Meine kleine Heimat
Mit heimlichem Stolz las ich neulich den Namen meiner kleinen Heimat, der Akademiker-Pavlov-Strasse im Moskauer Bezirk Kunzevo, in den russischen Nachrichten. Und zwar nicht klein geschrieben irgendwo unten auf der letzten Seite, sondern in Fettschrift ganz vorne auf der ersten Seite gleich mehrerer Zeitschriften sowie im Internet. Es war herzerfrischend, den Namen der Straße, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, in der Zeitung zu lesen.
Sofort wurden Erinnerungen wach: ein Meer von Grün, der Parkplatz mit zwei verrosteten Autos, der nach altem Wasser riechende Sumpf neben der Müllhalde, auf der wir als Kinder Versteck spielten, die kleinen schmuddeligen Fünfetagenhäuschen, drei an der Zahl, die trotz ihrer Zierlichkeit unglaublich vielen Menschen ein Dach über dem Kopf gaben. Ferner der obligatorische Sandkasten auf dem Hof, in dem unser Hausverwalter schlief, wenn er den Weg nach Hause nicht fand, die Omas, die im Wald hinter dem Kaufhaus leere Flaschen sammelten, die Jugendlichen, die im Wald Messerwerfen um Geld spielten, die Erwachsenen, die sich abends vor demselben Kaufhaus nach freiwilligen Spendern für eine kleine Fete umschauten.
Ruhig und unspektakulär verlief meine Kindheit. Vom Moskauer Glamour hat man in unseren Wäldern wenig gesehen. Dafür hat in diesen Wäldern die Bürgerwehr im Winter 1941 die Panzer der Faschisten aufgehalten – »mit bloßen Händen«, wie einige Alteingesessene erzählten. Noch heute kann man in den Absenkungen des Waldbodens die Schützengräben von damals erkennen. Mit diesem mit Stacheldraht und Eisenschrott gespickten Wald sind meine tollsten Erinnerungen, die wichtigsten Etappen meines Erwachsenwerdens verbunden. Der erste Kuss, die erste Zigarette, der erste ausgeschlagene Zahn. Der Wald war unser Klub.
Als ich vor ein paar Jahren meine Frau dorthin mitschleppte, um ihr meine kleine Heimat zu zeigen, ist sie auf ihren Stöckelschuhen nicht weit gekommen. Sie ekelte sich ein bisschen. Sie hatte sich Moskau irgendwie schneidiger vorgestellt. Mein Plan, sie würde mich besser verstehen, wenn sie sähe, wo und wie ich aufgewachsen bin, ist nicht aufgegangen. Es ist schwierig, jemandem solche persönlichen Orte nahezubringen. Umso mehr freute ich mich, als ich meine kleine Heimat auf der Titelseite aller wichtigen Nachrichtenportale fand. Endlich hatte auch sie etwas vom Glamour der neuen Zeit abbekommen, an den Prozessen teilgenommen, die die Welt verändern. Der Aufmacher war sehr schön. Er lautete: »Massenschlägerei in der Akademiker-Pavlov-Straße – der Wald wehrt sich.« In dem Artikel stand, die Einwohner hätten die Polizei und die angerückten Bauarbeiter zusammengeschlagen. Damit protestierten sie gegen den geplanten Bau einer Gesundheitsfarm, eines großen Wellnesscenters in ihrem Bezirk.
O du meine kleine Heimat, auch nach vielen Jahren bleibst du unverwechselbar. Bleib stark, lass dich nicht verwellnessen.
Der Kremlweihnachtsmann
In Deutschland hat »Gemütlichkeit« einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Sie wird als Tugend und große Errungenschaft einer stabilen, die Menschen veredelnden Demokratie gepriesen. Ich kann mit Gemütlichkeit nichts anfangen. Ob die sozialistisch-atheistische Erziehung daran schuld ist und die damit verbundene Frühreife, die uns schnell aus dem Elternhaus vertrieb? Der Gedanke der Gemütlichkeit ist meinem Freundeskreis jedenfalls fremd geblieben. Händchen haltend um die Weihnachtskrippe herumsitzen und fette Vögel essen, alle zusammen und zur gleichen Zeit? Nein danke! Unsere ganze Feierkraft gilt Silvester, dem größtmöglichen Verstoß gegen die Gemütlichkeit in diesem Land.
