26

Zum Kartoffelsalat gab es gebratene Sojawürstchen und Tomaten aus dem Gewächshaus der Verwalterin. Island wären richtige Fleischwürste lieber gewesen, aber sie tröstete sich damit, dass sie auf ihrem Zimmer jederzeit noch ein Glas aufmachen konnte.

Während des Essens schwärmten die Hubers von der Radtour, die sie an diesem Tag gemacht hatten, einmal bis zur Levensauer Hochbrücke und zurück. Besonders toll sei der Besuch des Cafés auf Gut Warleberg auf der anderen Kanalseite gewesen. Sie hätten mitten in einem riesigen Kirschgarten gesessen, die vorbeifahrenden Schiffe beobachtet und dabei die leckersten Obsttorten gefuttert.

Trotzdem hauten die beiden Hubers auch jetzt schon wieder ordentlich rein. Auch beim Nachtisch, der aus Roter Grütze und Vanillesoße bestand.

Plötzlich klingelte Islands Handy. Auf dem Display sah sie, dass es Henna Franzen war. Schnell stand sie auf und ging nach draußen, um ungestört zu telefonieren.

»Olga«, sagte Henna Franzen ernst. »Bei dem Toten handelt es sich um Jon Theissen. Er ist in Hamburg gemeldet, zusammen mit seiner Frau, hat aber in Berlin seinen Zweitwohnsitz. Weil er dort gearbeitet hat.«

»Als was?«

»Er war beim Auswärtigen Amt.«

Island pfiff durch die Zähne. »Ein Diplomat?«

»Nein, nur Beamter im gehobenen Dienst. Wie du und ich sozusagen. Sein Spezialgebiet waren die Kultur- und Medienbeziehungen zwischen Asien und Europa.«

»Aha. Er war also verheiratet, und seine Frau hat in Hamburg gewohnt?«

»Ja. Seine Frau heißt Carolin Theissen. Sie wurde bereits informiert. Die Ehe bestand seit drei Jahren.«

»Mailst du mir bitte alles zu, was ihr über den Mann habt?«

»Klar, mach ich. Woher wusstest du eigentlich seinen Namen?«

»Ich mache Ferien auf dem Gut, auf dem er zuletzt im Urlaub war.«

»Verdammt«, sagte Franzen. »Und wo ist das?«

»Dreimal darfst du raten.«

»Doch nicht etwa dieses Kreihorst, für das du dich so interessiert hast?«

»Exakt. Und wenn ihr hier aufkreuzt, dann bitte ich darum, unerkannt bleiben zu dürfen.«

»Miss Undercover, oder was?«

»So ungefähr.«

»Wie stellst du dir das vor? Wir sind doch keine Theatertruppe. Wenn das rauskommt, sind wir in Teufels Küche.«

»Trotzdem.«

»Wie soll ich Bruns das verklickern?«

»Ich habe einen offiziell von ihm unterschriebenen Urlaubsantrag. Ansonsten: Denk dir was aus!«

»Olga, du bist echt gestörter, als ich gedacht hab.« »Halt die Klappe, sonst kannste was erleben«, antwortete Olga Island.

»Hey, wir sind hier nicht in Berlin«, meinte Franzen lachend, wurde aber gleich wieder ernst. »Was weißt du noch über den Mann?«

»Der hat in Archiven herumgestöbert und nebenbei die Frauen wild gemacht.«

»Ein Frauenschwarm?«

»Er soll sehr gut ausgesehen haben. Was ist denn die Todesursache?«

»Eine Stichwunde von circa zehn Zentimetern im Unterbauch. Der Stichkanal liegt so ungünstig, dass die Bauchschlagader verletzt wurde. Daran ist er verblutet.«

»Und die Tatwaffe?«

»Wir haben noch keine.«

»War der Tote unbekleidet?«

»Splitterfasernackt.«

»Okay, lasst euch von den Streifenbeamten aus Achterwehr die Stelle am Flemhuder See zeigen, an der Frau Marxen am Mittwoch den Mann hat liegen sehen. Und sucht alles dort noch einmal gründlich ab. Auch den Seegrund.«

»Wir brauchen Taucher?«

»Ja.«

Frau Dormann kam die Treppe herunter und schwenkte einen Zettel Recyclingpapier. Fritzi sprang um ihre Beine und kläffte.

