img22.jpg

Menschen, Katzen, Telefone

Wie entsteht ein Mensch? Ich glaube, als Erstes kommt der Charakter, noch bevor sich die Augen, Ohren und sonstigen Organe herausbilden. Der Charakter ist der wichtigste Bestandteil eines jeden, sein sozialer Brennpunkt sozusagen. Er kommt als Erstes und geht als Letztes. Ich glaube, ein Mensch ohne Charakter wäre glücklicher, denn er könnte ein ruhiges, stilles Leben führen. Seine Wünsche würde dieser Mensch seinen Grundbedürfnissen anpassen. Und es ist wahr, man braucht eigentlich nur wenig, um glücklich zu sein: ein paar belegte Brote und einen Lebenspartner. Schon schön, wenn auch etwas langweilig.

Dann kommt einem aber immer dieser verdammte Charakter dazwischen. Er lässt den Mensch sein kleines Glück nicht genießen, sondern denkt sich immer wieder etwas Neues aus. Er bringt einen Mensch dazu, Spaghetti Bolognese mit Fischstäbchen zu mögen, rosa Hosen nicht anziehen zu wollen und Fernsehwerbung ohne Ton zu schauen. Dieser Charakter sitzt irgendwo ganz tief im Menschen und erzählt ihm, was er noch so alles unbedingt braucht. Und eines Tages sagt der Mensch dann plötzlich: »Ich will ein Handy.« Bei meinem Sohn hat es von Geburt an acht Jahre gedauert, bis sein Charakter ihm einflüsterte, er müsse unbedingt ein Mobiltelefon haben.

»Wozu brauchst du ein Telefon, Junge? Wen willst du anrufen?«, regte ich mich auf. »Alle Menschen, mit denen du zu tun hast, leben in deiner unmittelbaren Umgebung. Die brauchst du nicht anzurufen, die kannst du einfach so rufen, ohne Telefon. Sie kommen alle, und ich versichere dir, sie werden live viel besser zu hören sein als am Telefon und besser zu sehen sein als die Menschen in der Glotze.«

»Du spinnst, Papa«, sagte Sebastian daraufhin. »Ich brauche ein Handy doch nicht zum Telefonieren. Ich will tolle Spiele spielen, Fotos schießen, Musik hören, lustige Klingeltöne mit meinen Mitschülern austauschen und ihnen SMS schicken. Fast alle in meiner Klasse haben Handys, ich brauche auch eins. Am besten ausklappbar und mit großem Bildschirm.«

Der Junge hat Recht, dachte ich. Ein Telefon ist heute nicht einfach nur ein Telefon, sondern ein Spielzeug. Das kenne ich aus meiner Kindheit anders. Wir hatten von Luftpistolen geträumt, von Fahrrädern, Schlittschuhen, Fußbällen, aber nie von Telefonen. Sie waren total out. Gut, es waren etwas andere Geräte. Sie passten in keine Hosentasche, hatten überhaupt keine Spiele und nur einen einzigen völlig unspektakulären Klingelton. Das Einzige, was wir mit diesen Urtelefonen spielen konnten, war, unbekannte Leute anzurufen. Am besten wählte man einfach eine zufällige Nummer am späten Abend, wenn die meisten Bürger müde wurden und ihre Wachsamkeit nachließ. Wenn dann am anderen Ende jemand ranging, sagten wir:

»Guten Tag! Wir rufen aus dem Telefonministerium im Auftrag des KGB an. Es geht um die Nachprüfung alternativer Verbindungsmöglichkeiten.«

»Worum geht’s?«, fragte der Unbekannte verwirrt nach.

»Alternative Verbindungsmöglichkeiten. Wie lang ist Ihr Telefonkabel? Drei Meter? Ziehen Sie jetzt bitte das Kabel aus der Steckdose und stecken Sie es sich in den Arsch.«

Eins, zwei, drei, aufgelegt. Wir haben danach immer wie blöd gelacht. Die Telefone unserer Kindheit hatten keine Displays, und die Anrufe konnten nicht zurückverfolgt werden. Ach, es waren schon lustige Telefone. Aber Fotos schießen konnte man damit nicht. Das alles habe ich meinem Sohn natürlich nicht erzählt. Ich wollte ihm kein schlechtes Vorbild sein. Stattdessen dachte ich, was soll’s, der Junge hat sowieso bald Geburtstag, er wird neun, und neun ist nahe an zehn, also ein Alter fast schon im zweistelligen Bereich. Eine neue Lebensphase, die eine technische Aufrüstung notwendig macht.

