Menschenmaße
Die Berliner Hitze trieb alle Menschen in den Park und zog sie aus. Auch wir gingen dorthin, um den anderen bei ihren Freizeitspäßen zuzuschauen. Kleine Jungs liefen auf dem Rasen hintereinander her und schrien. Als wir näher kamen, stellten wir fest: Die Jungs spielten in Wirklichkeit Fußball, nur mit veränderten Regeln. Wenn der Ball einen der Spieler ins Gesicht oder unter die Gürtellinie traf, galt dies als Tor. Zwei Studenten spielten daneben Badminton. Sie schwangen ihre Schläger so hart durch die Luft, als ob sie einander mit dem Federball erschlagen wollten. Der Federball verlor mit jedem Schlag mächtig Federn und erinnerte auch sonst an ein Küken in Schwierigkeiten. Noch ein paar solche Flüge, dachten wir, und der Federball fängt an zu gackern.
In der Mitte der Wiese bewarfen sich zwei ältere Männer mit einer neuartigen Variante einer Frisbeescheibe. Das heißt, sie taten so, als würden sie diese Flugscheibe einander zuwerfen, in Wirklichkeit aber wollte jeder von beiden eindeutig als Einziger das Spielfeld verlassen, am besten mit dem abgeschlagenen Kopf des Gegners in einer Tüte. Dieses neue fliegende Objekt hatte eine bessere Aerodynamik und war deutlich größer als ein herkömmliches Frisbee. Es flog schneller, leiser und weiter. Eine falsche Bewegung, und der Kopf wäre weg vom Fenster.
Im Schatten des Wasserfalls saßen einige ältere Parkbesucher auf einer Bank und spielten Schach mit einer Schachuhr. Hinter der Bank standen ihre Fans und beobachteten schweigend ihre Spielzüge. Doch auch bei dieser intellektuellen Freizeitbeschäftigung brannte die Luft. Die Spieler hauten jedes Mal mit einer derartigen Gewalt auf die Uhr, dass die Figuren auf dem Schachbrett hochsprangen.
»Männer sind so doof«, meinte meine Tochter. »Ständig wollen sie miteinander konkurrieren. Ich frage mich im Ernst, können Männer Freunde sein?«
Für eine Elfjährige ganz schön clever, dachte ich, sagte aber: »Nein, Liebling, Männer können keine richtigen Freunde sein. Selbst die besten Freunde müssen sich ständig aneinander messen, in allem, was sie haben und tun. Bewusst, unbewusst, unterbewusst. Und auch wenn sie so tun, als wäre ihnen alles scheißegal, messen sie sich trotzdem – in ihrer Gleichgültigkeit. Männer sind so.«
Während meine Tochter die Männer im Park beobachtete, richtete sich mein Blick auf die Frauen. Die weiblichen Parkbesucher wirkten ruhig und entspannt. Sie saßen oder lagen im Gras mit einem Buch oder einem Magazin vor der Nase und mit dem Hintern zur Sonne. Sie wirkten locker, doch in Wirklichkeit maßen auch sie sich aneinander, nicht weniger als die Männer, sogar mehr. Mit ihren Kleidern, ihren Höschen, Sonnenbrillen, ihrem Haar, ihren Beinen, ihren Posen und Mösen, mit allem, was sie hatten, maßen sie sich aneinander und an der Welt. Nur anders als die Männer taten sie es indirekt, ohne einander mit dem Federball zu erschlagen. Sie würdigten einander keines Blickes, trotzdem wussten sie ganz genau, wer auf dieser speziellen Wiese in diesem speziellen Park am schärfsten wirkte.
In unserem Park war es ohne Zweifel die Eisverkäuferin in der Imbissbude neben dem Wasserfall. Jedes Mal, wenn sie sich in ihrem Minirock nach vorne beugte, um die Plastikbecher von den drei Tischen abzuräumen, fiel der Federball ins Gras, der Frisbee-Spieler bekam die Scheibe an den Kopf, und gleich mehrere Rentner entschieden sich für einen verhängnisvollen Zug. Die Verkäuferin wusste von ihrer Wirkung und ging öfter abräumen, als es die Gaststättenordnung vorsah. Nur die ganz jungen präpubertären Fußballer liefen selbstvergessen weiter dem Ball hinterher.
Angesichts dieser Situation kam mir ein Gedicht in den Sinn, das ein alter Freund von mir verfasst hatte. Es ging darin auch um die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb einer Erholungsanlage:
Die Mädels stritten in einer Bar,
Wer hat im Schritt das lockigere Haar.
Schnell wurde klar, das lockigste Haar
Hatte noch immer die Chefin der Bar.