»Dann erst mal tschüs, Tante Thea«, sagte Island laut ins Telefon.

»Was?«, fragte Franzen verwirrt, aber Island hatte schon aufgelegt.

»Ich hab das Rezept für den Kartoffelsalat gekriegt«, sagte Lotti Dormann und strahlte über das ganze Gesicht. »Wie wäre es denn mit einer kleinen Bootspartie in der lauen Abendluft?«

»Wenn ich mich nicht anstrengen muss, habe ich nichts dagegen«, antwortete Island.

»Ich rudere, und du passt auf Fritzi auf, damit er nicht ins Wasser fällt.«

»Versuchen kann ich es.«

Sie folgten dem Grasweg, der vom Verwalterhaus aus durch den Landschaftsgarten in den Wald führte, bis sie an ein Gewässer kamen.

»Der Achterwehrer Schifffahrtskanal«, erklärte Lotti Dormann.

»Schön ist es hier«, sagte Island.

»In diesem Seitenkanal wird die Eider aufgestaut«, fuhr Frau Dormann fort. »Wenn wir ihm nach Norden folgen, kommen wir zur Schleuse bei Strohbrück. Sie führt in den sechs Meter tiefer gelegenen Nord-Ostsee-Kanal. Bis vor ein paar Jahren wurde die Schleuse noch regelmäßig von Wassersportlern und kleinen Ausflugsschiffen genutzt, aber inzwischen ist sie stillgelegt.«

»Dann konnte man früher von hier aus direkt in die ganze Welt fahren?«

»Genau das hat man getan.«

»Faszinierende Vorstellung.«

Der Achterwehrer Schifffahrtskanal war ein dunkler Wasserlauf, dessen Ufer mit Erlen und Weidenbüschen bewachsen war. Sie gelangten an ein rot gestrichenes Bootshaus, vor dem ein kurzer Steg ins Wasser ragte. Mücken tanzten in den Sonnenstrahlen. Lotti Dormann zog die Bootshaustür auf, und warme, nach Holz und Ölfarbe riechende Luft drang heraus. Im Halbdunkel lagen Boote auf einem Gestänge ordentlich übereinandergestapelt.

»Das Ruderboot ist nicht da«, stellte Frau Dormann mit Bedauern fest. »Wollen wir stattdessen eines der Kanus nehmen?«

Island erinnerte sich an einen Paddelausflug mit zwei Freundinnen während der Schulzeit. Sie waren aus der Schwentinemündung hinaus auf die Förde gepaddelt. Auf Höhe des Mönkeberger Strandes hatte sie die Fähre »Kronprins Harald« auf dem Weg von Kiel nach Oslo überholt. Sie waren in die Heckwelle des Schiffes geraten, und bevor jemand von ihnen begriffen hatte, was geschah, war das Kanu umgeschlagen und hatte sie unter sich begraben. Es war Sommer gewesen, und sie waren, das Boot an einer Leine hinter sich herziehend, an Land geschwommen. Der Schreck hatte ihnen noch lange in den Gliedern gesteckt. Aber auf einem Kanal würde es eine so starke Welle sicher nicht geben. Island nickte.

»Schone dich«, sagte Frau Dormann. »Ich mach das Boot klar. War ja meine Idee.«

Lotti entfaltete erstaunliche Kräfte, als sie sich ein Kanu schnappte und es ohne größere Anzeichen von Anstrengung auf einen der Bootswagen hievte. Am Steg ließ sie das Boot über eine Metallrolle zu Wasser. Fritzi bellte.

»Unerzogene Töle«, schimpfte sein Frauchen. »Zu Hause kommst du als Erstes in die Hundeschule.«

Lotti gefiel Olga Island immer besser. Vielleicht war sie doch nicht die Blankeneser Schreckschraube, für die sie sie gehalten hatte. Mit etwas Mühe kletterte sie vom Steg ins Boot und nahm das weiße Fellbündel entgegen, das sofort panisch versuchte, sich an ihren Knien festzukrallen. Zur Verhinderung von Kratzern waren die Stützstrümpfe jetzt ausnahmsweise mal praktisch.

