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Als Island durch das Torhaus auf den Hof fuhr, waren im Gutshaus alle Fenster dunkel. Nur in einem der Zimmer im Erdgeschoss des Südflügels brannte Licht, doch die dichten, weißen Vorhänge waren fest zugezogen.

Island schloss die schwere Eingangstür auf. Ein kalter Kellergeruch zog durch die Halle. Im Haus war es still wie in einer Gruft. War es eigentlich erstrebenswert, so einen muffigen, alten Kasten als Ferienhaus zu besitzen? Gemütlichkeit sah irgendwie anders aus.

Auf ihrem Zimmer angekommen, duschte sie und schlüpfte im T-Shirt unter die kühlen Laken. Obwohl es kurz vor Mitternacht war, versuchte sie noch einmal, Henna Franzen zu erreichen. Doch nun war auch ihre Mailbox abgeschaltet. Island beschloss, sich keine Sorgen zu machen. Auch ihre Kollegin hatte zwischendurch das Recht auf ein bisschen Privatleben. Henna Franzen war in der letzten Zeit sehr eingespannt gewesen. Vielleicht war sie lieber mit Dutzen schwimmen gegangen, als nach Wrohe zum Essen rauszufahren. Allerdings hatte es sich so angehört, als ob sie etwas auf dem Herzen hatte. Wollte sie einen Rat zum Thema Jan Dutzen? Der Gedanke versetzte Island nur einen ganz kleinen Stich. Wenn Henna tatsächlich etwas mit Jan angefangen hatte, würde Olga sich schon irgendwie daran gewöhnen.

Sie las noch eine Doppelseite in »Der Adel kocht« und schlief bald darauf ein.

Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Ein Geräusch? Eine Bewegung? Ein Traum? Es war stockdunkel im Zimmer. Sie stand auf und sah in die Nacht hinaus. Am mondlosen Himmel standen Millionen von Sternen, einige davon spiegelten sich im Pool. Dies und das leise Glucksen des Wassers ließen einen glauben, dass die Zeit stillstand.

Doch plötzlich huschten vom Nordflügel her Lichtkegel über die Terrasse und verloren sich über die Freitreppe. Leise Fußtritte waren zu hören, bis die Lichter auf dem Rasen zu sehen waren und sich unter den Bäumen entfernten. So schnell sie konnte, zwängte sich Island in ihre Stützstrümpfe und zog sich an. Sie stopfte ihre Taschenlampe in ihre Handtasche und schlich in den Gang hinaus. Bewegungsmelder auf der Treppe und in der Halle erhellten ihren Weg. Die Laterne über dem Eingang erleuchtete die ganze Umgebung, und erst als Island um die Ecke des Hauses gebogen war, umfing sie Dunkelheit.

Um nicht in den Pool zu fallen, mied sie die Terrasse, schlängelte sich stattdessen durch die Buchsbaumhecken und lief über den federnden Rasen, der feucht war vom Tau. Ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt drehte sie sich um und blickte zurück. Alles war dunkel, nur in ihrem Zimmer im zweiten Stock brannte Licht. Litt sie an nächtlicher Schwangerschaftsverwirrung? Sie hatte doch das Licht ausgeschaltet, als sie den Raum verlassen hatte. Nachdenklich ging sie weiter in die Richtung, in der sie die Lichtkegel über den Rasen hatte verschwinden sehen.

In der Tiefe des Gartens gelangte sie an einen Querweg, der mit hellem Muschelkalk ausgelegt war. Ihre Augen hatten sich inzwischen so an das schwache Sternenlicht gewöhnt, dass sie dem Weg ohne Schwierigkeiten folgen konnte. Er führte in den Wald und endete an einem Gewässer. Island vermutete, dass sie am Achterwehrer Schifffahrtskanal gelandet war. Nach wenigen Metern erkannte sie das Bootshaus, von dem aus sie mit Lotti Dormann zu der Paddeltour gestartet war. Sie ging den schmalen Pfad hinter dem Bootshaus weiter. Der Wald wuchs an dieser Stelle so dicht und dunkel, dass sie ihre Lampe hervorholte und einschaltete.

