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Kaninchen

Was macht aus einem normalen Menschen einen Schriftsteller? Die Wege der Muse sind nicht nachvollziehbar. Bei mir war zum Beispiel das Arbeitsamt der Auslöser. Ich hatte damals einen furchtbar langweiligen Job: Bei einer als »internationale Theaterwerkstatt« getarnten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme musste ich Telefon- und Bürodienst machen. Damals fing der Staat gerade an, seinen Leistungsbeziehern gegenüber Misstrauen zu entwickeln. Einmal am Tag bekamen wir einen Kontrollanruf vom Arbeitsamt. Wenn niemand ans Telefon gegangen wäre, hätte das Amt unsere Werkstatt wahrscheinlich sofort abgewickelt. Damit das nicht passierte, saßen immer mindestens drei Mitarbeiter im Büro. Jeder hatte einen Computer vor sich stehen. Meine Kollegen schossen damit tagein, tagaus virtuelle Moorhühner ab, mir taten die niedlichen Vögel leid.

Am Ende des Arbeitstages mussten wir einen kurzen Bericht für das Arbeitsamt verfassen, eine Bestandsaufnahme der getanen Arbeit. Weil meine Kollegen sich bei ihrer Moorhühner-Vernichtung immer die Finger taub geschossen hatten, übernahm ich das Abfassen der Berichte. Ich erstellte stets zwei davon: einen offiziellen Bericht für das Arbeitsamt, in dem stand, wie sich unsere Werkstatt bis dahin entwickelt hatte, und einen inoffiziellen, mit genauen Angaben darüber, wie viele Moorhühner welcher Kollege mit welcher Hand geschossen hatte und wie die anderen Kollegen darauf reagiert hatten. Der erste Bericht wurde zu den Akten gelegt, der zweite am Ende des Tages intern vorgelesen.

Nun ist das Ganze längst Vergangenheit. Die Theaterwerkstatt wurde vor einem Jahrzehnt geschlossen, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind alle gestrichen, und die Computer-Moorhühner fliegen heute mit einer ganz anderen Geschwindigkeit über die Bildschirme. Sie sehen auch nicht mehr so niedlich aus. Trotzdem verfasse ich weiter meine täglichen Dienstberichte. Ich kann einfach nicht damit aufhören. Aus heutiger Sicht würde ich deswegen behaupten, das Arbeitsamt war der Auslöser für meine literarische Karriere.

Bei meiner Tochter verursachte dagegen ein Kaninchen eine plötzliche Kreativitätsanwandlung. Einmal, kurz vor Ostern, sah sie im Fernsehen ein Riesenkaninchen aus Spandau, das angeblich siebzig Jahre alt war. Das Tier war dort im Hof eines Mehrfamilienhauses zu einem regelrechten Pitbull herangewachsen, mit einer Ohrenlänge von über fünfunddreißig Zentimetern. Für den Fernsehzuschauer wirkte es völlig verloren und die Kinder hatten wahrscheinlich Angst vor einem solchen Ungeheuer. Das Tier saß die ganze Zeit in seinem Gehege und passte auf die Fahrräder der Hausbewohner auf. Anstatt die Gegend auf radioaktive Strahlung zu untersuchen, freuten sich die Spandauer wie verrückt über dieses Rekordkaninchen, und die Medien machten alle mit. Meine Tochter war von dem Tier ebenfalls fasziniert und fing auf der Stelle an, ihren ersten Roman mit dem Titel Das doofe Kaninchen in meinen Computer zu tippen. Ich dachte, das geht vorüber, und wartete geduldig ab.

Schon bald starb das Wunder von Spandau an Übergewicht, aber meine Tochter schrieb trotzdem weiter. Bei uns im Haus schreiben sowieso alle, außer meiner Schwiegermutter, die ihr künstlerisches Ich im Kochen und Fotografieren ausdrückt. Bald beschwerte sich meine Tochter jedoch, ihr Roman sei ihr zu verworren geraten, mit Zeitsprüngen und sehr vielen Figuren, die irgendwann auftauchen, an die sie sich als Autorin dann aber nicht mehr erinnern könne. Die Geschichte sei zu komplex, meinte sie, ein bisschen wie Krieg und Frieden, nur mit Tieren. Ob das die Leser nicht abschrecken würde, fragte sie mich und bat um Rat. Ich las zuerst alles durch. Es war kein leichter Stoff. Der Hauptheld des Romans, ein lustiges Kaninchen aus Spandau, wird Zeuge eines furchtbaren Verbrechens, kommt danach selbst in den Knast wegen eines unbewaffneten Raubüberfalls, heiratet nach seiner Entlassung eine Krankenschwester namens Nelly und fängt als Privatdetektiv in Spandau an. Nebenbei macht er noch den Steuerberater für die Berliner Mafia. Irgendwie ist er ab Seite zwei kein richtiges Kaninchen mehr. Das aber im Klartext zu schreiben, traute sich meine Tochter nicht.