Island ließ eine Hand durch das Wasser gleiten, während Lotti Dormann das Boot mit gekonnten Paddelschlägen voranbrachte. Die Dame hatte sich für diesen Ausflug wieder einmal umgezogen. Zu blauen Segeltuchschuhen trug sie eine grüne Adidas-Trainingshose und ein ärmelloses Top, das ihre braun gebrannten, erstaunlich muskulösen Oberarme zur Geltung brachte.

Sie glitten durch die grüne Dämmerung, die nach Sommerwasser roch. Islands Handy klingelte.

»Dass man nie seine Ruhe hat«, beschwerte sich Frau Dormann.

Island ging trotzdem ran.

»Hi, hier ist Lorenz.«

Sie schluckte.

»Schön, von dir zu hören.«

»Geht’s gut, Olga?«

»Ich hab frei und bin auf dem Wasser unterwegs. Es ist warm und sonnig, und die Abende sind so herrlich wie sonst nur im Süden …«

Entweder war die Verbindung nicht gut, oder Lorenz wollte gerade nicht zuhören.

»Ich habe auch ein paar Tage frei.«

»Toll! Wie lange denn? Wann kommst du her?«

»Mein nächster Kurs beginnt in fünf Tagen. Aber nach Deutschland zu fliegen ist grad viel zu teuer. Das lohnt sich nicht so richtig.«

Sie konnte es fast nicht glauben. Lorenz hatte frei, aber er zog nicht einmal in Erwägung, sie sehen zu wollen. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und irgendwo tief unten steckten die Tränen. Sie versuchte sie runterzuschlucken.

»Stattdessen fahre ich mal nach Venedig rüber«, sagte Lorenz unbeschwert.

»Wollten wir das nicht zusammen machen?«

»Sehr gern. Aber wer, bitte schön, hat nie Zeit?«

Statt einer Antwort zog sie die Nase hoch.

»Wenn das Kind kommt, ist es sowieso erst mal vorbei mit Ausflügen«, sagte Lorenz. Als könnte sie das trösten.

Sie hätte jetzt das eine oder andere entgegnen können, aber da Frau Dormann sichtlich interessiert zuhörte, verzichtete sie darauf. Mit der freundlichsten Stimme, zu der sie noch fähig war, wünschte sie Lorenz schöne Tage und recht viel Spaß. Ihre Hand zitterte, als sie die Telefonverbindung beendete.

»Probleme?«, fragte Frau Dormann.

»Nein, nein«, sagte Island und versuchte ein verkrampftes Lächeln. »Mein Freund ist arbeitsmäßig viel unterwegs, da sieht man sich nicht so häufig.«

»Das wird mit Kind nicht einfacher.«

»Tja.«

»Männer«, sagte Frau Dormann abfällig. »Damit bin ich zum Glück durch.«

»Echt?«

»Ja, eigentlich schon.«

»Eigentlich?«

Frau Dormann zog energisch das Paddel durchs Wasser. »Na ja, bei Jon hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht.«

»Wieso denn?«

Lotti Dormann ließ das Paddel sinken und sah für einen Moment aus wie eine Indianerin, die sich entschlossen einem Wildwasserstrudel entgegentreiben ließ.

»Er hat sich interessiert. Man konnte sich richtig gut mit ihm unterhalten.«

»So, worüber denn?«

»Über das Schreiben zum Beispiel.«

»Noch ein Schriftsteller also?«, fragte Island und wunderte sich über die eigenartige Häufung außergewöhnlicher Leute in dem Öko-Urlaubsquartier.

»Nein, aber er wollte eine Familienchronik verfassen. Und ich habe versucht, ihm ein bisschen dabei zu helfen.«

»Wie denn?«

»Ich habe seinen Text Korrektur gelesen.«

»Und worüber hat er geschrieben?«

»Es ging um seine Vorfahren. Besonders um einen, der früher auf diesem Gutshof gelebt hat. Er hieß Gordon Pickering und war Jons Ururgroßvater. Er kam etwa zu der Zeit nach Europa, als das Gutshaus erbaut wurde, vielleicht im Jahr 1789. Diese Jahreszahl steht zumindest auf der Einfahrt des Torhauses.«

Island erinnerte sich und nickte.

»Um diese Zeit muss Gordon etwa sechs Jahre alt gewesen sein. Er war das Kind einer schwarzen Sklavin.«

»Was?«, fragte Island verwundert. »Von Leibeigenschaft in unserem Land habe ich schon mal gehört. Aber von Sklaverei?«

Frau Dormann paddelte weiter. Das Boot nahm Fahrt auf und trieb lautlos dahin. Weiße Schönwetterwolken spiegelten sich auf dem Wasser.