Viele Jahre sind seitdem vergangen, die Bar ist längst planiert und die Mädels wahrscheinlich Omas geworden. Die Problematik ist aber im Großen und Ganzen auch heute noch aktuell, wenn auch in ihr Gegenteil gekippt. Heute sind die Glattrasierten am schicksten, ist der- und vor allem diejenige am schicksten, die sich am saubersten die Scham rasiert hat und auch sonst überall glatt rasiert ist.
Einladungen
Als Figur des öffentlichen Lebens werde ich oft und überallhin eingeladen. Es bedurfte eines zweiten Briefkastens in unserem Treppenhaus, um alle Einladungen entgegenzunehmen, die an unsere Adresse gesendet werden. Die Nachbarn schauen mich schräg an, wenn ich meine Post nach oben trage. Sie halten mich für einen Spaßvogel. Doch was soll man in dieser Stadt noch tun, außer ausgehen? Berlin ist kein Ort der Produktion, sondern der Präsentation. Es präsentiert in erster Linie sich selbst, dann die deutsche Wiedervereinigung, die Rolle Deutschlands in der EU, die wachsende Kraft der hiesigen Wirtschaft und die kreative »Berliner Kunstszene«, in der sich Ost und West gegenseitig grüßen. Diese einst von der Außenwelt abgeschnittene, beinahe geschlossene Stadt wurde nicht umsonst zum Maskottchen des neuen weltoffenen Deutschlands gewählt. Und eine Menge Leute müssen sich hier seit Jahren ihres Jobs wegen ausschließlich von Cocktails und Häppchen ernähren. Als Berliner Repräsentanten haben sie für ein anständiges Essen keine Zeit, sie springen die ganze Zeit von Party zu Party, von Empfang zu Empfang.
Zu den Berliner Partys werden natürlich keine echten Berliner eingeladen, die sind nicht glamourös genug und oft sogar ziemlich hinterwäldlerisch. Die echten Berliner können nicht fein in die Kameras lächeln, viele Männer tragen Ringe in der Nase, die Frauen haben ein Arschgeweih und stellen es auch noch öffentlich zur Schau. Die echten Berliner trifft man nicht auf den Cocktailpartys am Potsdamer Platz, sie stehen lieber irgendwo unter der U-Bahn-Brücke mit einer Currywurst hinter der Backe.
Zu den schicken Empfängen wird die sogenannte Prominenz eingeladen. Das sind Profis, in erster Linie Schauspieler und Politiker, die für öffentliches Feiern geschult sind. Wie man diese Leute zu jedem Anlass zusammenbringt, ist mir bis heute ein Rätsel. Es existiert anscheinend irgendwo in der Stadt eine geheime Liste, auf der alle Promis mit Namen und Adressen geführt werden. Egal, ob der Bürgermeister eine Party schmeißt oder ein Botschafter, ein Wirtschaftsboss oder die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe zu einem Golfturnier einlädt, es sind fast immer die gleichen Gesichter, die dort auftauchen: lokale Politiker, Journalisten, Nachrichtensprecher und TV-Seriendarsteller, die hier eine Art kleines, schmuddeliges, deutsches Hollywood gebildet haben und fleißig die Schlagzeilen für die Klatschpresse und Frischfleisch für die Talkshows liefern.
Na gut, ich weiß, dass ich mit meiner Schilderung des Berliner Nachtlebens etwas übertreibe. Natürlich ist das Partyvolk in der Stadt nicht ganz so einfältig. Wenn zum Beispiel die russische Botschaft ihren Ball zum Tag der Unabhängigkeit übt, kommen dort mehr Russen zusammen, als dem Botschafter lieb ist. Er will verständlicherweise die einheimischen Deutschen, am besten Politiker, begrüßen. Diese haben jedoch Russenangst, und so kommen fast nur Landsleute zum Feiern in die Botschaft. Dabei ragen die Angehörigen zweier Berufsgruppen besonders heraus: die vom Ballett und die von der Armee. Beide Berufsgruppen stechen vor allem wegen ihrer hervorragenden Körperhaltung ins Auge. Sie halten ihren Rücken steil gerade und gehen mit hochgerecktem Kinn durch den Saal. Die Angehörigen der russischen Armee fallen natürlich zusätzlich durch ihre bunten Paradeuniformen auf, während die Balletttänzer bevorzugt in Zivil erscheinen.
Wenn der Berliner Bürgermeister eine Party schmeißt, dürfen dagegen ein paar trashige Transen nicht fehlen, genauso wenig wie andere sexuelle Minderheiten, die das politische Pferdchen des Bürgermeisters sind. Und wenn ein Filmverleih zu der deutschen Premiere eines amerikanischen Zeichentrickfilms einlädt, kommen statt Kindern ganz viele erwachsene Computerspezialisten zum Kino am Potsdamer Platz.