Eine Woche später übergab ich Sebastian feierlich sein erstes Handy mit Zubehör. Die Gebrauchsanweisung umfasste gut hundert Seiten und war dicker als jedes Buch, das mein Sohn bis dahin gelesen hatte. Nun ist das Kind für die nächsten sechs Monate beschäftigt, dachte ich. Ich hatte mich geirrt. Um 19.00 Uhr bekam Sebastian sein Telefon, bedankte sich und ging auf sein Zimmer, »aufladen«. Um 20.20 Uhr kam die erste SMS. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Der Mensch ist doch ein seltsames Wesen. Manches Wissen braucht Jahre, um einen zu erreichen, manches kommt nie an, und manches erwischt einen wie ein Blitz. Drei Jahre hatte Sebastian gebraucht, um die 29 Buchstaben einigermaßen vernünftig aufs Papier zu kritzeln. Es dauerte Monate, bis er Rechnen gelernt hatte, und seine Seepferdchen-Prüfung hat er noch immer nicht geschafft. Das Wunder der modernen Technik, das Mobiltelefon, knackte er jedoch innerhalb einer Stunde. Die Botschaften aus dem Kinderzimmer kamen im Minutentakt. Ich verfolgte in Realzeit, wie sein mobiltelefonisches Können beständig wuchs. Die ersten zwei SMS waren leer. Dann kam eine dritte, so etwas wie »Khirdl«. Und dann plötzlich:

»KUKE FILM«

»Hör auf, mich anzuschreiben, wir befinden uns in derselben Wohnung«, schrieb ich meinem Sohn zurück. »Und überhaupt, warum bist du noch wach? Sofort ins Bett!«

»KUKE FILM DARF KUKEN«, kam die Antwort.

Als Nächstes las ich: »Will nicht schlafen«, »Warum sind alle so gemein zu mir«, »Nicole will Streit« und »Gute Nacht Papa«. Alles verblüffend korrekt geschrieben. Anscheinend hatte das Kind bereits das Redaktionsprogramm gefunden und aktiviert.

Inzwischen ist die erste Telefonaufregung vorbei. Sebastian schickt mir höchstens noch eine SMS am Tag, und manchmal ruft er aus der Schule an, wenn er schlechte Laune hat. Weil anrufen in der Schule verboten ist, gehen die Jungs zum Telefonieren aufs Klo. Das hört sich dann an, als würde Sebastian von weit weg anrufen. Ich höre die Niagarafälle in seinem Rücken und die Schreie von Flamingos. Anstatt »Guten Tag« zu sagen, atmet er anfangs laut und lange in den Hörer.

»Was ist?«, frage ich, »Was gibt es Neues am Niagara?«

»Die Schule ist doof«, beschwert sich mein Sohn. Die Klassenlehrerin habe auf ihn geschimpft, weil er sein Schreibheft zu Hause gelassen habe. Peter sei krank, und Karl Friedrich wolle nicht mit ihm spielen. »Darf ich jetzt nach Hause gehen?«

»Nein, darfst du nicht«, sage ich. »Die Schule ist Pflicht, egal wie doof sie ist, und Eltern werden dafür in die Verantwortung genommen, dass ihre Kinder lernen. Wenn du nach Hause gehst, landen Mama und ich im Knast.«

»Na gut«, sagt Sebastian, »dann gehe ich jetzt zurück und mache weiter.«

Statt »tschüs« sagt er immer »Ende«. Als Hintergrundbild benutzt er übrigens ein Foto unserer Katze Marfa. Jeden Tag schießt er ein neues Bild von ihr. Aus seiner Sicht passt Marfa perfekt auf den Bildschirm seines Telefons, weil sie so klein ist. Sebastian hat Zweifel, ob so große Katzen wie Fjodor Dostojewski als Hintergrundbild taugen, weil sie zu flauschig und zu dick sind.

»Nur Katzen unter zwei Kilo können als Hintergrundbild benutzt werden«, behauptete er neulich im Gespräch mit unserer Freundin Marina. Marina hat ihr ganzes Leben lang in der Gastronomie gearbeitet, zuerst als Köchin und die letzten Jahre als Geschäftsführerin in einem großen Restaurant. Sie hob Marfa kurz hoch, schloss für eine Sekunde die Augen und sagte: »2,4. 1,8 ohne Knochen«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.