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Auf einmal und ohne Vorwarnung lief die elegante Dame auf ihren Pumps los, immer weiter in die Halle hinein. Island konnte kaum Schritt halten, so schnell stakste die Frau über Steine, Schotter und verkrüppelte Baumsetzlinge. Sie erreichte den Haufen mit der Munition, blieb davor stehen und starrte auf die rostigen Behältnisse.
»Frau Rubi-Tüx«, begann Island, »kommen Sie, wir fahren rüber zu den Schleusen nach Holtenau. Vielleicht bekommen wir noch einmal Kontakt zu Ihrem Sohn. Es ist wichtig, dass Sie mit ihm reden. Wir werden Spezialkräfte einsetzen. Noch ist nichts Schlimmes passiert.«
Die Gutsherrin schien sie mit ihren Worten nicht erreicht zu haben.
»Das alles sollen die Kinder hergebracht haben?«
»Davon müssen wir ausgehen.«
Abwesend und in sich versunken stand Stefanie Rubi-Tüx da. In diesem Moment tat sie Island fast leid.
»Ich bin eine schlechte Mutter«, flüsterte sie. »Ich habe alles falsch gemacht.«
Island wählte die Nummer von Jan Dutzen. Sie hörte, wie er sich meldete, sprach aber weiter mit Frau Tüx. Mit Jan Dutzen hatte sie einen Zeugen. Sie trat näher an die reglose Frau heran und legte ihr die eine Hand auf den Oberarm.
»Haben Sie wirklich Ihren Geliebten ermordet?«
»Ja.« Die Frau nickte. Sie sah völlig erschöpft aus.
»Sie haben Jon Theissen erstochen?«
Stefanie Rubi-Tüx hatte das Kinn auf die Brust gelegt und atmete schwer. »Was soll ich noch sagen?«, stieß sie gepresst hervor. »Es ist ja doch alles auf den Filmen. Und alle scheinen es zu wissen. Mein Sohn, seine Freunde, wahrscheinlich sogar mein Mann.«
»Frau Rubi-Tüx, wenn das so ist, dann muss ich Sie festnehmen. Ihnen wird vorgeworfen, Ihren Geliebten Jon Theissen am 4.Juli am Flemhuder See erstochen zu haben. Außerdem besteht der dringende Verdacht, dass Sie Ihren Angestellten Cord Petersen erstochen haben, weil er von Ihrer Gewalttat gegen Herrn Theissen wusste und versucht hat, Sie deswegen zu erpressen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie jetzt sagen, gegen Sie verwendet werden kann.«
Stefanie Rubi-Tüx blickte auf. Fast sah es aus, als sei ihr in diesem Moment eine schwere Last von den schmalen Schultern genommen worden. Als habe sie sich nach diesen erlösenden Worten geradezu gesehnt.
»Wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen gern trotzdem noch ein paar Fragen stellen«, sagte Island.
Die Frau nickte.
»Warum bloß haben Sie geglaubt, sie könnten Ihren Geliebten hierher nach Kreihorst einladen, ohne dass jemand etwas bemerkt?«
Stefanie Rubi-Tüx schnaubte bitter. »Sie kennen meinen Mann nicht. Theo arbeitet immer. Er kümmert sich um seine Firmen, um seine Geschäfte, seine Angestellten und Arbeiter. Und wenn er auf Kreihorst ist, dann kümmert er sich noch zusätzlich um sein Ökoobst. In der Familie aber, also bei den Menschen, die ihm eigentlich am nächsten stehen sollten, da ist mein Mann mit Blindheit geschlagen. Er beachtet uns nicht – weder mich noch seinen Sohn. Ich habe die Erfahrung machen müssen, dass ich für meinen Mann völlig unsichtbar bin. Ich existiere, aber er sieht mich nicht. Seit Jahren schon blickt er über mich hinweg, durch mich hindurch. Dass ich eine Affäre mit einem Feriengast auf seinem Hof haben könnte, wäre für ihn ganz und gar undenkbar gewesen. Das hätte er mir niemals zugetraut. Deshalb war es eigentlich eine ganz sichere und unauffällige Sache, Jon zu Besuch zu haben.«
»Aber was ist dann passiert? Warum ist es so schiefgegangen?«
»Das war Lissys Schuld«, sagte die Frau, und Island sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Lissy?«
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass er sich in diese Göre verlieben würde.« Stefanie Rubi-Tüx drehte eine Haarlocke um ihren Zeigefinger und lachte verzweifelt. »Ich konnte dabei zusehen. Von da an habe ich Höllenqualen gelitten.«
»Was ist eigentlich in jener Nacht passiert? Wollen Sie darüber sprechen?«
Frau Rubi-Tüx holte tief Luft. Dann begann sie wieder zu reden. Es war fast so, als führte sie ein langes, monotones Selbstgespräch.
