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Sie sah sich um. Dieses ganze schlossartige Gebäude war so groß, dass man sich locker darin verlaufen konnte. Wieder die Schritte. Sie kamen von oben, vom unbenutzten Gästezimmer. Jemand ging über den Dielenboden und kam die Treppe herunter.
Island stand noch immer vor dem Kamin. Sie hätte einfach stehen bleiben und warten können. Aber sie hatte keine plausible Erklärung parat, warum sie mit verrußten Fingern vor einem verloschenen Kamin in einem Zimmer stand, in dem sie wirklich nichts zu suchen hatte. In der Hoffnung, durch irgendeinen Flur entwischen zu können, öffnete sie eine Tür neben dem Kamin. Es schloss sich eine Flucht weiterer salonartiger Räume an, die durch weit offen stehende Flügeltüren verbunden waren. So leise und so schnell wie möglich lief sie weiter.
Das erste Zimmer, durch das sie kam, war ein Schlafzimmer. Möbelstücke und Gegenstände strahlten in einem fast überirdischen Weiß, nur auf den Fensterbänken standen blassblaue Lilien in mattgelben Vasen.
An das Schlafzimmer grenzte ein großes Zimmer, das man in einen Kraftraum umfunktioniert hatte. Die Geräte darin hätten einem noblen Fitnessclub alle Ehre gemacht. Große Flachbildschirme an den Wänden zeigten in tonlosen Endlosschleifen exotische Wasserfälle und kalbende Gletscher.
Dahinter befand sich ein leerer Saal mit Spiegelwand und Ballettstange, von dem ein gigantischer Badebereich abging. Allein der Whirlpool in der Mitte des Raumes schien die Größe eines Feuerlöschteiches zu haben. Um ihn herum waren Wärmebänke, Massage- und Solariumsliegen aufgestellt. Nebenan gab es eine Sauna, und wenn man im Pool lag, konnte man durch die großen Fenster der Sauna hindurch bis auf das Torhaus sehen.
Während Island noch den Wellnesstempel bestaunte, hörte sie im Schlafzimmer jemand mit hochhackigen Absätzen über das Parkett laufen. Instinktiv ging sie hinter der Bank in Deckung und stützte sich mit dem Rücken an der Wand ab. Die Schritte hatten jetzt den Kraftraum erreicht. Island duckte sich noch tiefer. Während sie die Wand nach einer Fluchtmöglichkeit absuchte, fielen ihre Augen auf eine Art Riss in der Wand, der sich als kaum sichtbare, in die Wand eingelassene Tür entpuppte. Sie zog sie auf und blickte in einen dunklen Gang.
Vorsichtig schlüpfte sie hinein und zog die Tür leise hinter sich zu. Draußen waberte auf einmal Loungemusik durch den Raum, während der Whirlpool leise zu blubbern begann. Durch den Türspalt sah sie Stefanie Rubi-Tüx, die ihren blütenweißen Bademantel abstreifte, in den Pool kletterte und ihren gebräunten Körper ins Wasser gleiten ließ. In den nächsten Minuten passierte nichts, außer dass die Musik spielte und der Pool gluckste. Bald taten Island vom langen Herumstehen die Füße weh, weshalb sie beschloss, sich weiter in den Gang hineinzuwagen – in der Hoffnung, vielleicht einen Ausgang zu finden.
Der Gang endete an einer schmalen Wendeltreppe. Weil von unten kalter, muffiger Kellergeruch heraufströmte, stieg Island nach oben. Sie landete in einem weiteren Gang, der immerhin spärlich durch ein fast blindes Fenster erhellt wurde und an einer Tür endete, über die Island in einen kleinen Raum mit einer hohen Decke kam. Die dunkle Eichenholzdecke, die mit zartrosa Blüten bemalt war, stellte eindeutig das Romantischste an dem Gelass dar, ansonsten gab es nur Metallregale, ein vergittertes Fenster und einen Bürotisch mit zwei Stühlen. Dies musste der geheimnisumwitterte Archivraum sein. Die Verbindungstür zur Bibliothek war leider verschlossen.
Auf dem Tisch lag ein dickes Buch, das von einem Karteikasten beschwert wurde. Island setzte sich auf einen der beiden Stühle und zog es zu sich heran. Repertorium Gutsarchiv Kreihorst stand in Goldbuchstaben auf dem Buchdeckel. Das Inhaltsverzeichnis auf der ersten Seite war zum Glück nicht in altdeutscher Schrift gehalten, sondern in lateinischer. Generalia Kieler Güterdistrikt, Familienpapiere und Testamente, Pachtkontrakte, Kaufverträge, Prozessakten, Polizei und gutsobrigkeitliche Verwaltung, Geld- und Kornrechnungen, Urkunden, Karten – das Gutsarchiv war seinerzeit nach einem ganzen Sammelsurium von altertümlich klingenden Begriffen geordnet worden. Schuld- und Pfandprotokolle ab 1783, las Island, Erdbücher ab 1670, Verkopplungsakten, Kirchen- und Schulsachen, Militaria.
