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An diesem Vormittag kamen sie alle. Die ganze Mann schaft mit dem vollen Programm. Island saß auf einer Bank am Reitplatz und beobachtete, wie sie mit ihren Wagen auf den Wirtschaftshof fuhren und hinter der Reithalle hielten. Nur der Bus der Spurensicherung, der Leichenwagen der Rechtsmedizin sowie der Wagen von Frau Professor Dr. Dr. Schröder fuhren weiter durch bis direkt vor das Kühlhaus. Die Mienen der meisten Kollegen waren auffällig ernst. Selbst Jan Dutzen, sonst gern mal der große Zyniker, sah aus, als wäre ihm die Petersilie verhagelt. Gelegentlich gab Thoralf Bruns Anweisungen. Sein scharfer Ton war bis zum Reitplatz zu hören.
Island hatte zusammen mit den anderen Pensionsgästen beim Frühstück gesessen, als Peter von Dünen ins Haus gestürzt war. Kurz darauf hatte Lena von Dünen in der Küche hysterisch zu schreien angefangen. Alle im Speisezimmer waren aufgesprungen und hinüber in die Küche gelaufen. Die Verwalterin hatte auf dem Boden gelegen und nach Luft geschnappt. Island hatte ihr zusammen mit Frau Dormann ein Kissen unter den Kopf geschoben, während Peter von Dünen an der Spüle gestanden und hilflos zugesehen hatte. Sobald Lena von Dünen sich etwas beruhigt hatte, hatte ihr Mann mit leiser Stimme noch einmal geschildert, was er im Kühlhaus gefunden hatte. Island war sofort mit dem Fahrrad dorthin aufgebrochen, die Hubers unaufgefordert im Schlepptau. Frau Dormann hatte sich wegen eines akuten Migräneanfalls ins Bett gelegt.
Sie hatten die Tür des Kühlhauses unverriegelt vorgefunden. Island hatte die Hubers ermahnt, nichts anzufassen und nicht näher an die Leiche heranzutreten. Wenig später hatte Herr Huber draußen auf dem Rasen sein Frühstück wieder von sich gegeben.
Inzwischen waren die Spurensicherer längst damit beschäftigt, das Kühlhaus weiträumig abzusperren. Die anderen Kollegen verteilten sich über das Gelände, um notwendige Zeugenbefragungen durchzuführen. Island beobachtete, wie sich ein Mann aus dem Schatten der Stallungen löste und mit flotten Schritten direkt auf Island zukam. Dabei stieß er immer wieder die Spitze eines silbernen Spazierstockes in den Boden. Ohne zu zögern, ließ er sich auf der Bank direkt neben ihr nieder.
»Guten Morgen.«
Theodor Tüx roch nach teurem Männerparfüm. Auch ansonsten hatte er sich am heutigen Tag wie ein Landadliger herausgeputzt: beigefarbene, fein gerippte Cordhose, weiß gestärktes Hemd und eine helle Weste, aus deren Tasche eine goldene Uhrenkette hing, dazu auf Hochglanz polierte braune Lederschuhe. Wäre es kälter gewesen, hätte er mit Sicherheit einen Lodenmantel in Maßanfertigung getragen.
»Guten Morgen«, antwortete Island, »auch wenn es wohl kein richtig guter Morgen ist.«
»Da haben Sie recht.«
Tüx vermied es, zum Kühlhaus hinüberzuschauen.
»Mir fehlen die Worte. Die Polizei fällt wie ein Hornissenschwarm hier ein. Eine Frechheit, wie man auf seinem eigenen Grund und Boden behandelt wird. Das wird auf jeden Fall ein Nachspiel haben.«
Er zog ein Stofftaschentuch hervor und schnäuzte sich.
»Haben Sie den Toten gesehen?«, fragte Island.
»Ja«, sagte er knapp.
»Wer hat das getan?«
»Niemand vom Hof natürlich!«
»Warum nicht?«
»Ausgeschlossen.«
Island nickte. »Könnte denn jemand unbemerkt hereingelangen? Ich meine, der Zaun, die Kameras, es ist doch alles gesichert und überwacht.«
Er blickte über den Reitplatz, nickte und schwieg nachdenklich.
»Danke übrigens, dass ich bei Ihnen unterkommen konnte«, sagte Island, um das Gespräch nicht ganz abreißen zu lassen. »Ich fürchte, ich muss noch etwas länger bleiben. Auf den Angriff der Krähen ist leider auch noch eine Invasion von Ameisen gefolgt. Die haben über das Dach eine Straße gebildet und sind durch das Badezimmerfenster rein.«
»Kein Problem«, sagte der Mann und legte väterlich eine Hand auf ihren Oberschenkel. »Mein Haus ist groß genug. Und ich habe bei Ihnen etwas gutzumachen. Der Vorfall an der Schleuse tut mir sehr leid. Ich hoffe, es geht Ihnen und dem Kind gut und Sie können sich hier trotzdem wohlfühlen.«
Sie nickte, rückte aber unwillkürlich etwas zur Seite.