»Jon sagte: ›Lass uns heute Nacht tauchen gehen. Wir fahren raus an den See und sehen uns die Wollhandkrabben an.‹ Eine riesige Population hat sich im See eingenistet. Sie gehörten ursprünglich nicht hierher, sondern sind mit dem Wasser aus den Ballasttanks der Schiffe gekommen, die durch den Kanal fahren. Es sind riesige Tiere, und in der Nacht sind sie besonders aktiv. Ich dachte, ja, warum nicht? Aber Jon interessierten die Krabben überhaupt nicht. Er hatte etwas ganz anderes vor. Er wollte durch den See zur toten Schleuse rüber. Davon war er total besessen. Wir sind also abgetaucht, und dann war er plötzlich weg. Das ist das Schlimmste, was ein Taucher machen kann, seinen Partner im Stich lassen. Ich bin schließlich allein aufgetaucht, völlig panisch. Und natürlich habe ich mir wahnsinnige Sorgen gemacht, dass er im See ertrunken sein könnte. Ich bin aus dem Wasser gestiegen und habe meine Ausrüstung in den Wagen geladen. Erst nach einer Stunde, es wurde schon hell, war er plötzlich wieder da. Gut gelaunt, grinsend, scherzend kam er mit dem Boot angerudert. ›Ich weiß jetzt, was sie treiben‹, sagte er. ›Das ist so was von abgefahren. Lissy ist auch dabei. Lissy ist sowieso die Schärfste.‹ Er wollte mir davon erzählen, aber ich wollte das überhaupt nicht hören. Ich hab nur noch Lissy gehört, immer Lissy, Lissy.«
Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr.
»Wie er ihr schon hinterhergesehen hat, wenn sie nur über den Hof ging! Wie sie heimlich zusammen ausgeritten sind. Wie sie sich hinter der Gärtnerei getroffen haben, um Joints zu rauchen. Abartig! Als Jon in dieser Nacht aus dem See gestiegen ist, so voller Adrenalin und Glück und in Gedanken so weit weg von mir, musste ich ihn zur Rede stellen. Er war ja schließlich zu mir gekommen, auf meinen Hof. Aber er hat sich nur in aller Seelenruhe aus seinem Taucheranzug gepellt. Ich hab ihn angeschrien: ›Was soll das mit Lissy? Sie ist nur ein Kind, eine Proletin, ein stinkendes Pferdemädchen!‹ Doch er sieht mich nicht einmal an. ›Sieh mich an!‹, schreie ich. ›Bist du jetzt genau wie mein Mann, der mich einfach nicht sehen will?‹ Da blickt er auf. Er starrt mich an – voller Widerwillen, Abscheu, Verachtung. Und dann sagt er etwas, er sagt …«
Sie hielt inne. Ihr Gesicht wirkte blass und eingefallen. Sie schwitzte, sie zitterte.
»Er sagt: ›Weißt du was, Stefanie von und zu Geldadel, du bist eine garstige alte Schachtel. Du sitzt hier mit deinen blöden Gäulen und plusterst dich auf. Aber mit einer Sache musst du dich nun mal abfinden. Das Altern kannst selbst du mit deinem ganzen verfluchten Geld nicht aufhalten. Und gewöhn dich endlich daran: Eine neue Generation von Frauen ist am Start, und du musst dich damit abfinden, dass du nicht mehr dazugehörst.‹ Er hat nicht aufgehört, mich zu verspotten. Und dabei hat er mich nicht mal angesehen. Da habe ich das Messer genommen. Es lag im Picknickkorb, der sich noch vom Vortag im Wagen befand. Und ich habe zugestochen.«
Jetzt schien sie sich wieder ein bisschen beruhigt zu haben.