Sie blätterte weiter. Im Buch waren unter den Rubriken die entsprechenden Akten unter einer fortlaufenden Nummer verzeichnet. Diese wiederum passten zu den Nummern auf den Papierstapeln und Kartons in den umliegenden Regalen. Manche Schriftstücke lagen in Pappordnern und waren zu dicken Päckchen zusammengebunden, andere befanden sich in Schubern oder großen, grauen Schachteln.
Island klappte den Karteikasten auf. Jemand hatte sich offenbar vor längerer Zeit die Mühe gemacht, all die Aktentitel aus dem Buch mit einer Schreibmaschine auf kleine Karteikärtchen abzutippen. Vielleicht, weil er das Archiv neu ordnen wollte. Aber diese Überarbeitung musste schon Jahre zurückliegen, denn auf allen Büchern, Kartons und Aktenstapeln lag eine dicke, graue Staubschicht. Wieso hieß es dann, dass Jon Theissen zusammen mit der Gutsherrin das Archiv neu geordnet hatte?
Und wie passte das zu der Tatsache, dass man aus dem Archiv direkt in den Wellnesstempel hinuntersteigen konnte? Lag da nicht der Gedanke nahe, dass sich die beiden mit angenehmeren Dingen beschäftigt hatten?
Langsam ging Island an den Regalen entlang. Auf einem der unteren Regalbretter gab es eine vom Staub ausgesparte Lücke zwischen zwei Aktenstapeln. Wenn sie nicht alles täuschte, musste hier ein Karton mit der Nummer 252 gestanden haben. Island blätterte noch einmal in dem Repertorium. Eine Akte mit der Nummer 252 gab es dort nicht. Dafür aber in dem Karteikasten fünfzehn Kärtchen, die alle die Nummer 252 sowie eine lateinische Ziffer trugen und in der Rubrik »Militaria« abgelegt worden waren.
Island las: 252.I Bausachen 1914–1918; 252.II U-Boot-Unterstand, mit: Berichten von U-Boot-Kommandanten; 252.III Öllager Flemhuder See; 252.IV Ölwärmehalle; 252.V Baupläne und Karten; 252.VI Seekarten; 252.VII Unreine Gründe: Munition; 252.VIII Chemische Kampfstoffe/Giftgas.
Auf einer weiteren Karteikarte, die eindeutig neueren Datums war, weil sie aus glattem, holzfreiem Karton bestand und anders als die anderen mit einem glitzernden Gelschreiber beschriftet war, stand: Deep-Dive-Super-Challenge, darin: Kaufvertrag, Betriebsanleitung, Fotos.
Island sah sich noch einmal gründlich um, aber der Karton mit den Militaria fehlte eindeutig. Sie nahm die betreffenden Karteikarten aus dem Kästchen und steckte sie in ihre Handtasche. Die Luft im Archivraum war heiß und staubig, und allmählich verspürte sie ein großes Verlangen nach frischer Luft. Da die Tür zur Bibliothek zu war, blieb ihr nichts anderes übrig, als durch den Gang zur Wendeltreppe zurückzugehen. Als sie unten am Wellnessraum angelangt war, hörte sie Stimmen. Neugierig spähte sie durch den Türspalt.
»Du hast mir diese Hubers auf den Hals gehetzt!«
Aufgebracht ging Theodor Tüx vor dem Pool auf und ab.
»Was redest du für einen Blödsinn?« Seine Frau saß immer noch im sprudelnden Wasser, die Arme auf dem Beckenrand abgelegt. Gesicht, Hals und die runden, prallen Brüste glänzten vor Schweiß.
»Der Mann ist Privatdetektiv!«
»Ach?«, fragte sie ungerührt.
»Er spioniert hier herum.«
»So?«
»Aber ich weiß, wer ihn beauftragt hat.«
»Ja?«
»Carolin Theissen, die Frau deines verehrten Feriengastes.«
»Meines Gastes? Tsss.«
»Wie darf ich ihn sonst nennen? Lover, Adonis?«
Aus dem Pool kam ein dünnes Lachen. »Was denkst du von mir?«
»Was soll ich wohl denken? Es ist unfassbar peinlich, wie du dich benimmst, und das wissen wir beide.«
Mit einer langsamen Bewegung steckte sich Stefanie Rubi-Tüx die Haare auf dem Kopf neu zusammen. »Hast du ihn getötet?«, fragte sie ruhig.
»Ich wünschte, ich hätte es getan«, antwortete er zornig.
»Du bist ja richtig romantisch, wenn du eifersüchtig bist.« Sie lächelte schief.
»Du hältst den Mund, du …!«, schrie er los. Unvermittelt holte er aus und schlug seiner Frau mit voller Wucht ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite und knallte gegen den Wasserzulauf. Es gab einen hell klingenden Ton, der die Loungemusik übertönte.
Wie erstarrt blieb Stefanie Rubi-Tüx vornübergebeugt im Pool sitzen, während ihr das Blut aus der Nase lief. Theodor Tüx massierte sich die Hand, verzog den Mund und lachte bitter.
»Lass dir das Gesicht richten«, sagte er, »dann hast du endlich wieder was vor.«