Wir werden allerdings überallhin eingeladen, ob ins Außenministerium, zum Chirurgenkongress oder zur feierlichen Eröffnung der Grünen Woche. Meine Frau sortiert die Einladungen in zwei Stapel nach »wichtig« und »unwichtig«. Zu »wichtig« gehören solche Einladungen, auf denen unten steht, ein Abendkleid sei die angebrachte Erscheinungsform. Die Männer sind in solchen Fällen zum Frack verpflichtet. In der Garderobe meiner Frau haben sich im Laufe der Jahre etliche schicke Abendkleider angesammelt, die seit Langem getragen werden wollen. Sie wurden von den besten Designern der Welt nicht dafür kreiert, in der dunklen Kammer neben dem Schlafzimmer zu hängen. Die Kleider müssen an die Öffentlichkeit.
Doch seit unserer Hochzeit vor dreizehn Jahren hatte meine Frau kaum einen Anlass, ihre Abendkleider zu tragen. Außer der obligatorischen Geburtstagsfeier, die wir traditionell als Grillparty zelebrieren, der Einschulung der Kinder und einer gelungenen Blinddarm-Entfernung gab es keine besonders wichtigen Tage in unserem nicht besonders glamourösen Leben. Der Alltag meiner Frau, der zwischen unserem Schrebergarten, der Kaufhalle Real im Gesundbrunnenzentrum, dem Einkaufszentrum Schönhauser Allee Arcaden und der Russendisko im Kaffee Burger abläuft, bietet keine Gelegenheit, schicke Abendkleider zu tragen.
Im Schrebergarten reckt man sowieso die ganze Zeit in den Beeten den Hintern der Sonne entgegen, da geht ein Abendkleid schnell kaputt. Noch schneller würde es im Getümmel der Russendisko kaputtgehen, wo meine Frau bereits seit der allerersten Veranstaltung an der Kasse sitzt. Im Burger verwandelt sich außerdem grundsätzlich jedes Kleid schnell in ein Nikotinpflaster, wegen der Besonderheiten der dortigen Luftanlage. In der Kaufhalle Real in einem Abendkleid zwischen den Regalen spazieren zu gehen, wäre zwar theoretisch möglich, macht aber wenig Sinn. Deswegen freut sich meine Frau über manche Einladungen wie verrückt. Besonders haben es ihr die sogenannten Cocktailpartys im KaDeWe angetan.
Dieses Kaufhaus hatte eigentlich schon immer, seit seiner Eröffnung vor hundert Jahren, bei den Russen einen besonderen Status. Ob Kommunisten auf einer Propaganda-Reise, Weißgardisten auf der Flucht, Künstler im Exil, Dichter, Denker, Spione oder Kosakenchöre – sie alle waren schon einmal in der Tauentzienstrasse einkaufen und haben ihren Konsum in mittlerweile unzähligen Memoiren und Tagebüchern verewigt. Besonders beliebt waren bei den Russen zwei Etagen: die Frauenunterwäsche- und die Lebensmittelabteilung. Auch der Pfeifenladen im Erdgeschoss wird oft in Memoiren erwähnt. Nicht einmal eine Zeile waren dagegen die Sportwarenabteilung oder die Buchhandlung im KaDeWe in den Erinnerungen wert, und ich sehe einen tieferen Sinn darin. So stellen sich damals wie heute die Russen das süße Leben im Kapitalismus vor: als ewiges Pendeln zwischen der Frauenunterwäsche und der Lebensmittelabteilung, mit einer Pfeife zwischendurch. Und sie haben gar nicht mal so Unrecht.
Traditionell ist meine Frau also besonders auf die Partys gespannt, die im KaDeWe stattfinden. Dort geht es nicht so volkstümlich zu wie im Roten Rathaus und nicht so exklusiv wie im Hotel Adlon. Im KaDeWe wird nur zu ganz besonderen Anlässen gefeiert. Wenn zum Beispiel ein neuer Jahrgang einer seltenen Champagnermarke auf den Markt kommt oder eine schweineteure Uhrenmarke ihr hundertfünfzigstes Jubiläum feiert, dann wird das Erdgeschoss in Schwarz dekoriert und bunte, mit Gold beschriftete Einladungskarten werden rausgeschickt.
Auch meine Frau und ich stehen in der Prominentenkartei. Auch wir könnten uns, wenn wir wollten, nur von Partys ernähren, die Kinder für immer zu meiner Oma in den Kaukasus schicken, die Katzen ins Tierheim nach Falkenberg, die Wohnung in eine Lagerhalle für Fracks und Abendkleider umwandeln und selber Abend für Abend von Party zur Party schlendern, Zigarren qualmen und Champagner schlürfen.