»Die Verwirrung kommt daher, Liebes, dass du noch nie mit einem echten Kaninchen zusammengelebt hast«, sagte ich. »Du weißt nicht, wie sie ticken, wie sie denken und handeln.«

Damit sie die notwendigen Erfahrungen sammeln konnte, beschlossen wir sofort, im Hof unseres Hauses ein paar Kaninchen einzuquartieren. Das konnten wir natürlich nicht auf eigene Faust tun. Dazu brauchten wir die Zustimmung der Nachbarn. In einem hauseigenen Chat erläuterte ich meine Absicht, unserem Haus ein paar Kaninchen zur freien Nutzung für alle zur Verfügung zu stellen und damit die allgemeine Lebensqualität der Bewohner zu steigern. Nicht alle Nachbarn reagierten begeistert. Etliche hatten Bedenken und bestanden auf einem offiziellen Treffen. Also beriefen wir kurzfristig eine Kaninchenkonferenz auf dem Hof ein. Es war die erste und längste in einer ganzen Reihe weiterer Kaninchenkonferenzen. Sie dauerte sechs Stunden.

Erst einmal mussten die Anschaffungs- und Haltungskosten besprochen sowie die Zuständigkeiten geklärt werden. Auch die möglichen Auswirkungen der Kaninchen auf den Alltag des Hauses wurden diskutiert. Familie Ersali aus dem Parterre fühlte sich übergangen. Wie es aussah, durften nun ihre beiden Katzen Marx und Engels nicht mehr zu jeder Zeit auf den Hof gelassen werden. Familie Mayer gab zu bedenken, dass der plötzliche Tod eines Kaninchens bei den Kindern eine geistige Krise verursachen könnte. Es müsste von daher die medizinische Versorgung der Tiere gewährleistet werden.

Bei den fortlaufenden Kaninchengesprächen bildeten sich schon bald verschiedene Interessenparteien heraus, die ziemlich genau die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages nachahmten. Unsere SPD sorgte sich in erster Linie um eine gerechte Verteilung der Arbeitsschichten bei der Pflege und Fütterung der Tiere. Die CDU erinnerte an die Sicherheit der Kaninchen und forderte sofortigen Hausarrest für Marx und Engels. Die Grünen liehen sich in der Bibliothek jede Menge Fachliteratur über Kaninchen aus und wussten bald alles besser: Man durfte den Tieren nicht mehr als hundert Gramm Futter am Tag geben. Jede zusätzliche Kalorie wäre der reinste Tierversuch, trumpften sie mit ihrem neu erworbenen Wissen auf.

Die kleine, aber feine liberale Fraktion des Hauses vertrat die These, unsere Kaninchen bräuchten gar kein Gehege und auch keine Angst vor wilden Katzen zu haben. Sie sollten frei leben, und wenn sie dann doch unter die Krallen von Marx oder Engels gerieten, dann sollten sie eben frei sterben, und wir müssten eben neue Kaninchen kaufen. Es kam aber auch Nützliches aus dieser Ecke. Die Liberale Fraktion kannte einen Tierarzt, der bereit war, unsere Kaninchen prophylaktisch zu impfen – preiswert und steuerfrei.

Nur einer aus dem Haus ließ sich von der allgemeinen Kaninchenbegeisterung nicht anstecken: der Grieche aus dem vierten Stock, der bei Schering arbeitete. Er saß schweigend neben uns, gähnte und betrachtete die Nachbarn mit einem schamlosen Lächeln, als wollte er sagen, ihr seid selber alle Kaninchen. Euch müsste man eigentlich impfen. Steuerfrei.