»Damals gab es den sogenannten Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika. Europäer wie der berühmt-berüchtigte dänische Staatsbeamte und holsteinische Gutsbesitzer Heinrich Carl Schimmelmann erwarben Plantagen in der Karibik. Man lieferte Waffen und Kattun nach Afrika, von wo aus man Tausende von Sklaven auf die Karibischen Inseln brachte. Dort ließ man sie auf den Zuckerrohrplantagen schuften. Der Import von Zucker und auch der daraus hergestellte Rum brachten den Plantagenbesitzern riesige Gewinne ein. Mit dem Geld konnten die Schimmelmänner, wenn ich sie mal so nennen darf, wiederum ihre Gutshöfe ausbauen. So ungefähr lief das.«

»Und was passierte mit Gordon Pickering?«

»Die Mutter von Gordon, Lila Pickering, stammte von der afrikanischen Goldküste, dem heutigen Ghana. Sie wurde in die Karibik verschleppt und musste als Sklavin auf der Insel St. Croix arbeiten. Gordon war noch ein Kleinkind, als sie starb. Der damalige Gutsbesitzer von Kreihorst hatte wie Schimmelmann einen großen Teil seines Vermögens im Karibikhandel verdient. Er brachte Gordon Pickering hierher, als exotischen Spielkameraden für seine Kinder und zur Belustigung seiner Familie. Mit fünfzehn Jahren hat Gordon Pickering das Gut verlassen. Er schlug sich als eine Art fahrender Schauspieler durchs Leben, hatte drei Kinder und starb mit zweiundvierzig Jahren in einem Armenhaus auf Fünen.«

»Harte Zeiten, damals«, sagte Island. »Hat Jon Theissen denn etwas Neues über seine Familie herausfinden können?«

»Ich glaube, es ging ihm nicht nur um seine eigenen Wurzeln, sondern auch darum, den heutigen Menschen diesen wenig rühmlichen Teil der Geschichte bewusst zu machen. Er hat mir von Leuten in Dänemark erzählt, die ein Kolonialmuseum oder zumindest die Errichtung eines Denkmals in Kopenhagen planen.« Frau Dormanns Gesichtsausdruck wurde sehr ernst. »Die Begeisterung für das Schreiben war jedenfalls etwas, was uns beide verband.«

»Hat Jon Dänisch gesprochen?«

»Sein Vater lebt in Dänemark. Jon ist aber bei seiner Mutter in Hamburg aufgewachsen.«

»War er zum ersten Mal auf Kreihorst?«

»Ich glaube, ja. Als ich ankam, war er schon ein paar Tage hier. Jedenfalls hatte er Frau von Dünen ganz schön um den Finger gewickelt.« Sie kicherte. »Sie hat ihm Kakao gekocht und morgens auf sein Zimmer gebracht.«

»Nicht schlecht.«

»Und einmal habe ich mitbekommen, dass sie sich wegen ihm mit ihrem Mann gestritten hat. Sehr laut, in der Küche. Ich lag nichts ahnend im Garten im Liegestuhl, da ging es los. ›Lass den Scheiß!‹, hat Peter von Dünen geschrien. ›Wir sind doch nicht von Hamburg weg, damit du dich gleich wieder an den ersten besten Mann ranschmeißt. Du hast mir versprochen, dass das aufhört.‹ Und so weiter. Mensch, habe ich gedacht. So einen Dialog hätte ich mir nicht besser ausdenken können für mein neues Buch.«

»Wovon handelt es denn?«

»Von der Liebe«, sagte Frau Dormann und klimperte mit den Lidern. Doch schon bekamen ihre Augen einen gehässigen Glanz. »Mit Lissy war er übrigens auch schon ganz dicke, als ich ankam.«