»Das Gut und die Krähen gehören seit Jahrhunderten zusammen«, erklärte er. Die Krähe schmückte das Wappen der ersten Besitzer. Krei heißt auf Plattdeutsch Krähe, deshalb also Kreihorst.«
»Ach so«, sagte Island und tat so, als hätte sie es nicht gewusst.
Tüx verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. Seine Haut war gebräunt, er war glatt rasiert, seine Zähne blitzten strahlend weiß. Ein reicher Mann, dachte Island, ihm gehört alles, was ich hier sehe, und noch viel mehr. Ihm gehört so viel, dass ich es mir gar nicht vorstellen kann oder möchte. Und doch ist er nur ein Mensch, der, wie jeder andere auch, eines Tages sterben wird. Niemand kann behalten, was er zu Lebzeiten besitzt.
Sie wunderte sich selbst über diese Gedanken, die sie plötzlich überfielen, denn im Moment machte Theodor Tüx einen ganz vitalen Eindruck.
»Ich habe etwas über das Gut gelesen«, sagte sie und zog den Dehio aus der Jackentasche. »Aber da steht gar nichts über Ihre große Maschinensammlung drin.«
»Oh, Sie haben sich selbst schon schlaugemacht«, stellte Tüx fest. »Sie wollen wohl eine Spezialistin für Kreihorst werden?«
»Eigentlich nicht. Ich habe das Buch nur als Urlaubslektüre ausgeliehen.«
»Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen gern einmal etwas von meinen Schätzen.«
»Was sammeln Sie denn noch außer Landmaschinen?«
»Fast alles, was sich mit PS bewegt.« Er lächelte breit. »Mit ein paar ollen Kutschen hat es angefangen. Sie standen in einer der Scheunen, als ich das Anwesen gekauft habe. Inzwischen sind es über dreihundert Fahrzeuge. Traktoren, Dampfmaschinen, Baumaschinen, Feuerwehrfahrzeuge, Amphibienfahrzeuge, sogar ein paar alte Flugzeuge sind dabei, Doppeldecker aus der Zeit zwischen den Kriegen. Ich kann mich immer schlecht von den Dingen trennen, die ich einmal angeschafft habe.« Er lachte.
»Werden die Fahrzeuge noch mal eingesetzt?«
»Es sind alle fahrtüchtig. Leider komme ich selbst kaum dazu, sie zu bewegen. Und mein Sohn interessiert sich nicht dafür.« Er hob bedauernd die Schultern. »Es ist eine Liebhaberei.«
»Platz haben Sie ja«, sagte Island und machte eine vage alles umfassende Handbewegung hinüber zu den Scheunen.
»Nur drüben auf dem alten Hof.« Er beugte sich zu ihr herüber und zwinkerte ihr zu. »Hier bei den Pferden regiert meine Frau.«
Island musste sich zurückhalten. Wollte der Herr etwa Mitleid für seinen beschränkten Platz? Er konnte einem schon leidtun, mit seinen kleinen bescheidenen Gebäuden. Gleich würden ihr die Tränen kommen.
»Kannten Sie Cord Petersen eigentlich gut?«, wechselte sie das Thema.
»Nein. Er hat mir mal was an den Autos repariert. Dafür hatte er ein Händchen. Aber sonst hat er für den Verwalter gearbeitet.« Er hob bedauernd die Schultern und schob die Unterlippe vor. »Um die Arbeitskräfte kümmert sich Herr von Dünen, damit habe ich rein gar nichts zu tun.«
»Und Jon Theissen?«
Er wandte ihr den Oberkörper zu und zog die Augenbrauen zusammen. »Sie stellen ja Fragen, als wären Sie von der Polizei.«
»Theissen soll Ihr Archiv geordnet haben, obwohl er ja eigentlich nur ein Feriengast war. Das fand ich ungewöhnlich.«
Theodor Tüx lachte laut. »Das war er auch.«
»Was ist daran so komisch?«
Die Haut über seinem Jochbein spannte, als er seine Lippen zusammenpresste. Statt einer Antwort stand er auf und neigte grüßend den Kopf. Sehr aufrecht, den Rücken gestreckt, seinen Stock schwingend, ging er zu seinem Wagen, dem 57er Maybach. Ein echter Herr. Nur merkwürdig, dachte Island, dass er keinen Hund hat, der ihm folgt.