läuft in die Schleuse ein, dahinter: Beluga.« Die nächste Notiz lautete: »Samstag, 30.Juni, 1.17 Uhr. Schwarzer steht auf Posten, keine Lichter im Kanal, Auslaufen Dorina, Seacrab, Ätna.«

Sie blätterte zurück: »Freitag, 29.Juni, 0.50 Uhr, Schwarzer auf Posten, Lichter im Wasser, Einlaufen Sydney, Seapride, Anastasia.«

Was hieß »Schwarzer«? War damit womöglich Jon Theissen gemeint? Sie kratzte an einem der Mückenstiche herum, die sie sich bei ihrem nächtlichen Spaziergang am Kanal eingefangen hatte. Das war doch wohl zu abwegig, oder? Island lehnte sich in dem Cordsessel zurück und betrachtete ihren Bauch. Wenn sie ein Glas Wasser gehabt hätte, dann hätte sie den Bauch ohne Weiteres als Tisch benutzen können, so weit ragte er inzwischen hervor. Wie dick würde sie eigentlich noch werden?

Sie blätterte die Aufzeichnungen noch einmal durch. Sie begannen am 20.Juni. Und diese Schiffe waren um die festgehaltene Uhrzeit durch die Schleusen gefahren. Das ließ sich bestimmt leicht nachprüfen. Aber »Schwarzer auf Posten und Lichter im Wasser«? Warum hatte Hinrichs das festgehalten?

Plötzlich hatte sie einen unglaublichen Verdacht.

Als Olga Island an diesem Tag zum vierten Mal über die Hochbrücke fuhr, achtete sie peinlich genau auf die zugelassene Höchstgeschwindigkeit. Als das Blitzgerät trotzdem auslöste, war ihr klar, dass sie sich an das Kieler Ordnungsamt wenden musste. Sie musste wissen, ob an Tagen, an denen der ominöse »Schwarze« in Hinrichs Notizbuch auftauchte, kurz vor oder nach der festgehaltenen Uhrzeit einer der Geländewagen, die sie auf dem Gutshof gesehen hatte, geblitzt worden war. Vielleicht konnte man auf dem Film sehen, wer am Steuer gesessen hatte.

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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