»Lissy?«

»Lissy Heinke, das eine Stallmädchen. Irgendwie sehen sie ja alle gleich aus, diese jungen Dinger. Ich kann sie jedenfalls kaum unterscheiden. Besonders die aus dem Stall. Die arbeiten ja wirklich für sehr wenig Geld. Ostern oder Weihnachten werden sie mit einer großen Tüte Kekse oder einem Ausflug mit einer der Nobelkarossen aus Tüx’ Sammlung belohnt. Ansonsten sind die fürstlich im Mühlenhaus untergebracht, immer zu zweit in einer Kammer, und werden täglich mit teurem Ökoessen versorgt. Kost und Logis frei, nennt man das. Aber keins der Mädchen hat je darüber gemurrt. Anders die gute Lissy. Sie benahm sich geradezu prollig, sehr rebellisch jedenfalls und laut. Eine richtige kleine Aufrührerin. Knasti eben, das kennt man ja. Jeder, der auf den Hof kam, hat sie sofort kennengelernt. Sie war hundertfünfzig Prozent für die Pferde da, aber sie hatte so eine provokante Art, dass sie zwischen den anderen unangenehm auffiel.«

»Wo ist Lissy jetzt?«

Lotti Dormann zuckte mit den Achseln. »Schon ein paar Tage bevor Jon verschwand, war sie weg. Abgehauen. Keiner weiß, warum oder wohin. Wahrscheinlich taucht sie irgendwann wieder auf. Wie ein weggelaufener Hund, der dann wieder an der Tür kratzt.«

»Ist mit Lissy denn etwas vorgefallen?«

»Irgendwas war da mit dem Lieblingspferd von Frau Rubi-Tüx. Lissy hat es von der Weide geholt und ist mit Jon zusammen ausgeritten. Das hat Madame Stefanie tierisch aufgeregt. Sie hat den ganzen Reitplatz zusammengebrüllt, als die beiden zurückkamen. Angeblich hat das Pferd gelahmt. Mit ihren Pferden stellt die sich immer so an.«

»Und was waren das für junge Leute, die da vorhin auf der Terrasse des Herrenhauses herumgelungert haben?«

»Das sind Freunde von Paul-Walter. Er ist ja ein Einzelkind. Da darf er immer Schulfreunde einladen in den Ferien, damit er Gesellschaft hat. Eines der Mädchen ist seine Cousine Grit aus Kanada. Die anderen kenne ich nicht. Ich glaube, sie besuchen alle dasselbe Internat in der Schweiz.«

»Haben die denn Kontakt zu den Stallmädchen?«

»Nein. Wo denkst du hin?«

Das Boot glitt an Steinbrocken vorbei, die in der Uferböschung steckten. Sie sahen aus wie die Betontrümmer, die drüben bei den Spülfeldern lagen. Ein Stück weiter flussabwärts ragte ein massives graues Gebäude ins Wasser hinein. Es sah aus wie ein flacher Bunker, der sich zwischen die Pappeln am Ufer duckte, und war ganz mit Schlingknöterich bewachsen.

»Was ist das? Ein Rest aus Wehrmachtszeiten?«

»So etwas wird es wohl sein.«

Plötzlich schillerte die Wasseroberfläche in allen Farben. Ein Ölfilm waberte um die Seitenwände des Bunkers. Ein Teil des Öls war bereits bis ins Gras der Kanalböschung geschwappt. Ein schwacher Geruch nach Diesel lag in der Luft.

»Wird der Bunker noch benutzt?«, fragte Island.

»Bestimmt nicht«, sagte Frau Dormann. »Wozu denn auch?«

Auf einem überhängenden Weidenstamm sonnten sich Stockenten. Fritzi fing an zu kläffen, aber die Enten blieben ungerührt. Nachdem der Hund sich wieder beruhigt hatte, glitt das Kanu still dahin, bis hinter einer Biegung ein weiteres Bauwerk auftauchte.

»Voilà«, sagte Frau Dormann. »Die alte Schleuse.«

Baumstämme markierten die Einfahrt in die Schleusenkammer. Zwischen zwei Dalben aus Metall hing an einem quer über das Wasser gespannten Kabel ein rot-weißes Warnschild: Durchfahrt verboten. Ein Schild auf der gemauerten Uferböschung informierte darüber, dass die Schleuse Strohbrück aus Standsicherungsgründen vorübergehend geschlossen sei. Tatsächlich verbarrikadierte ein verrostetes Schleusentor die Weiterfahrt. Vor dem Tor trieben Blätter und Äste, Entenflott überzog das Wasser mit einer grünen Schicht. Seitlich der Schleuse, oberhalb der Böschung, stand ein Haus.

