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Die Penner-Card

In der Filiale der Deutschen Bank an der Schönhauser Allee haben sich drei Penner einquartiert, zwei Männer und eine Frau. Tagsüber sind sie so gut wie nie da, sie kommen nur zum Übernachten. Genau genommen ist es keine Filiale – die richtige Filiale ist oben im zweiten Stock –, sondern eine Geldausgabestelle, eine Art Garage mit Geldautomaten für den Fall, dass jemand nachts dringend Geld braucht.

Die Menschen, die sich diese Filiale zum Nachtasyl ausgewählt haben, sehe ich fast jeden Morgen, wenn ich um sieben Uhr früh meine Tochter zur Schule bringe. Um diese Zeit schlafen sie noch. Die Frau liegt auf der Heizung quasi im Schaufenster unter dem großen Aufkleber »Deutsche Bank Ihre Beraterbank«. Sie liegt mit dem Rücken zur Straße, und ihr Gesicht ist nicht zu sehen, nur das Hinterteil und Wollsocken. Ihre Schuhe zieht sie aus und stellt sie unter die Heizrohre, damit sie trocknen, während sie schläft. Die beiden Männer liegen vor dem Geldautomaten auf einer Decke, die sie auf dem Boden ausbreiten.

Die beste Freundin meiner Tochter, Melanie, deren Mutter just in dieser Filiale der Deutschen Bank arbeitet, erzählte uns, dass die Mitarbeiter dort ständig Ärger wegen der Penner bekommen. Angeblich hält sich durch diese Übernachtungen der Geruch von Kotze dermaßen hartnäckig in dem kleinen, gut beheizten Raum, dass sich schon mehrere Kunden, die am frühen Morgen zum Geldabheben dorthin kamen, auf der Stelle übergeben mussten. Einige beschwerten sich beim Filialleiter, der wiederum Melanies Mutter zusammenstauchte.

»Wie kommen diese Penner überhaupt da rein?«, fragte meine Tochter Melanie. »Man braucht doch eine spezielle Kreditkarte, um die Tür zu öffnen. Haben die Penner etwa eine Kreditkarte?«

»Natürlich nicht«, erklärte Melanie selbstbewusst. »Aber sie haben wohl eine spezielle Pennerkarte, die zwar zum Geld abheben nicht taugt, dafür aber die Türen aller Filialen der Deutschen Bank öffnet. Es ist eine Karte für Menschen, die sich aus finanziellen Gründen weder ein Hotel noch eine Wohnung leisten können. Meine Mutter weiß überhaupt nicht, was sie machen soll. Man darf diese Leute doch nicht einfach so rauswerfen.«

Wir überlegten.

»Sag deiner Mutter, sie soll dort eine Dusche einbauen lassen,« sagte meine Tochter. »Mit Toilette! Saubere Matratzen hinlegen und eine Putzfrau einstellen! Dann stinkt es bestimmt bald weniger in der Bank!«

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Dein Schatz – mein Schatz

Als Kinder hatten wir viele brutale Spiele in der Schule. Zum Beispiel spielten wir gern das Einbalsamierungsspiel »Lenin«. Es ging so, dass wir einen Mitschüler so lange in verschiedene Kleidungsstücke einwickelten, bis er sich nicht mehr bewegen und nicht mehr atmen konnte. Danach musste sich »Lenin« selbst befreien oder auf dem Schulhof verrecken. Wir spielten Feuerwerfer, indem wir die Haarspraydosen anzündeten und einander mit Flammen begossen, oder Kosmonauten, wobei jeder aus einem Fenster im zweiten Stock klettern musste.

Am brutalsten war die sogenannte »Schatzsuche«. Dabei musste einer etwas, was ihm lieb und teuer war, verstecken, und die anderen hatten die Aufgabe, es zu finden. Wer den Schatz als Erster fand, wurde zu seinem neuen Besitzer und musste den Schatz neu verstecken. Jeder Schatzinhaber bekam Prügel ab und hat fast immer geweint, denn ohne Gewalt ging das Spiel nicht ab. Wir haben auf diese Weise früh gelernt, dass der Schatz des einen immer die Tränen des anderen bedeuteten. Das gilt auch in der Welt der Erwachsenen. In jeder Schatzkammer der Welt kann man Beweise dafür finden.

Neulich waren wir in Wien. Es war kalt, und wir hatten nichts zu tun, also gingen wir in die Wiener Schatzkammer. »Tausend Jahre europäische Geschichte werden hier verwahrt«, stand im Touristenprospekt. Und tatsächlich sah ich, dass die Österreicher diese tausend Jahre nicht geschlafen hatten, sie waren sehr aktiv und sehr schlau gewesen. Alles, was sie in die Hände bekamen, landete sofort in ihrer Schatzkammer: die Krone einer chinesischen Prinzessin, ein Eierbecher des französischen Königs, ein Spazierstock des mexikanischen Gouverneurs usw.. Haben diese Leute ihre Sachen freiwillig den Österreichern übergeben, oder hat es brutale Kämpfe um den Eierbecher gegeben? Die Wahrheit ist in der Geschichte verborgen. Vielleicht lud der französische König einmal ein paar Österreicher zum Frühstück ein. Sie tranken Tee, plauderten ein wenig über die Weltpolitik und das Wetter …

»Wollt ihr schon gehen? Na dann … Was für nette Leute, diese Österreicher«, freute sich der französische König. Nur konnte er anschließend seinen Eierbecher nicht mehr finden. Merkwürdig, dachte er, ich habe ihn doch gerade eben auf dem Tisch gesehen … »Hallo!«, rief er aus dem Fenster. Zu spät. Der Eierbrecher war schon längst über alle Grenzen in der Wiener Schatzkammer gelandet.

Und die Sache mit dem mexikanischen Gouverneur? Wie ist er seinen Spazierstock losgeworden? Hatte ihm ein netter Österreicher über die Straße geholfen?

»Vielen Dank, junger Mann!«

»Ach was, keine Ursache, ich helfe immer gern … Sie haben aber eine tolle Krücke, darf ich sie mal ausprobieren? Ich bin gleich zurück!«

Der mexikanische Gouverneur wartete und wartete vergeblich.

Auch die chinesische Prinzessin hat wahrscheinlich geweint, als sie ihre Krone nach dem Empfang des österreichischen Botschafters nicht mehr auf dem Kopf fand. Ihre Eltern haben bestimmt mit ihr geschimpft:

»Na, du? Schon wieder die Krone verloren? Kriegst keine neue mehr, es reicht jetzt!«

Gott, hat sie geweint!

Nun heißt das Ganze aber »Tausend Jahre europäische Geschichte«, Österreich ist ein zivilisiertes Land geworden und die Wiener Schatzkammer steht Touristen aus aller Welt offen. Man zahlt sieben Euro, Studenten natürlich weniger, und jeder kann alles angucken, nur nichts anfassen – da werden die Österreicher nämlich sauer. Auf mich hat diese Sammlung großen Eindruck gemacht. Wenn ich in Zukunft Besuch aus Österreich bekomme, lasse ich aber für alle Fälle meine Eierbecher im Schrank. Die kriegen sie nicht.