20

Olga Island schlenderte noch etwas zwischen den Stallungen umher. Sie streichelte ein graues Pferd, das ihr gutmütig die Nase über ein Gatter entgegenstreckte, und genoss die Wärme seines Fells und den Pferdegeruch. Dann bog sie auf den Pfad ein, der am Kühlhaus entlang und an einem Wäldchen vorbeiführte. Als sie es fast umrundet hatte, sah sie das Fachwerkhaus mit dem Mühlrad. Die erwähnte Wassermühle, das Wohnhaus der Angestellten. Das Haus hatte zwei Stockwerke und ausgebaute Dachgauben. Auf der offenen Holzveranda standen weiße Plastikstühle. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, aber Island hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, und zwar nicht nur von den schwarzen Krähen, die in den Bäumen hockten.

An der Seite des Hauses, an der sich das Mühlrad befand, floss ein verkrauteter Bach. Auf der anderen Seite begrenzte eine Mauer den Weg. Die Mauer war gerade so hoch, dass man nicht hinüberblicken konnte. Während Island daran entlangging, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Henna Franzen.

»Hi«, sagte Franzen. »Wie geht’s?«

Im Hintergrund war lautes Kindergekreische zu hören. Was ist denn bei der los?, dachte Island.

»Bist du noch im Dienst?«

»Nein«, sagte Franzen. »Wir sind in Katzheide und essen gerade Pommes am Kiosk.«

Eine männliche Stimme brummte etwas Unverständliches im Hintergrund.

»Und Dutzen trinkt Bier.«

»Schönen Gruß«, sagte Island möglichst beiläufig. »Könntest du trotzdem etwas für mich herausfinden? Ich hätte gern Informationen über einen Mann namens Jon Theissen. Er soll in Hamburg wohnen.«

»Was ist mit ihm? Ich denke, du machst Urlaub.«

»Ich wüsste einfach gern, wo Herr Theissen sich gerade aufhält.«

»Okay«, seufzte Franzen. »Reicht es morgen im Laufe des Tages?«

»Sicher.«

»Hast du es ansonsten nett in deinem Urlaub?«

»Ja, alles gut. Ich mache gerade einen Verdauungsspaziergang.«

»Dann weiterhin gute Erholung!«

Im Hintergrund erklang Jan Dutzens heisere Lache.

Die Mauer war lang. Kurz bevor sie endete, blieb Island stehen und schöpfte Atem. Die Backsteine hatten die Hitze des Tages gespeichert. Es roch berauschend nach Lindenblüten, süßlich und schwer, fast wurde ihr übel davon. Ich sollte das Kind vielleicht Linde nennen, dachte sie, das ist ein schöner Name, auch wenn mir vom Lindengeruch so schwummrig wird.

Ihre Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, hatte sich in den vergangenen Wochen immer mehr verfeinert. Die Welt bestand aus Duftmolekülen, geordnet nach angenehmen und unangenehmen. Das ist ein Wunder des brütenden Körpers, dachte sie, dass ich riechen kann wie ein Urmensch. Und während sie, die Nase gekräuselt, dem Weg weiter folgte, nahm sie neben den Düften von Blüten und Blattwerk auch noch etwas anderes wahr: Marihuana. Am Ende der Mauer sah sie feinen, bläulichen Rauch. Weiter hinten, dort, wo die Mauer einen Knick machte und in wildes, buschiges Gelände hineinführte, hockte ein Mann in blauer Arbeitskleidung. Er hatte den Rücken an die Backsteine gelehnt, die Augen geschlossen und rauchte. Island lief weiter. Als sie sich kurz darauf noch einmal umwandte, war er nicht mehr da.

Um halb neun war sie wieder am Verwalterhaus. Es war so herrlich an der frischen Luft, dass sie noch nicht in ihr Zimmer gehen mochte. Da fiel ihr die Wäsche im Garten wieder ein. Sie umrundete den Seitenflügel und kam in den Teil des Gartens, den sie von ihrem Badezimmerfenster aus gesehen hatte. Noch immer hingen die Wäschestücke zum Trocknen auf der Leine. Sie trat vorsichtig näher und inspizierte möglichst unauffällig die mintgrünen Handtücher aus dicker, weicher Baumwolle. Mit dem Rücken zum Haus, zog sie möglichst unauffällig ihr Handy hervor und machte ein Foto. Erst als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass sich die Gardine im Erdgeschoss leicht bewegte, so als habe jemand am Fenster gestanden und ihr zugesehen.