Zu unserem Silvesterverständnis gehört ein Feuerwerk, das nicht nur aus babyfreundlichen Kinderknallern besteht. In der Regel bestellen wir im Internet um die vierzig Kilo Space Sound Rockets, Dragon Comets und anderen chinesischen Sprengstoff mit ähnlich lustigen Namen. Man darf das allerdings wegen der möglichen tiefen Verletzung der Gemütlichkeit nur als Firma bestellen, nicht als Privatperson. Eine Eintragung in das Handelsregister muss vorgelegt werden, die »eine spätere Nachprüfung ermöglicht«. So steht es im Formular – klein geschrieben.
Bis jetzt ist allerdings noch niemand gekommen, um nachzuprüfen. Sie beobachtet uns noch, die streng geheime deutsche Gemütlichkeitsbehörde, zuständig für die Überprüfung des ordnungsgemäßen Verbrauchs von Silvesterfeuerwerken. Ich weiß, irgendwann kommen sie, Männer in schwarzem Anzug und Sonnenbrille. Eines Tages im August werden sie an meine Tür klopfen: »Russendisko Records? Haben sie noch Silvesterfeuerwerk übrig? Letztes Jahr hat Ihre Firma sage und schreibe vierzig Kilo Space-Raketen bestellt. Wo sind die jetzt, und was haben Sie damit vor?«
Den Kern jeder anständigen Silvesterparty bildet neben dem Feuerwerk ein möglichst hoher, kräftiger und gut geschmückter Tannenbaum. Leider werden die Tannen in Deutschland völlig intolerant nur bis Heiligabend verkauft, sind also meist schon ausverkauft, wenn man sie eigentlich braucht. Wir warten bis zum letzten Tag. Am frühen Nachmittag des Heiligen Abends kaufen wir den höchsten und klumpigsten Tannenbaum, der noch zu finden ist. Die Tannenbaummärkte sehen an diesem Tag geplündert und verlassen, die letzten Räume irgendwie massenvergewaltigt aus. Überall auf dem Boden liegen Tannenreste, Handschuhe und geplatzte Plastiknetze, die man zum Einwickeln der Bäume benutzt. In der Regel sind die Verkäufer am frühen Heiligen Abend nicht mehr ansprechbar, vereist und eingefroren und können Geldscheine nur noch mit den Zähnen annehmen. Fast immer wartet jedoch ein letzter toller Baum auf uns in einer Ecke – ein Wunder!
Zu Hause geben wir dem Baum viel Wasser, damit er länger hält, schmücken ihn schön mit Lametta und legen viele tolle Geschenke unter die Zweige, die wir uns selbst und einigen Freunden, die mitfeiern, gekauft haben. Das soll eigentlich der Weihnachtsmann erledigen, aber weil wir wissen, dass es ihn nicht gibt, machen wir es lieber selbst. Sicher ist sicher. Auf den Weihnachtsmann war nie Verlass. Als Kind habe ich von ihm nur Scheiße geschenkt bekommen. Deswegen gelang es mir nie so recht, an ihn zu glauben.