Am nächsten Tag wurde die Kaninchenkonferenz in der Wohnung eines Nachbarn fortgesetzt. Noch nie gab es so viel Gesprächsstoff in unserem Haus, noch nie hatten die Nachbarn so viel Zeit miteinander verbracht. Wir versammelten uns beinahe täglich mal bei den einen, mal bei den anderen Nachbarn, um weitere Kaninchenprobleme zu besprechen. Jeder brachte etwas zu essen und zu trinken mit. Etliche Hausbewohner, die früher kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten, stießen plötzlich auf gemeinsame Interessen.

»Kaninchen verbinden Menschen«, witzelte der Grieche aus dem vierten Stock. Er nahm an den Konferenzen nicht mehr teil.

Eine Woche später wurde das Gehege geliefert. Ein Nachbar, der als Arbeitstherapeut minderjährigen Sexualstraftätern aus Brandenburg das Tischlern beibrachte, hatte es an seiner Arbeitsstelle anfertigen lassen. Die Sexualstraftäter hatten tolle Arbeit geleistet: Alles war nach den neuesten Erkenntnissen der Kaninchenstallarchitektur gebaut worden. Andere Nachbarn hatten bereits Futter und Stroh gekauft. Nur die Tiere fehlten noch.

Am nächsten Tag ging ich im Einkaufscenter am Gesundbrunnen in einen Zooladen, um die Kaninchen zu kaufen: vier Mädchen mit kleinen Ohren, lautete der Beschluss unseres Bundestages. Ich hatte zwar nicht ganz verstanden, was sie gegen Jungs mit großen Ohren hatten, aber nachzufragen hatte ich auch nicht gewagt. Ich wollte nicht noch eine Feminismusdebatte im Haus anstoßen. Wahrscheinlich hatte diese Art von Geschlechterdiskriminierung etwas damit zu tun, dass in unserem Haus mehrere alleinerziehende Mütter wohnten, die sich bei männlichen Kaninchen an ihre Verflossenen erinnern könnten, dachte ich.

Wegen Ostern befanden sich die Tierchen nicht mehr im Zoogeschäft, sondern in einem Gehege in der Mitte des Einkaufzentrums auf einer großen Kaninchenwiese und animierten das Publikum zu wildem Konsumieren.

»Vier Mädchen mit kleinen Ohren, bitte«, sagte ich.

Fünf Mitarbeiter halfen mir, die richtigen einzufangen. Sie rannten auf der Kunstwiese den kleinen Tierchen hinterher, stolperten und fielen übereinander, während die Kaninchen wie wild hin und her sprangen und das Publikum im Kaufhaus sich prächtig amüsierte. Dieses Durcheinander hatte zur Folge, dass am Ende in der Schachtel mit den vier Kaninchen zwei eigentlich Meerschweinchen waren. Ich schämte mich jedoch, vor allen Nachbarn öffentlich zuzugeben, dass man mich so leicht über den Tisch gezogen hatte. Deswegen kündigte ich sie als gewollt an. Die Meerschweinchen hatten lustige Punkfrisuren und bekamen von uns den Namen »Sex Pistols«. Die Kaninchen wurden dann fast zwangsläufig »The Beatles« genannt.

Sie wurden im Hof wie alte Freunde empfangen. Jeder im Haus wusste, wann sie zu füttern waren, wann sie Wasser brauchten und wann Freigang angesagt war. Meine Tochter fertigte eine Tabelle an und hängte sie neben dem Gehege auf. Dort sollten die täglichen hundert Gramm Futter vom diensthabenden Pfleger vermerkt werden.

Drei Tage später hatte ich einen Job – ich musste als DJ in einem Klub die ganze Nacht lang Musik auflegen. Erst um sechs Uhr früh kam ich nach Hause. Müde stand ich auf dem Balkon und sah den Griechen, der gerade zur Arbeit musste. Er ging über den Hof, schaute nach links und rechts, lief zum Kaninchenstall, nahm das Dach ab, streichelte die Tiere und steckte sie mit dem Ausruf »Arme Schweine!« in den großen Futtersack, der in der Ecke stand. Unsere ganze Hausordnung war für die Katz.