»Und wer wohnt da?«, fragte Island.

»Früher der Schleusenwärter mit seiner Familie. Heute steht das Haus leer. Eigentlich schade, dass nun alles verfällt.«

Island hatte den Druck auf ihrer Blase schon länger ignoriert, jetzt bot sich eine gute Gelegenheit, an Land zu gehen.

»Könnten wir mal aussteigen?«, fragte sie.

»Warum nicht?«

Der Himmel über dem Wald begann sich orange zu färben. Es war kurz vor zehn, als Lotti Dormann das Boot behutsam an die Holzschwelle bugsierte, die als Anlegestelle diente. Island kletterte von Bord und vertäute das Seil an einem Metallrohr. Sie war froh, sich endlich mal wieder strecken zu können. Die Grasflächen um die Schleusenkammer herum waren frisch gemäht, aber ein Bauzaun verhinderte, dass man der Schleuse zu nahe kam.

Fritzi rannte über die Wiese und verschwand hinter der verwilderten Hecke des Schleusenwärterhauses. Frau Dormann trabte hinter ihm her. Island folgte ihr durch die offen stehende Pforte. Während ihre Begleiterin zum Haus spazierte und neugierig in die dunklen Fenster schaute, hockte sich Island hinter einen blühenden Holunderbusch. Die Grillen zirpten. Der Garten war in rötliches Licht getaucht. Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft.

»Weißt du, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht?« Frau Dormann spähte durch die Fenster in das Haus hinein. Island sah ihr von hinten über die Schulter. Der Raum drinnen war fast leer geräumt. Ein einsamer Gasherd stand von der Wand abgerückt.

»Im Haus?«

»Nein, an der Schleuse.«

»Inwiefern?«

Lotti Dormann senkte die Stimme. »Am Montag vor einer Woche habe ich mit Fritzi einen langen Abendspaziergang gemacht. Wir haben das Gutsgelände durch das hintere Tor verlassen und sind am Kanal entlanggewandert. Bis hierher. Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber es muss schon weit nach elf gewesen sein, als ich auf der Brücke dort drüben stand.«

Sie deutete zum Schleusenbecken. Eine baufällig wirkende Brücke mit einem Metallgeländer führte trotz des Bauzaunes hinüber. Während Island sich umsah, meinte sie Hufschläge zu hören, die sich schnell näherten. Ein weißes Pferd mit einer grazilen Reiterin trabte vorsichtig über die Brücke. Stefanie Rubi-Tüx machte einen Abendausritt. Sobald sie die Brücke überquert hatte, trieb sie das Pferd an, das gehorsam in Galopp fiel. Sie ritt in Richtung der Gutsländereien davon.

Frau Dormann, die ihr nachblickte, fuhr fort: »Ich habe noch ein bisschen verschnaufen wollen und mich auf die Brüstung gelehnt. Und was soll ich sagen? Da waren Lichter im Wasser.«

»Lichter?«

»Ich war mir erst nicht sicher und habe mich umgesehen, weil ich dachte, dass das Licht vielleicht von einem Schiff auf dem Nord-Ostee-Kanal stammt. Positionslichter oder so was. Aber nein, es war kein Schiff in der Nähe.«

»Also waren es Geisterlichter?«

»Was kann es sonst gewesen sein?«

»Wird die Schleuse doch noch benutzt?«

»Sie ist seit Jahren außer Betrieb. Du hast doch selbst das Schild gesehen. Und alles ist abgesperrt.«

»Vielleicht hat sich ja der Mond auf dem Wasser gespiegelt?«

»Ja, vielleicht«, gab Frau Dormann zu. »Aber auf dem Rückweg hatte ich eine merkwürdige Begegnung am Achterwehrer Schifffahrtskanal. Jon ist mir entgegengekommen.«

»Er war auf dem Weg zur Schleuse?«

»Erst habe ich nur eine Taschenlampe gesehen, die sich auf mich zubewegte. Ich habe Fritzi die Schnauze zugehalten und mich in die Büsche geduckt. Es wurde schon dunkel, und mein Herz hat wie wild geklopft, das kannst du mir glauben. Ich bin sicher, dass es Jon war, denn ich habe ihn an seinem Aftershave erkannt. Aber da war er schon an mir vorbei. Ich habe mich dann ganz still verhalten, denn ich wollte ihn nicht erschrecken.«