Das Gras auf dem Pfad war trocken und raschelte leise unter ihren Sohlen. Nach etwa einem halben Kilometer stieß der Strahl der Lampe auf graues Mauerwerk. Sie schaltete das Licht aus und lauschte. Aber bis auf eine Ente, die plötzlich im Gras der Kanalböschung laut und wütend losschnatterte, war kein Laut zu hören.

Das Gebäude hatte keine Fenster, aber dafür eine rostige Eisentür, die offen stand. Sie lauschte wieder. Doch da war nur das Geräusch von Wassertropfen, die auf eine feuchte Oberfläche klatschten. Sie leuchtete in das schwarze Loch hinein. Das Licht fiel auf graue Wände, die mit weißem Schimmel überzogen waren. Das Wasserbecken, das den zentralen Teil des Gebäudes bildete, war zum Kanal hin offen und hatte die Größe eines Schwimmbades.

An der Wand verliefen glitschige Holzstege. Island leuchtete ins Wasser. Feine Algen bewegten sich in einer aufgequirlten Wolke. Kabel hingen aus einem grauen Kasten, der eindeutig nicht aus der Zeit des Ersten Weltkrieges stammte. Es war ein modernes Akkuladegerät, das an eine Stromleitung angeschlossen war. Diese verlief über den Holzsteg zum Ausgang. Irgendwo dort stand ein dieselbetriebener Generator, der wahrscheinlich für den Ölfilm auf dem Wasser verantwortlich war.

Island leuchtete noch einmal die Wände ab. Es gab zwei Türen. Die eine führte in eine leere Kammer mit gestampftem Lehmboden, die andere in einen fensterlosen Raum, in dem ein Schreibtisch stand. Feuchtigkeit sickerte aus den Wänden. Wenn die Täubchen hier gewesen sind, dachte sie, dann sind sie ausgeflogen.

Etwa zusammen mit dem ominösen U-Boot? War es nur ein verrückter Gedanke, oder konnte es sein, dass die Jugendlichen das U-Boot flottgemacht hatten und nun, mitten in der Nacht, in dem stillgelegten Seitenkanal damit herumschipperten? Da würden sie ja nicht weit kommen. Der Kanal war schmal und nicht besonders tief. Auf der einen Seite reichte er bis zur Eider, die so schmal und flach war, dass gerade einmal Paddler darauf fahren konnten, auf der anderen Seite endete er an der stillgelegten Strohbrücker Schleuse.

Der Gedanke, dass man mit einem U-Boot die Schleusen benutzen könnte, war so abwegig, dass Island ihn sofort wieder verwarf. Sie gähnte. Wo auch immer die jungen Leute jetzt steckten, sie war müde und wollte wieder ins Bett. Bevor sie den engen Raum verließ, blieb sie vor dem morschen Schreibtisch stehen. Unter einer altmodischen Bürolampe befand sich ein unscheinbarer Karton, auf dessen Seite ein säuberlich beschriftetes Schildchen klebte: 252 Militaria.

Island pfiff durch die Zähne. Sie zog den Karton heran und öffnete den Deckel. Ein Stapel Mappen kam zum Vorschein. Sie zog die Karteikarten aus ihrer Handtasche, breitete sie auf dem Tisch aus und verglich sie mit den Beschriftungen auf den Mappen. Zwei Mappen fehlten: 252.VII Unreine Gründe: Munition und 252.VIII Chemische Kampfstoffe/Giftgas.

Island klemmte sich den Karton unter den Arm und verließ den Betonbau.

Draußen dämmerte es bereits. Die ersten Vögel begannen ihren Reviergesang. Diese kurzen Sommernächte machten einen schon ein bisschen high, besonders wenn man sie mit so wenig Schlaf verbrachte. Auf dem Weg zurück musste sie sich eingestehen, dass sie es nicht schaffen würde, den Karton bis auf ihr Zimmer zu schleppen. Nur mit Müh und Not erreichte sie mit ihrer Last das Bootshaus, wo sie den sperrigen Kasten unter einem der Paddelboote versteckte.

In ihrem Zimmer, in dem bei ihrer Rückkehr kein Licht mehr brannte, sank sie aufs Bett. Trotz der morgendlichen Helligkeit, die durch die Fenster drang, schlief sie sofort und ohne einen weiteren Gedanken fassen zu können, ein.

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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