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Döndü

In archaischen Macho-Gesellschaften braucht jeder Vater einen Sohn, sonst lachen ihn die Nachbarn aus. Er braucht den Sohn außerdem, um ihm seinen Säbel und sein Pferd zu überlassen, und strengt sich von daher unglaublich an, einen echten Stammhalter zu zeugen. Oft kommen jedoch nur Mädchen dabei raus. Dieses Phänomen nennt sich »kinderreiche Familie«. In Russland zum Beispiel sagt man, wenn jemand mehr als drei Töchter hat: »Der Mann hat nachgeschlagen«. Soll heißen, er hat das Schicksal herausgefordert, er lässt nicht locker. Hierbei kommt die Natur des Macho-Mannes zum Vorschein. Er zockt nämlich gerne. Ähnlich wie beim Roulette, wenn man zigmal hintereinander auf die gleiche Farbe setzt und den Einsatz dabei stets verdoppelt, denken manche, mit jeder neuen Tochter würden die Chancen auf einen Sohn steigen. Der Spieler glaubt, der Zockergott würde es nicht zulassen, dass die Farbe Rot zwanzigmal hintereinander kommt, doch er irrt sich gewaltig. Dem Zockergott ist nämlich jede Farbe gleich und jedes Kind willkommen, er hält sowieso die Bank und hat Zeit bis zum Abwinken und mehr. Der Mann hat nur ein paar Jahrzehnte für seine Selbstverwirklichung.

Es gibt in Russland viele Nachschlagewerke, Sachbücher und Ratgeber zum Problem »Wie kriege ich einen Sohn«. Die populärsten Methoden werden jedoch durch Mundpropaganda verbreitet. So sagt man, dass sich bei jedem Menschen in regelmäßigen Abständen das Blut erneuert. Bei Frauen alle vier, bei Männern alle drei Jahre. Wer zur Zeit der Zeugung frischeres Blut hat, dessen Geschlecht setzt sich durch. Eine andere Theorie besagt, dass sich die schwächeren Geschlechter reproduzieren. Daher muss, wenn man einen Jungen haben will, vor allem die Frau gut gefüttert und unterhalten, der Mann dagegen gefoltert und ausgehungert werden. Außerdem haben Männer einen sehr speziellen Aberglauben: Danach sollen die unterschiedlichen Geschlechter jeweils in den Hoden stecken. Im linken die Mädchen, im rechten die Jungs. Und wer sich während der Zeugung das rechte Ei drückt, der kann das Geschlecht des Kindes steuern.

Trotz der vielen Ratgeber und einfallsreichen Tricks kommen nach wie vor sehr viele Mädchen in Russland auf die Welt. Da können die Männer noch so lange anfassen und pressen, abrasieren oder wachsen lassen. Selbst die Wissenschaft ist da machtlos.

In der Türkei, so erzählte mir neulich eine türkischstämmige Schriftstellerkollegin, haben die Männer das gleiche Problem. Wenn sie dort mehr als eine Tochter bekommen, geben sie dem Mädchen den magischen Namen Döndü. Der Name bedeutet so viel wie »Wende dich« oder »Sei gedreht«. Dieser Name gilt als Garantie dafür, dass das nächste Kind ein Junge wird. Wenn dann trotzdem noch ein Mädchen kommt, wird auch das Döndü genannt, so lange eben, bis sich das Blatt wendet.

Die Verwendung dieser Methode hatte zur Folge, dass sehr viele Frauen in der Türkei Döndü heißen. Die Döndüs gelten als kompliziert. Sie haben in der Regel Schwierigkeiten, einen Lebenspartner zu finden, sind dafür aber sehr fleißig und karriereorientiert, als wollten sie sich selbst und der Welt beweisen, dass sie nicht umsonst geboren wurden. Oft erringen sie große Autorität und tragen große Verantwortung in ihrem Umfeld. Angela Merkel wäre vom Typus her eine typische Döndü, meinte meine türkische Kollegin. Sie selbst heißt Dilek, das heißt so viel wie »Zunge« oder »Sprache«.

In Deutschland sind die archaischen Männer glücklicherweise entspannter. Sie freuen sich über jedes Kind, Hauptsache das Kindergeld kommt pünktlich. Und trotzdem kann man auch hier viele Döndüs finden. Ich glaube, irgendwann wird die Welt nur noch von Döndüs regiert. Sie schnappen den Männern alle Posten weg, sperren ihre Pferde in Ställe und schmieden die Säbel zu Kochlöffeln um. Globalisierung wird kein Thema mehr sein, alle werden nur noch von der Döndürisierung reden.