Salve, Papa!
Meine Tochter hat in diesem Jahr die Schule gewechselt. Statt ihre Lebenszeit ein fünftes Jahr in der Grundschule zu vergeuden, geht sie jetzt aufs Gymnasium. Nicht auf irgendein Larifari-Gymnasium, sondern auf ein Gymnasium mit Schwerpunkt Latein. Wir hofften schwer auf diesen Schwerpunkt. In der Grundschule haben die Kids einander vier Jahre lang den Rücken massiert und ständig hatte Nicole dort irgendwelche Projekttage statt Unterricht. Die Kinder spielten Gesellschaftsspiele, zerschnitten jede Menge Papier, bauten kleine Vögelchen zusammen, sangen den Omas im Altersheim Gute-Nacht-Lieder vor und besuchten regelmäßig die Töpferei. Aus diesem vierjährigen Studium entstanden mindestens zwanzig schrullige Lehmaschenbecher, von Nicole eigenhändig getöpfert, die auf sämtlichen Regalen unserer Wohnung herumstehen. Sie erinnern daran, dass die Schule in Deutschland keine Wissensschmiede, sondern eine soziale Einrichtung ist, die Kindern beibringt, sich in einer Gruppe unterschiedlicher Individuen zurechtzufinden.
Dagegen ist nichts zu sagen. Natürlich ist lesen und schreiben einfacher zu lernen als Konflikte zu lösen. Von einem Gymnasium erhoffte ich mir trotzdem eine Bildungssteigerung, einen Schutz vor grassierender Frühverblödung. Außerdem wollte ich zusammen mit meiner Tochter Latein lernen. Mich störte auch nicht, dass der Lateinlehrer sächselte.
Nicole verstand das Gymnasium als eine Art Beförderung und kam sich unglaublich wichtig vor. Sie konnte vor Stolz kaum laufen. »Salve, Papa, salve, Nicole« – gleich am ersten Tag hatten wir das gelernt. Nach einer Woche wollte ich endlich ein zweites Wort Latein hören. Es war an der Zeit zu erfahren, was zum Beispiel »tschüs« auf Latein hieß. Dazu kamen wir aber nicht, denn die fünfte Klasse blieb fest in der Projektwoche zum Thema »Antimobbing« stecken. Zweifellos ein wichtiges Thema, wie ich aus erster Hand wusste. Ich bin oft genug von Familienangehörigen und Freunden gemobbt worden, wenn ich Gitarre spielte oder Englisch redete. Deswegen beschloss ich, mindestens an einem Antimobbing-Projekttag teilzunehmen.
Am ersten Tag wurden Postkarten mit Sprüchen und Zeichnungen verteilt, wobei jedes Kind zu seiner Karte etwas erzählen sollte: »Ich habe diese Karte genommen, weil sie grün ist und das meine Lieblingsfarbe ist.«
So ein Schwachsinn. Ich hatte eine Postkarte mit einem Zwanzig-Euro-Gutschein drauf genommen, konnte aber nicht erklären, warum ich sie ausgewählt hatte. Es war eine unbewusste Entscheidung gewesen.
Am nächsten Tag musste einer alle anderen in der Klasse fragen, ob er/sie mit ihm ins Kino gehen wolle – und alle sagten Nein. Anschließend wurde das Opfer befragt: »Was ist das für ein Gefühl, ausgeschlossen zu sein?« Am dritten Tag wurde zu therapeutischen Zwecken jemand ausgelacht, wobei ihn beim ersten Mal ein anderer in Schutz nehmen durfte und beim zweiten Mal nicht. Anschließend erzählte der Ausgelachte, was das für ein Gefühl war. Danach haben sie Verlässlichkeit gelernt. Die Kinder sind dazu im Jugendzentrum die Wand hochgeklettert, wobei einer das Sicherungsseil des anderen halten musste. Wenn dennoch jemand herunterfiel, erzählte er anschließend, was das für ein Gefühl war.
Bald sind Herbstferien, und ich habe bei diesem Gymnasium ein mulmiges Gefühl. Ich denke, dass wir noch lange brauchen werden, um zu erfahren, was »tschüs« auf Latein heißt. Doch Zeit genug wäre da, noch sieben Jahre! Bis es so weit ist, festigen wir das bereits Erlernte jeden Morgen um sieben Uhr früh: »Salve, Papa!«
»Salve, Nicole!«