12
Island erreichte den Kieler Hauptbahnhof um zehn nach acht. Glücklicherweise fand sie am äußersten Rand des Bahnhofsvorplatzes einen Kurzzeitparkplatz. Kurzatmig hastete sie die Kaisertreppe hinauf.
Tante Thea stand an einem Stehtisch vor einer Espressobar, vor sich ein leeres Latte-macchiato-Glas, neben sich einen Rollkoffer. Sie trug einen kurzen geblümten Rock, himmelblaue Pumps sowie eine verknitterte, helle Leinenjacke. Dem Rauchverbot zum Trotz hielt sie einen Zigarillo zwischen ihren schlanken Fingern und gestikulierte mit beiden Händen. Gegenüber stand ein großer, weißhaariger Mann in Jeans und Sommerhemd, ebenfalls mit einem Rollkoffer, und schien ihr andächtig zu lauschen. Thea bemerkte ihre Nichte erst, als diese an den Tisch trat.
»Kindchen, wie siehst du denn aus? Ich hätte ja nie gedacht, dass du einmal so dick werden würdest! Meine Nichte aus Kiel«, stelle Thea vor. »Und das ist Herr Dr. Bodenfels. Wir haben uns im Zug sehr nett unterhalten. Er will sich morgen früh nach Oslo einschiffen.«
»Minikreuzfahrt«, erklärte Dr. Bodenfels und lächelte das zerknautschte, aber nicht unangenehme Lächeln eines Lebemanns.
»Wenn er wieder in Kiel ist, wird er sich bei mir melden«, flötete Thea und strahlte ihn an, »dann unternehmen wir was zusammen, Rudolf, ja?«
»Mit größtem Vergnügen«, sagte der Mann und deutete eine Verbeugung an.
»Dann auf Wiedersehen!« Tante Thea drückte ihren Zigarillo auf der Untertasse aus. Damenhaft winkte sie ihrer Reisebekanntschaft zu, hakte sich bei Olga ein und stakste neben ihr auf klackernden Sohlen in Richtung Ausgang, während sie den Rollkoffer hinter sich herzog.
»Schön, mal wieder in Kiel zu sein«, sagte Thea, als sie per Fahrstuhl hinunterfuhren. Das Abendlicht lag über der Förde, alle großen Fähren hatten den Hafen für diesen Tag bereits verlassen. Über dem Werftkran am gegenüberliegenden Ufer schwebte ein Heißluftballon. »Hier hat sich ja nicht viel verändert.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das Meer ist immer noch blau.«
Sie lachten beide.
»Hast du eigentlich Hunger?«, fragte Olga.
»Kein bisschen«, entgegnete die Tante. »Ich möchte am liebsten gleich an den Strand. Du siehst übrigens auch so aus, als ob ein Bad jetzt das Richtige für dich wäre.«
Gemeinsam wuchteten sie den Rollkoffer ins Auto.
»Und wo darf ich dich hinkutschieren? Etwa nach Laboe?«, fragte Olga.
Aber da wollte Thea nicht hin. »Vielleicht am Wochenende, mit Rudolf«, sagte sie mit einem gurrenden Ton in der Stimme. »Dann nehmen wir aber den Fördedampfer, das macht Eindruck auf die Binnenländer.«
Nach längerem Hin und Her machte Olga einen Vorschlag: »Wollen wir zum Sunset nach Surendorf?«
Die Tante war einverstanden.
Hinter einer an Land gezogenen Jolle zogen sie sich um. Tante Thea war als Erste im Wasser.
»Herrrlich!«, schrie sie verzückt und schwamm sofort los.
Das Meer war kühl und flaschengrün.
Olga brauchte ein bisschen länger, bis sie das erste Mal untertauchte. Dann watete sie gemächlich hinaus bis zur ersten Sandbank. Im tieferen Wasser schwamm sie ein paar Mal hin und her und fühlte sich rund und zufrieden wie eine Seekuh. Sie genoss das seit Kindheitstagen vertraute Gefühl von Salzwasser in der Nase und die unscharfen Lichtflecken auf dem sandigen Grund. Ein paar Minuten lang dachte sie einfach an gar nichts und gab sich ganz den Bewegungen der Wellen hin. Dann fiel ihr plötzlich das Schreiben von Hans-Hagen Hansen wieder ein. Sie verließ das Wasser, trocknete sich ab und wählte Hansens Nummer.
Diesmal hatte sie mehr Glück.
»Olga hier, ich sollte dich anrufen.«
»Hallo, ich wollte dir das vorläufige Ergebnis der Blutuntersuchung mitteilen.«
»Sprich.« Island sah sich nach ihrer Tante um, die so weit hinausgeschwommen war, dass ihr Kopf nur noch ein kleiner Punkt draußen in den Wellen war.
