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Wie der Stahl gehärtet wurde

Das Gymnasium meiner Tochter ist groß, verwinkelt und hat viele Treppen. Überall an den Wänden hängen Ergebnisse schülerischer Leistungen: Zeichnungen beispielsweise oder Berichte über die angestrebte Zusammenarbeit mit einer Partnerschule in Ecuador. Eine ganze Treppe ist mit markigen Sprüchen in verschiedenen Sprachen geschmückt, die den Gymnasiasten eine Kostprobe internationaler Weisheiten geben. Zu jeder Etage gehört eine Weisheit. Die französische Weisheit ist, dass nur die Liebe zählt. Die Weisheit auf Latein habe ich nicht verstanden, und auf Englisch stand da, man dürfe nie aufgeben: Egal, was passiert, try again. Auf Deutsch war zu lesen, dass Fortschritt nur dann möglich sei, wenn man gegen die Regeln verstieß. Gegen die Regeln verstoßen, das hätte wohl jeder Gymnasiast gerne. »Ich muss heute die Schule schwänzen, um des Fortschritts willen und um die Weltentwicklung zu beschleunigen!«

Ganz unten im Erdgeschoss las ich zwei Sätze auf Russisch: »Unsere Zeit auf Erden ist zu knapp bemessen, um sie für sinnlose Späße zu vergeuden. Nutze jeden Augenblick deines Lebens, damit dich später die vertanen Jahre nicht schmerzen. M. Gorki.«

Das ist Blödsinn, das hat Gorki niemals gesagt. Der Spruch ist von Nikolai Ostrowski, der im letzten russischen Bürgerkrieg und während der nachfolgenden Industrialisierung zu einem Helden der Revolution wurde und das Buch Wie der Stahl gehärtet wurde schrieb, bevor er noch in jungen Jahren an den Folgen einer Verletzung starb. Er war blind und an den Rollstuhl gefesselt, als er sein Buch verfasste. Ich habe dieses Buch als Kind mit großer Begeisterung gelesen. Aber heute denke ich, hatte er überhaupt eine Wahl? Es gibt Zeiten, da können die Menschen nicht auswählen, was sie am liebsten werden wollen – Held oder Buchhalter. Sie werden zum Heldentum gezwungen.

Die Lehrer am Gymnasium sind lustig. Die Schulleiterin sieht aus wie ein Vampir, behauptet meine Tochter. Der Lateinlehrer ist ein Humorist. Er erzählt jeden Tag den gleichen Witz. »Du erinnerst mich an einen Feuerwehrmann, der zum Brand erscheint, aber vergessen hat, den Schlauch mitzunehmen.« Das sagt er immer, wenn einer der Schüler etwas vergessen hat. Manchmal sagt er zur Abwechslung: »Du erinnerst mich an einen Bankräuber, der in die Bank geht, aber seine Knarre zu Hause gelassen hat.« Am nächsten Tag vergisst der Lateinlehrer anscheinend, dass er den Witz schon einmal erzählt hat, und erzählt ihn noch mal und noch mal mit der Aufdringlichkeit eines Bankräubers oder Feuerwehrmannes, der seinen Schlauch beziehungsweise seine Knarre vergessen hat, der alles vergessen hat: Wer er ist und was er zu tun hat, aber trotzdem jeden Tag pünktlich vor der Bank, vor dem brennendem Haus, im Gymnasium erscheint, um seinen Witz erneut vorzutragen.

Zwei Mädchen aus Nicoles Klasse essen in der Mittagspause von zu Hause mitgebrachtes Sushi, von den – deutschen, nicht japanischen – Müttern handgerollt. Die anderen bekommen in der Kantine Erbsen mit Kartoffelpüree, und montags gibt es immer Pizza. In der Hofpause sendet das Schulradio stets das gleiche Lied. Der Text ist schlecht zu verstehen, aber beim Refrain singt eine Babystimme: »Irgendwann sind wir alle tot, beim Zähneputzen oder Abendbrot.« Ach, eigentlich ist es schon toll, so ein Gymnasiast zu sein. Zur großen Pause rasen sie alle die Treppen hinunter wie eine Idiotenarmee bei der Attacke. Wie schlagkräftig ist diese Armee? Ein alter römischer General sagte einmal, es sei für den Sieg nicht ausschlaggebend, wie viele Soldaten eine Einheit hat. Wichtig sei allein, wie viel Staub sie aufwirbeln kann. Nach diesen Kriterien ist das Gymnasium unschlagbar.