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Nach der Besprechung machte sich Bruns mit Taulow auf den Weg nach Brunsbüttel, um den Geschäftsführer der Pantolon AG zu befragen, der ohne seine Anwälte nicht zur kleinsten Auskunft bereit war. Island ging in Franzens Büro und holte sich einen Packen DIN-A4- Kopien. Damit setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann zu lesen.

Die Beobachtungen der Zeugen am Fährterminal und an der Wartespur Nummer 5 waren sehr heterogen. Manche Zeugen hatten ausführliche Beobachtungen gemacht, andere hatten angeblich gar nichts gesehen oder gehört, weder von einer Schlägerei noch von auslaufender Flüssigkeit aus einem der Lkws. Einer der Zeugen, ein estnischer Kleinbusfahrer mit guten Deutschkenntnissen, meinte, eine Frau gesehen zu haben, die aus der Richtung des betreffenden Gefahrguttransporters gekommen sei. Sie habe sich auffällig schnell in Richtung Terminal entfernt. Genauer beschreiben konnte er die Frau aber nicht. Auf Nachfrage hatte er zugegeben, dass es sich auch um eine ganz normale Urlauberin gehandelt haben könnte, die eine Toilette gesucht und sich zwischen den Fahrzeugen verlaufen hatte.

Etwa zwanzig Lkw-Fahrer hatten ihre Beobachtungen über den Hergang der Prügelei zu Protokoll gegeben. Bei etlichen Aufzeichnungen hatte Island den Eindruck, dass die Männer absichtlich vage geantwortet hatten, wahrscheinlich, um möglichst schnell und unbehelligt aus der Sache herauszukommen. Man sagte gegenüber der deutschen Polizei einfach nichts Schlechtes über andere Fahrer. Außerdem wollte keiner von ihnen in Kiel aufgehalten werden. Zeit war Geld. Da war es schon schlimm genug, dass sich die Abfahrt der Fähre um Stunden verzögert hatte.

Trotz aller Widersprüche und Ungereimtheiten, die immer auftreten, wenn viele Menschen als Zeugen befragt werden, entstand vor Islands innerem Auge nach und nach ein etwas genaueres Bild vom möglichen Ablauf der Ereignisse. Sie machte sich Notizen und stellte später mit Franzen und Nissen im Besprechungsraum eine Tabelle zusammen. In einer großflächigen Skizze am Flipchart zeichneten sie alle Positionen ein. Anschließend glichen sie diese noch einmal miteinander ab und kennzeichneten widersprüchliche Aussagen mit Textmarkern. Mit dieser Aufgabe waren sie den ganzen sommerheißen Nachmittag beschäftigt.

Gegen siebzehn Uhr stand Island auf und ging in ihr Dienstzimmer, um ihre Handtasche zu holen. Eigentlich war sie nie der Handtaschentyp gewesen, aber nun, wo ihr Körper ständig nach etwas zu essen oder zu trinken verlangte und sie sich viel zerstreuter fühlte als sonst, hatte
sie die Tasche fast immer dabei. Sie enthielt neben Portemonnaie und Dienstausweis saure Fruchtgummis, ihren Schwangerschaftspass mit dem allerersten Ultraschallbild des Kindes, Taschentücher, ein verknicktes, vollgeschriebenes Notizbuch, einen MP-3-Player und weiteren Krimskrams, der gerade noch hineinpasste.

»Muss los zum Babycheck«, sagte sie. »Wenn es nicht zu lange dauert, komm ich noch mal wieder.«

Karen Nissen schüttelte verständnislos den Kopf.

»Weißt du eigentlich, dass Nachtarbeit für Schwangere verboten ist? Vielleicht gehst du ausnahmsweise einfach mal nach Hause? Wir kriegen das hier schon gewuppt.«

Island verzog das Gesicht. Nissen hatte recht, sie konnte den ausklingenden Sommertag auch anders verbringen als mit dem Zuordnen und Abgleichen von Zeugenaussagen. Was ihr aber wirklich missfiel, war der mitleidige Hätschelblick, den ihre Kollegin ihr zuwarf. Karen Nissen hatte selbst zwei Kinder auf die Welt gebracht, da konnte sie sich diese Mitleidsnummer doch eigentlich sparen. Freute sie sich etwa insgeheim, dass Island bald »eine Weile aussetzen« würde? Schließlich kursierte seit einiger Zeit das Gerücht, dass über kurz oder lang eine Planstelle bei der Mordkommission eingespart werden sollte. Hoffte Nissen gar, dass die Kollegin nach der Niederkunft gar nicht mehr in den Dienst zurückkehren würde? Oder gehörten solche Gedanken in den Bereich der Schwangerschaftsparanoia?

Die Praxis von Frau Dr. Markmann befand sich in der Innenstadt in der Nähe des Rathauses. Island ließ ihr Fahrrad an der Bezirkskriminalinspektion zurück und ging zu Fuß zum Kleinen Kiel hinunter. Im Wartezimmer war es trotz des geöffneten Fensters stickig. Draußen rauschte der Verkehr vorbei. Zwischen Wiegen, Blutdruckmessen und Urinprobe blätterte Island in einer Illustrierten und las einen Artikel über Schönheitsoperationen. Der Autor behauptete, dass jede Frau die Chance ergreifen sollte, durch eine gezielte Operation ihr Aussehen zu optimieren und das sichtbare Altern hinauszuzögern. Island schüttelte den Kopf über so viel Schwachsinn. Dann wurde sie endlich ins Sprechzimmer gerufen.

»Sie sehen mitgenommen aus«, sagte Frau Dr. Markmann zur Begrüßung.