»Es handelt sich um menschliches Blut der Blutgruppe A, Rhesusfaktor positiv. Dieser Blutgruppe werden weltweit vierunddreißig Prozent aller Menschen zugerechnet.«
»Also nichts Besonderes?«
»Bis jetzt weiß ich noch nicht mehr. Aber ich melde mich, sobald ich etwas habe.«
Island bedankte sich und zog sich an. Nach einiger Zeit kehrte auch Thea von ihrem waghalsigen Schwimmausflug zurück.
»Wunderbar«, sagte sie immer wieder, während sie sich abtrocknete. »Ganz wunderbar.«
Nach dem Bad ergatterten sie einen Platz in einem Strandkorb vor einer Bar mit dem klingenden Namen »Anima e Corpo«. Olga bestellte sich einen großen Tapasteller, während Thea einen Liter Rotwein und Oliven orderte. Das erste Glas Wein leerte sie in einem Zug. Sie erzählte von Berlin, von ihrem Wohnprojekt im Wedding, von ihrer Theatergruppe, die bis Oktober Sommerpause machte, und von Manfred, ihrem letzten Verehrer, den sie, seinem frisch geborenen Enkel sei Dank, gerade zum Teufel geschickt hatte.
»Er hat wirklich eine unmögliche Tochter«, zeterte sie. »Und außerdem ist er jedem Konflikt aus dem Weg gegangen. Na bitte, soll er doch, aber ohne mich.« Sie steckte sich wieder einen Zigarillo an und paffte wütende Wölkchen.
Einen Moment lang schwiegen beide und sahen über das Dünengras hinweg einem Segelboot zu, das in der Abendflaute in der Nähe des Ufers vor sich hin dümpelte.
»Was ist denn eigentlich aus der Sache mit deinem Kollegen geworden, von dem du erzählt hattest, als wir in Berlin zusammen gezecht haben?«, fragte Thea, als sie sich nach ein paar weiteren Schlucken Rotwein wieder etwas beruhigt hatte.
Olgas Herz tat einen kleinen verräterischen Satz. Hatte sie Thea gegenüber bei ihrem Weihnachtsbesuch in Berlin wirklich diesen vermaledeiten Absturz erwähnt? Sie konnte sich gar nicht erinnern, irgendetwas von dieser Nacht erzählt zu haben. So lässig wie möglich zuckte sie die Schultern.
»Was soll mit dem sein?«
»Ich mein ja nur, so ein Polizeibeamter ist doch wenigstens was Reelles. Nicht wie so ein Künstler. Wie heißt er noch mal, dein Künstler?«
»Lorenz.«
»Wo steckt er überhaupt? Wenn ich dich treffe, ist er nie da.«
»Er arbeitet gerade in Italien. Aber nach dem Sommer zieht er nach Kiel.«
»Wer’s glaubt, wird selig«, meinte Thea verächtlich und schnaubte laut. »Nu guck mich nicht so an. Wenn du meinst, dass er der Richtige ist, kann man nichts machen.«
»Er ist der Vater«, sagte Olga und strich sich über den Bauch.
»Besonders engagiert erscheint er mir bis jetzt aber nicht zu sein.«
»Doch, schon … Das kommt noch.«
Thea seufzte. »Du weißt ja selbst am besten, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen.«
»Danke für die Blumen«, sagte Olga und kaute missmutig auf einer Erbsenschote in Knoblauchöl.
Während die Sonne sich senkte und Wasser, Strandkörbe und Dünen in ein flammendes Goldrot tauchte, fanden sie glücklicherweise noch erfreulichere Gesprächsthemen als Männer. Thea berichtete von weiteren Kreativitäten, die sie im Frühjahr in den Bann gezogen hatten, und ging, als die Weinflasche leer war, über zu Anekdoten aus der Vergangenheit.
Gegen elf Uhr fuhren sie nach Kiel zurück. Olga ließ Thea samt Rollkoffer und Wohnungsschlüssel vor ihrem Haus aussteigen und drehte auf der Suche nach einem Parkplatz ihre Runden. Es war fast wie in Berlin. Alles war komplett zugeparkt. Als sie endlich zu Hause ankam, hatte Thea sich schon häuslich eingerichtet. Sie hatte eine weitere Flasche Rotwein entkorkt und diese schon wieder halb geleert. Gegen Mitternacht lagen sie endlich beide in den Federn. Tante Thea im frisch bezogenen Bett im Schlafzimmer, Olga auf dem buckligen Sofa im Wohnzimmer. Sie war so müde und erschöpft, dass sie trotzdem sofort einschlief.