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Eine halbe Stunde später fuhr Island über die Autobahn in Richtung Kiel. Sie versuchte, einen Blick auf die Spülfelder am See zu erhaschen, aber ihr Tempo war viel zu hoch, als dass sie mehr hätte sehen können als vorbeizischende grüne Büsche und Baumwipfel.
Der Fahrtwind, der durch das offene Fenster hereinwehte, kühlte ihren verschwitzten Nacken. Im Kofferraum, in einer alten Kühltasche, die Klaus Stark ihr mitgegeben hatte, lag ein mintgrünes Badelaken. Es wies tatsächlich einen riesigen, rotbraunen Fleck auf, der einen metallisch-süßlichen Geruch verströmte. Schon sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Blutfleck handelte. Und wenn es Blut war, dann war es eine nicht unerhebliche Menge, für einen Menschen durchaus lebensbedrohlich.
Islands Handy klingelte. Im Display erschien der Hinweis »unbekannter Anrufer«. Sie drückte die Freisprechtaste und schmetterte ihren Namen.
»Meine Güte, was schreist du denn so?«, fragte eine ihr wohlbekannte Stimme.
»Ich bin im Dienst!«
»Alles andere hätte mich schwer gewundert.« Tante Thea lachte glucksend.
»Ich wollte dich auch schon lange anrufen«, meinte Island schuldbewusst. »Wie geht es dir?«
»Bestens.« Thea Island klang vergnügt.
»Und was macht Berlin?«
»Es schwitzt!«
»Hier ist es auch heiß.«
»Heiß ist ja wohl gar kein Ausdruck! Ich zerfließe und habe die Schnauze voll.«
»Wolltest du nicht ein paar Tage in den Spreewald zum Paddeln?«
»Hat sich zerschlagen. Der freundliche Herr, der mich auf sein Boot eingeladen hatte, muss zu seiner Tochter nach Bonn. Sie ist mit Zwillingen niedergekommen und braucht seine großväterliche Hilfe.« Thea schnaubte verächtlich.
»Da wolltest du nicht mit?«
»Bin ich denn bekloppt? Was habe ich mit seinen Enkeln zu schaffen? Bei dem Wetter!«
Island grinste. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Reaktion von Thea, als sie ihr erzählt hatte, dass sie ein Kind erwartete. »Von diesem Künstler?«, hatte sie entsetzt gefragt. »Muss das sein? Du denkst aber bitte nicht im Entferntesten daran, dass ich auf deine Blagen aufpasse, ja?«
Hilfe bei der Kindesaufzucht brauchte Olga von dieser Seite also nicht zu erwarten, so viel war klar. Auch nicht, wenn sie, wie sie insgeheim hoffte, nach erfolgreichem Abschluss des Gerichtsprozesses gegen ihren Erzfeind Piotr, den baltischen Mafiaboss, endlich nach Berlin zurückkehren konnte.
»Und was hast du vor, statt Spreewald?«, fragte sie, während sie einen bunt bemalten Kleinbus mit Surfbrettern auf dem Dach überholte.
»Ich dachte, ich fahr nach Kiel. Im Sommer gibt es doch nichts Schöneres als die Ostsee.«
»Soll ich dir ein Hotel besorgen?«
»Bemüh dich nicht. Die sind alle ausgebucht, bei dem Wetter. Ich komme zu dir! Ich hab ja deine Wohnung auch noch gar nicht gesehen. Du kannst doch sicher Unterstützung gebrauchen. Oder ist etwa dein Künstler da?«
Island überhörte die Frage. »Ich wohne mitten in der Stadt. Und ich habe weder Terrasse noch Garten. Nur einen kleinen Balkon.«
Thea ließ sie gar nicht ausreden.
»Habe ich mir alles schon im Internet angesehen. Deine Wohnung liegt wunderbar. Ich kann von da aus jeden Morgen runterlaufen zur Seebadeanstalt. Da soll es jetzt eine tolle Bar geben. Da kann man sicher auch frühstücken.«
»Wenn man Zeit hat«, erwiderte Island tonlos.
»Dass du keine Zeit hast, ist mir klar! Aber ich geh auch auf den Wochenmarkt. Und wenn du von der Arbeit kommst, hab ich uns was Gutes gekocht. Du brauchst jetzt gesundes Essen, vor allem Vitamine. Isst du denn überhaupt genug?«
»Doch, schon …«
Olga Island brauchte keinen Besuch. Abends lag sie meist auf ihrem alten Sofa, aß Apfelstücke und Kartoffelchips und sah fern oder schlief. Sie hatte kein Verlangen nach einer hyperaktiven Rentnerin, die sie ständig auf Trab hielt, denn sie war von der normalen Arbeit schon erschöpft genug. Andererseits ließ der Gedanke an Theas gutbürgerliche Kochkünste ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Wann wolltest du denn kommen?«, fragte sie vorsichtig. »Zurzeit habe ich sehr viel zu tun, aber in ein paar Wochen …«
»Weißt du, ich fahr heute mit dem Zug um sechzehn Uhr dreißig, dann bin ich so gegen zwanzig Uhr da. Du holst mich doch vom Bahnhof ab?«
»Wenn nichts dazwischenkommt.« Olga spürte eine leichte Verzweiflung in sich aufkeimen.
Doch Thea hatte kein Gespür für die Stimmung ihrer Nichte. »Bestens«, stellte sie zufrieden fest, »dann bis heute Abend.«