»Mir geht’s gut«, erwiderte Island. »Nur manchmal bin ich etwas kurzatmig.«

Die Ärztin sah auf ihren Bildschirm. »Sie sind Kriminalbeamtin?«

»Seit zwanzig Jahren.«

»Und Sie arbeiten Vollzeit?«

»Jetzt im Sommer ist nicht so viel los …«

»Sie sollten daran denken, sich etwas mehr zu schonen. Gönnen Sie sich Ruhe und frische Luft. Und versuchen Sie doch bitte nicht ganz so viel zu essen. Sie werden die Pfunde später schlecht wieder los, das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versichern.«

Wie soll das gehen bei dem Hunger?, dachte Island, sparte sich aber den Kommentar. Sie konnte einfach nicht an später denken. Im Moment gab es nur das Jetzt.

Nach der Ultraschalluntersuchung, während der Island glaubte, eine winzige Faust zu erkennen, die sich ihr entgegenreckte, sagte Frau Dr. Markmann: »Alles in bester Ordnung. Das Kind ist recht rege. Da ist nur eine Sache, um die Sie jetzt nicht mehr herumkommen.«

»Und die wäre?« Sie hatte überhaupt keine Lust auf weitere Untersuchungen ihres Körpers oder ihres Kindes. Am liebsten hätte sie jetzt geduscht, einen extragroßen Döner gegessen und ferngesehen.

»Ihre Füße schwellen an. Sie könnten leicht eine Thrombose bekommen. Deshalb müssen Sie von nun an bis zur Geburt Kompressionsstrümpfe tragen.«

»Was?«, fragte Island entsetzt. »Bei diesem Wetter?«

Täuschte sie sich, oder lächelte die Ärztin maliziös, während sie das Rezept ausschrieb? Kann sie sich sparen, dachte Island, so was ziehe ich nicht an.

Doch die Ärztin konnte offenbar Gedanken lesen.

»Denken Sie an Ihr Kind. Wenn Sie nicht kürzertreten, muss ich Sie krankschreiben.«

»Schon gut«, sagte Island. »Ich tue ja alles, was Sie wollen.«

Als sie das Sanitätsgeschäft verließ, in dem man ihre Beine vermessen und zur Anprobe in lachsfarbene Gummistrümpfe gezwängt hatte, fühlte Island sich wie durchs Wasser gezogen. In einer Tüte trug sie die hautfarbenen Strümpfe mit Spitzenbordüre, für die sie sich schließlich entschieden hatte. Von nun an würde sie nur noch in bodenlanger Kleidung zur Arbeit gehen können, so viel war klar. Stützstrümpfe im Hochsommer, dachte sie, was für eine Zumutung! Sie stellte sich bei der nächstgelegenen Eisbude an und verlangte drei Kugeln Zitroneneis. Das Eis verbesserte ihre Stimmung, und als sie die Bezirkskriminalinspektion erreicht hatte, hatte sie die Sache mit den Strümpfen auch schon fast wieder vergessen.

Im Flur der Mordkommission war es still wie in einer Kirche. Sie ging in ihr Büro und schaltete den PC ein. Auf der Schreibunterlage lag ein Zettel: »Ruf mich an. Gruß Hans-Hagen.«

Sie wählte Hansens Handynummer, aber es meldete sich niemand. Auf dem Flur waren Schritte zu hören, und Henna Franzen steckte den Kopf zur Tür herein.

»Du bist zurück? Alles in Ordnung mit dem Baby?«

»Bestens«, antwortete Island.

»Dutzen hat nach dir gefragt.«

»Warum?«

»Er interessiert sich für dich, schon gemerkt?«

Island schnaubte gereizt.

Franzen setzte sich ungefragt auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch. »Doch, wirklich«, sagte sie. »Er trinkt seit Monaten immer aus demselben Becher.«

»Na und?«

»Ich meine ja nur. Du warst doch letztes Jahr mit ihm auf dem Weihnachtsmarkt, oder?«

»Nach der Weihnachtsfeier, aber das war nur …«

»Stell dir vor, er trinkt noch immer aus der Glühweintasse.«

Island errötete und hoffte, dass ihre Kollegin das nicht sah. Was dachte sich dieser Jan Dutzen eigentlich? Es war zum Haareraufen.

»Sind die anderen schon weg?«, fragte sie.

»Ja, und ich mach auch Schluss für heute. Morgen früh geht’s weiter. Wollte noch mal raus nach Schilksee an den Strand und eine Runde schwimmen. Willst du mit?«

»Ich würde liebend gern, aber ich kriege Besuch. Meine Tante aus Berlin ist im Anmarsch.«

»Wie nett!«

»Geht so.«

»Mann, Olga, du bist ja nicht sehr gesprächig. Was war das für eine Sache, die du heute Morgen zu erledigen hattest?«

Island berichtete in knappen Worten von ihrem Ausflug an den Flemhuder See, von der Leiche, die eine Hausfrau aus Groß Nordsee gesehen haben wollte und die seitdem verschwunden war, und von dem Gespräch mit den Dorfpolizisten.

»Hast du schon mal etwas von einem Gut Kreihorst gehört?«

Franzen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein. Aber da draußen gibt es ja auch Güter wie Sand am Meer. Hat der Hof etwas mit dem angeblichen Toten zu tun?«

»Keine Leiche, keine Ermittlungen«, sagte Island achselzuckend. »Aber ist es nicht merkwürdig, wenn sich Leute auf so einem Gelände völlig von der Welt abschotten? Mit Natodraht und allem Drum und Dran?«

»Na ja, je reicher die Leute sind, desto größer ist ihr Sicherheitsbedürfnis. Hans-Hagen hat dir übrigens was auf den Schreibtisch gelegt.«

Damit verabschiedete sich Franzen und verschwand mit einer Strandtasche unterm Arm in den Sommerabend.

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island
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