Mein Glaube an den Weihnachtsmann erlosch vollends, nachdem ich in Moskau das größte Tannenfest des Landes besucht hatte. Ich war damals zehn oder elf Jahre alt, und mein Vater hatte die Karten für viel Geld in seinem Betrieb besorgt. Das Fest sollte in dem Gebäude neben dem Kreml stattfinden, das für Parteitage und andere feierliche Anlässe benutzt wurde. Das »Jolkafest im Kreml« war in Wirklichkeit eine Eisrevue. Es handelte sich um eine dreistündige Vorstellung mit den »besten Artisten des Landes«. Am Ende wurde eine »Verteilung von besonders wertvollen Geschenken durch den Kremlweihnachtsmann« angekündigt. Ich war zuerst unentschlossen, doch dieser letzte Punkt war ausschlaggebend für meine Entscheidung hinzugehen. In meiner Phantasie ergaben die Wörter »Kremlweihnachtsmann« und »besonders wertvoll« nebeneinander geschrieben locker ein Moped. Na gut, eine E-Gitarre. Mindestens aber eine Eishockeyuniform mit den Autogrammen meiner Lieblingsspieler auf den Ärmeln.
Ich setzte also große Hoffnungen auf den Kremlweihnachtsmann. Drei Stunden mussten tausend Kinder in der Eishalle ausharren, bis alle Schneewittchen und das restliche Pack vorbeigelatscht waren und das Kommando zum Geschenkeverteilen kam. Sofort bildeten sich große Schlangen vor den Geschenkausgabestellen. Nach einer Stunde Schlangestehen verließ ich die Eishalle mit einer zerstampften Tüte Süßigkeiten und einem weißen Hasen mit roten Augen – dem dritten weißen Hasen, den ich in meinem kurzen Leben vom Weihnachtsmann bekommen hatte. Alle tausend Kinder hatten die gleichen Hasen bekommen. Anscheinend hatte der Weihnachtsmann direkt unter dem Lenin-Mausoleum eine riesige unterirdische Fabrik zur Produktion von weißen Hasen angelegt. Mir wurde schlecht bei der Vorstellung, wie viele da unten noch lagen.
Ich war ein intelligentes, etwas verträumtes Kind, das in seiner Phantasie viele mutige Heldentaten vollbrachte, aber in der Realität still und zurückhaltend blieb. Natürlich hatte ich große Lust, den weißen Hasen dem Kremlweihnachtsmann in seinen fetten Kremlweihnachtsarsch zu schieben. Bloß was hätte das gebracht? Der Kremlweihnachtsmann hätte den Hasen mit Sicherheit ein Jahr später wieder herausgezogen und dem nächsten Kind geschenkt. Diese Erfahrung hat mich endgültig davon überzeugt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Er wurde von Erwachsenen erfunden, damit sie den Scheiß, den sie selbst nicht brauchen, leichten Herzens weiterverschenken konnten. Sie werden dafür nie zur Verantwortung gezogen, denn die trägt ganz allein wer? Natürlich der Weihnachtsmann, der Weichensteller der Kinderfeste.
Wir verschenken an andere nur Dinge, die wir auch selbst mögen. Diese guten, wertvollen Geschenke lagern wir unter unserem fertig geschmückten Baum, machen das Licht aus, schließen die Türen und fahren für ein paar Tage weg, frische Luft holen, raus aus der menschenleeren langweiligen Weihnachtsstadt, weg von Enten, Gänsen und Menschen, die ihre Gemütlichkeit trainieren. Am letzten Tag des Jahres kommen wir zurück, stellen die chinesische Artillerie auf die Straße und zeigen unseren Nachbarn die Inszenierung »Die Eroberung Berlins 1945 durch den Einsatz von Katjuschas«. Dauer der Inszenierung: 13,5 Minuten. Reaktionen: bis jetzt fast ausschließlich positiv. Manche vergessen sogar ihre Kinderknaller anzuzünden. Sie wirken einfach zu lächerlich neben der »Eroberung Berlins«.
Danach trinken wir die Alkoholreserven, tanzen, singen bei Kerzenlicht das Lied aus dem alten sowjetischen Spionagethriller »Siebzehn Augenblicke im Frühling«, das jedes Jahr länger wird, und schon steht der 3. Januar auf dem Kalenderblatt. Der Baum steht noch zehn Tage neben dem Buchregal, und das Katzenklo glitzert und blinkt noch lange im elektrischen Licht, weil die Katzen das aufgefressene Lametta wieder auskacken.