Berliner Arche Noah
Viele Leute können den Winter in Berlin nicht ausstehen. Sie sagen, der Dezember wäre ja noch zu ertragen – wegen der leuchtenden Weihnachtsmärkte und des Glühweingeruchs, der sich über die Stadt legt. Im Februar verleiht das Filmfestival der Stadt ein bisschen Glamour. Aber der Januar, der geht nun wirklich gar nicht. Im Januar ist Berlin nur noch kalt und grau, die Temperaturen fallen ins Bodenlose.
Bei minus drei Grad haben wir die beiden Meerschweinchen, die in einem Holzhäuschen auf dem Hof leben, in die Wohnung genommen und bei uns im Bad einquartiert, damit sie nicht frieren. Als Dankeschön trällerten sie ununterbrochen ihre Meerschweinchen-Schlager, die ganze Hitparade rauf und runter. Die zwei Kaninchen waren erst einmal noch draußen geblieben. In der Gebrauchsanweisung für Kaninchen stand, sie wären eigentlich frostfrei und würden die Kälte mögen. Doch bei minus zehn Grad sahen die Kaninchen nicht wirklich glücklich aus. Sie bewegten sich gar nicht mehr, gruben keine Erdlöcher und lagen nur auf dem Hof herum wie zwei große zottige Kugeln.
Ich schrieb einen Rundbrief an alle Hausbewohner und platzierte ihn auf der Haus-Seite im Internet.
»Genossen«, schrieb ich, »wer hat noch Platz für zwei Kaninchen, die aus der Kälte kommen?«
Man muss dazu sagen, dass wir in einem fortschrittlichen Haus wohnen. Unsere Nachbarn sind in der Mehrheit aufgeschlossene, moderne Menschen und zum Beispiel freiberufliche Internetdesigner oder Mitarbeiter sozialer Einrichtungen. Sie rauchen nicht, sie gehen joggen, und sie kaufen im Bioladen ein. Manche von ihnen sind sogar in der Bürgerinitiative »Für die Vollpflanzung des Mauerparks« aktiv. Wir haben ein Forum im Internet, in dem wir alle Probleme unseres Hauses offen ausdiskutieren. Letztes Jahr haben wir natürlich dem Hausmeister und der gesamten Verwaltung gekündigt, um eine Selbstverwaltung auf freiwilliger Basis aufzubauen. Sie funktioniert leider nicht so gut. Es hakt bei der Arbeitsverteilung. So romantische Aufgaben wie Schnee vom Dach schaufeln sind leicht zu verteilen. Es ist abenteuerlich, aufs Dach zu klettern, und es lassen sich tolle Fotos davon knipsen. Aber das im Gang vor dem Treppenhaus vor zwei Monaten zerschellte Glas Rote Grütze aufzusammeln, dafür haben wir niemanden gefunden.
»Genossen«, schrieb ich damals im Forum, »lasst uns sachlich werden. Wem gehört die Grütze?«
Alle machten einen auf toten Käfer. Keiner wollte zugeben, jemals Rote Grütze gekauft zu haben. Dafür hat jemand die Grütze mit Sand bestreut, die Rutschgefahr bestand also nicht mehr.
»Ich glaube, wir brauchen zum Thema Grütze ein moderiertes Gespräch«, schrieb mein Nachbar aus dem Parterre.
»Genossen! Wer hat noch Platz für zwei niedliche Tierchen, die auf dem Hof frieren? Schnell und unbürokratisch! Oder brauchen wir dafür auch ein moderiertes Gespräch?«
Nach einer ausführlichen Diskussion landeten die Kaninchen bei uns im Korridor. Die Wohnung verwandelte sich langsam aber sicher in eine moderne Arche Noah. Im Bad pfiffen die Schweinchen, im Korridor sprangen die Kaninchen, und unsere beiden Hauskatzen liefen vom Korridor ins Bad und zurück, noch unentschlossen, wer von den neuen Tieren als Vorspeise und wer als Dessert einzustufen wäre. Unsere beiden Kinder liefen den Katzen hinterher und stellten zoologische Forschungen an.
»Die Kaninchen zanken sich!«, berichtete meine Tochter. »Sie schlagen sich ganz fies, greifen einander immer von hinten an und stoßen mit dem Körper zu.«
Mein Sohn zeigte, wie die Kaninchen aufeinander losgingen. Es sah unanständig aus. Ich ging in den Korridor. Die Kaninchen hatten auf den Klimawandel völlig falsch reagiert. In der warmen Wohnung entwickelten sie Eigenschaften, die sie nicht haben durften, denn laut Pass waren sie beide Mädchen. Trotzdem rammelten sie nun ununterbrochen und stanken dabei fürchterlich. Auf meine Versuche, sie zur Vernunft zu bringen, reagierten sie einfach nicht. Ich glaube, sie brauchen ein moderiertes Gespräch.