Island schob sich nachdenklich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Was mag der da gewollt haben?«

»Keine Ahnung.«

»Lass uns einmal auf die Brücke gehen, bevor wir zurückfahren.«

Die Nase am Boden, verfolgte Fritzi Kaninchenspuren, während sie am Bauzaun entlang über die Schleusenwiese gingen. Sie spazierten über die mit Holzplanken ausgelegte Brücke und blickten hinunter. Das Schleusentor auf dieser Seite der Kammer stand zum Nord-Ostsee-Kanal hin offen. Es war rostig und an einigen Stellen mit Moos und Flechten überzogen. Sechs oder sieben Meter unter ihnen schwappte das Wasser in die Strohbrücker Schleusenkammer hinein. In einiger Entfernung, doch mit beträchtlicher Lautstärke rauschte ein Wehr. Dort floss das aufgestaute Wasser des Seitenarms in den großen Kanal ab.

Plötzlich hörte Olga Island ein lautes Schnaufen direkt neben ihrem Ohr. Erschrocken sprang sie zur Seite. Dabei prallte sie mit dem Rücken gegen einen Körper, der sich hektisch bewegte und immer höher in den Himmel zu wachsen schien. Sie taumelte auf das Brückengeländer zu. In allerletzter Sekunde gelang es ihr, die Arme nach vorn zu reißen und einen Aufprall zu verhindern. Das Pferd hinter ihr bäumte sich auf, der Reiter brüllte und riss die Zügel an sich. Dann rutschte er aus dem Sattel. Es knallte, als er mit dem Reithelm auf die Holzplanken der Brücke schlug.

Island schnappte nach Luft. Als sie wieder halbwegs bei Sinnen war, beugte sie sich zum Reiter hinunter. »Ist Ihnen etwas passiert?«

Der Mann rappelte sich auf. Mit gekrümmtem Rücken klopfte er sich Staub von der Kleidung. »Was machen Sie eigentlich hier?«, schimpfte er. »Sind Sie verrückt?«

»Das könnten wir ebenso gut Sie fragen!«, entgegnete Island wütend.

Frau Dormann hatte die Geistesgegenwart besessen, das Pferd am Zügel zu packen, es zu Boden zu ziehen und festzuhalten. Nun redete sie beruhigend auf das Tier ein.

»Herr Dr. Tüx«, sagte sie, »entschuldigen Sie vielmals, wir haben Sie nicht kommen hören!«

Er betastete seine Schultern, während Island sich den Bauch hielt. Sie war immer noch außer sich, dass ihr das Pferd so nahe gekommen war.

»Wieso reiten Sie harmlose Passantinnen über den Haufen?«, schrie sie ihn an.

»Sie hätten mich doch hören müssen!«, konterte er scharf.

»Das ist ja wohl eine Frechheit«, sagte Island drohend. »Haben Sie keine Augen im Kopf?«

Der Mann in der feinen Reitkleidung stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie streng.

»Oh«, sagte er plötzlich und sah sie besorgt an. »Sie sind ja in anderen Umständen. Geht es Ihnen gut?«

»Ich glaube, ja.«

»Soll ich einen Arzt rufen?«

»Nein. Es geht schon.«

Er nickte, wandte sich wieder dem Pferd zu und nahm die Zügel.

»Ihre Frau ist gerade vorbeigeritten«, mischte sich Frau Dormann ein. »Sind Sie nicht zusammen unterwegs?«

»Nein.« Er saß wieder auf. »Schönen Abend noch.«

Sobald er die Brücke verlassen hatte, gab er dem Pferd die Sporen.

»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Lotti Dormann.

»Ich glaube schon«, antwortete Island. »Und das war also Herr Tüx persönlich?«

»Eigentlich ist er ein sehr netter Mensch.«

»Außer dass er meint, er könnte blind in der Gegend rumrasen mit seinem Gaul, und wer im Weg steht, hat
selber schuld«, entgegnete Island. »Kennst du ihn näher?«

»Ich habe schon öfter mal ein paar Worte mit ihm gewechselt.«

»Hat er Probleme mit seiner Frau?«

»Weil sie zur selben Zeit getrennt ausreiten? Das Übliche, denke ich.«

»Das Übliche?«

»Einfach zu lange verheiratet.«

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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