Zurück in ihrem Zimmer, setzte sie sich in einen der beiden Sessel und blickte sich um. Gab es nicht doch noch Spuren des Vorbewohners? Nachdem sie jedoch in alle Ecken und Winkel und unter das Bett gespäht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass in dem Raum äußerst gründlich geputzt worden war.

Gegen halb zehn streifte sie ihre Stützstrümpfe ab, zwängte sich und den Bauch in die Sitzbadewanne und ließ das Wasser aus der Brause über ihren Kopf laufen. Dann zog sie das Nachthemd über und legte sich ins Bett. Draußen war es taghell. Sie betrachtete die Deckenbalken und dachte nach. Morgen würde sie einen Ausflug machen.

Als sie erwachte, war es stockdunkel. Das Kind drückte auf ihre Blase. Unwillig drehte sie sich zur anderen Seite, aber der Druck ließ nicht nach. Es war so still, dass sie das Blut in ihren Ohren sausen hörte. Sie streifte das dünne Laken zurück, mit dem sie sich zugedeckt hatte, stand auf und tappte ins Bad. Als sie die Spülung betätigte, rauschte das nachlaufende Wasser so laut, als würde ein kleines Düsenflugzeug über das Dach fliegen. Jeder im Haus musste es hören.

Sie ging wieder ins Zimmer hinüber und stellte sich ans Fenster. Das Rauschen hörte endlich auf. Wie still es nun war und wie dunkel. Als Stadtbewohnerin war sie es gewöhnt, fast immer und überall Geräuschen ausgesetzt zu sein. Nun bereitete ihr diese absolute, nächtliche Ruhe Unbehagen. Sie schnipste mit den Fingern, um sicherzugehen, dass ihre Ohren noch funktionierten. Draußen sah sie schemenhaft die Dächer der Scheunen. Darüber leuchteten nebeneinander zwei kleine, helle Vierecke in die Nacht. Sie kniff die Augen zusammen. Im Herrenhaus war noch Licht.

Neugierig ging sie zum Schrank und holte ihr kleines Reisefernglas aus dem Rucksack. Sie richtete das Glas auf die hellen Flecken und konnte ungehindert in die Fenster hineinspähen. In einem großen Raum waren Menschen um einen Tisch versammelt. Es sah aus, als würden sie etwas auf dem Tisch Liegendes sehr angestrengt betrachten. Eine Person ging gestikulierend vor den Fenstern auf und ab und schien etwas zu erklären. Ab und zu nickten die Leute am Tisch. Plötzlich löste sich die Versammlung auf. Alle verließen das Zimmer. Das Licht ging aus.

Island stand noch eine Weile am Fenster, das Nachbild der erleuchteten Fensteröffnungen auf der Netzhaut. Sie rieb sich die Augen und tastete nach ihrem Handy auf dem Nachttisch, um nach der Uhrzeit zu sehen. Zwei Uhr fünfzehn. Was hatten diese Leute im Herrenhaus tief in der Nacht Wichtiges zu besprechen? Mitten in einer Sonntagnacht? Sie gähnte und stützte sich nachdenklich am Fenster ab.

Plötzlich flammte drüben hinter dem Dach der nächstgelegenen Scheune wieder Licht auf. Wahrscheinlich war einer der Bewegungsmelder aktiviert worden. Hatte man im Herrenhaus späte Gäste gehabt, die jetzt mitten in der Nacht aufbrachen? Island öffnete das Fenster, konnte aber keine Motorengeräusche von abfahrenden Autos hören. Waren es Angehörige oder Gäste der Familie Tüx gewesen?

Island legte sich wieder hin und starrte in die Dunkelheit. Doch bis auf das Rufen eines Käuzchens, das ihr durch Mark und Bein ging, war nichts mehr zu hören.

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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