»Ich wollte ihn nicht töten, das müssen Sie mir glauben, aber ich wollte ihn verletzen. So wie er mich verletzt hat. Ich habe ihn voll getroffen, und er hat aufgehört zu atmen. Ich habe ihn zugedeckt, als ob er schliefe, und habe seine Tauchsachen eingeladen. Dann ist diese Frau mit dem Fahrrad an den See gekommen, dabei war es viel zu früh am Morgen, erst sechs Uhr. Während sie schwamm, habe ich im Wagen gesessen und konnte nicht aufhören zu weinen. Sie hat mich nicht beachtet, der Wagen stand im Schatten der Bäume. Aber sie hat Jon gesehen. Als sie weg war, habe ich ihn abtransportiert. Mein Wagen hat ja diese Absenkautomatik.«
»Und am nächsten Morgen haben Sie die Leiche auf der Baustelle entsorgt?«
Stefanie Rubi-Tüx sah sie an, als erwache sie aus einem schlechten Traum. »Nein, ich habe ihn erst mit nach Hause genommen, aber irgendwo musste ich ihn doch lassen. Man sollte ihn doch nicht finden.«
»Das hat ja dann nicht geklappt«, meinte Island trocken. »Und warum musste Cord Petersen sterben? Hatten Sie mit ihm auch ein Liebesverhältnis?« Ihr Ton wurde amtlich.
»Wo denken Sie hin? Dass ich alle jungen Männer flachlege? Jon habe ich wirklich geliebt.« Sie lächelte traurig. »Cord hat mich erpresst. Er hatte doch nur den Auftrag, die Filme von den Fohlengeburten noch einmal durchzusehen, damit ich sie löschen konnte. Hätte ich mir bloß nie diese kleinen Überwachungskameras besorgt. Er muss mir eine davon aus dem Stall geklaut und in mein Auto eingebaut haben. Ich habe das nicht bemerkt, es sind ja ganz winzige Dinger. Den Rest kennen Sie.«
»Cord Petersen wollte dann Geld von Ihnen?«
»So war es.«
»Und da haben Sie ihn getötet?«
»Ich musste dafür sorgen, dass er schweigt.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Es war so furchtbar, wie er starb. Entsetzlich. Ich werde diese Bilder nie wieder aus meinem Kopf bekommen. Ich bin mit Schuld besudelt bis an mein Lebensende.« Sie war den Tränen nahe.
»Hat Ihr Mann von Ihrem Verhältnis mit Jon Theissen gewusst?«
»Ich sagte ja schon, dass mein Mann in seinem privaten Bereich völlig blind ist. Er beachtet weder mich noch Paul-Walter. Er hat seine wichtigen Aufgaben. Wir existieren, wenn überhaupt, nur am Rande seines Gesichtsfeldes. Trotzdem betrachtet er mich als seinen Besitz. Seit er geahnt hat, was am See geschehen ist, war ich für ihn wertlos.«
Völlig unvermittelt rannte die Frau los. Sie erreichte den Haufen Munitionsschrott, es schien, als ob sie zögerte, aber dann begann sie hinaufzuklettern. Island riss sich die Hände vors Gesicht. Starr vor Schreck und Entsetzen trat sie den Rückzug an. Sie keuchte, als sie den Ausgang der Halle erreichte. Jemand kam hinter der Backsteinwand hervorgesprungen und legte einen Arm um ihre Schulter. Es war Jan Dutzen. Sie schmiegte sich an seinen warmen, festen Körper und schloss für kurze Zeit die Augen. Dann war sie wieder klar im Kopf.
»Zurück!«, schrie sie den vermummten Gestalten zu, die mit ihren Sturmgewehren hinter einem Stapel Holzbohlen das Geschehen in der Halle beobachteten und nun zurückwichen.
»Olga«, sagte Dutzen. »Komm jetzt weg hier. Alles andere machen die SEKler.«
Nur widerstrebend ließ sie sich von ihm wegführen. Aber Dutzen hatte recht. Sie hatte getan, was sie konnte.
Gerade als sie und Jan Dutzen den Wohncontainer am Tor erreicht hatten, erschütterte eine gewaltige Explosion die Luft. Im selben Moment schlang Jan Dutzen schützend seine Arme um Olga Island und zog sie in die sichere Deckung. Es folgten mehrere heftige Detonationen. Ein riesiger apokalyptischer Rauchpilz stieg über den Büschen auf, Feuer schoss in den Himmel.
Später sagten die Leute, dass die Explosionen bis nach Kiel zu hören gewesen seien. Es war der Tag, als die Ölhalle am Flemhuder See vom Erdboden verschwand.
»Die Liebe einer Frau kann sehr zerstörerisch sein«, sagte Jan Dutzen, sah Island besorgt ins Gesicht und zog dann eine seiner Grimassen. Doch Olga war nicht einmal mehr zum Lächeln zumute.