Aber wir gehen so gut wie nie aus. Das Problem bin ich. Ich langweile mich fürchterlich auf diesen Partys. Ich kenne die Fernsehseriendarsteller nicht, dauernd zu grinsen liegt mir auch nicht, und vom Champagner bekomme ich Bauchschmerzen. Lieber gehe ich mit ein paar Freunden angeln, als dass ich mich zum Empfang irgendeines Ministers durchringe. Meiner Frau bleibt nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Und deswegen landen alle »wichtigen« sowie »unwichtigen« Einladungen nach dem Aussortieren im Müll. Nur bei der russischen Botschaft schauen wir einmal im Jahr vorbei, weil sie da tolle eingelegte Gurken servieren. Ich habe den Botschafter schon mehrmals auf das Geheimnis der Gurken angesprochen, er wollte es aber nicht preisgeben. Ich glaube, die Gurken werden in Moskau von höchster Stelle persönlich eingelegt. Und einmal im Jahr gehen wir auch ins KaDeWe. Denn ein bisschen Champagner muss auch sein. Den Rest des Jahres bleiben wir aber unter uns.
Manchmal, an einem dunklen Februarnachmittag, zieht meine Frau unvermittelt ein Abendkleid an, schmückt sich, schiebt eine CD mit Opernarien in das Abspielgerät in der Küche und flattert wie ein großer exotischer Vogel durch die Wohnung, begleitet von Katzen, Kindern und Meerschweinchen. Auf diese Weise holt sie sich den fehlenden Glamour.
P.S. Natürlich könnte meine Frau rein theoretisch auch allein oder mit einer Freundin zu diesen Feiern gehen, aber auf diesen Karten steht immer: »Wir laden herzlich ein, Herrn Kaminer mit Begleitung.« Und Begleitung ohne Herrn Kaminer würde gegen die Regeln des Partylebens verstoßen.
Einmal ging meine Frau trotzdem mit einer solchen Einladung allein zu einer Cocktailparty am Potsdamer Platz.
»Sind Sie Herr Kaminer?«, fragte sie ein freundlicher kahler Türsteher mit abgerissenem Ohrläppchen. Hätte sie »Ja« gesagt, wäre sie sicher problemlos reingekommen. Meine Frau sieht klein und süß aus, ist aber im Kern hart wie Stahl. Sie hat schon mal bei der Russendisko einen Dieb mit der bloßen Faust niedergestreckt und betrunkene Punks zusammen mit ihren Eltern rausgeworfen, weil sie sich über Frauen im Allgemeinem abschätzig geäußert hatten. Aber ein Abendkleid kann auch harte Menschen weich machen. Auf die Frage, ob sie Herr Kaminer sei, erwiderte meine Frau: »Nein, aber ich bin die Begleitung.«
Der Türsteher erklärte ihr, es gehe aber nicht, dass die Begleitung in Abwesenheit der begleitenden Person feiern geht. So weit, so doof. Seitdem sitzen wir beide zu Hause.
Der Tag des tschetschenischen Balletts
Im unterentwickelten Sozialismus meiner Jugend hatten wir bloß vier Fernsehprogramme. Zwei davon machten zwischen 12.00 und 18.00 Uhr eine Pause. Sie strahlten nur ein piepsendes Testbild aus, um die Menschen nicht von der Arbeit abzulenken. Das Wetter war zum Spazierengehen oft ungeeignet, daher hielten die Erwachsenen eine sinnvolle Nachmittagsbeschäftigung für ihre Kinder für unabdingbar. Die Jungs wurden zum Sport geschickt: Boxen, Leichtathletik, Eishockey, selten Schach. Die Mädchen gingen zum Ballett, alternativ zur Musikschule. Dies war die Ordnung der Welt, und niemand wagte es, sie anzuzweifeln. Boxende Mädchen und Jungs am Klavier kamen zwar auch immer wieder vor, sie wurden aber als skurrile Ausnahmen, als eine Art Sporttransvestiten, angesehen, die man brauchte, um die Regel zu bestätigen.
Meine Frau, die ihre Kindheit und Jugend auf Sachalin verbrachte, einer Insel, auf der sich die Bewohner die meiste Zeit im Jahr nur durch in den Schnee gegrabene Tunnel bewegen können, erzählte mir einmal, wie die erste Ballettlehrerin auf die Insel kam. Es war Mitte der Siebzigerjahre, die Ölförderung auf Sachalin erreichte Höchstmengen, und der Staat bemühte sich, den dortigen Arbeitern und Geologen das Leben etwas zu versüßen. Im Kulturhaus »Ölarbeiter« wurde ein »Kollektiv des klassischen Tanzes« gegründet, das eine vom Festland delegierte Ballerina leitete.
Die Aufnahme in das Sachaliner »Kollektiv des klassischen Tanzes« fand unter harten Bedingungen statt. Die Sachaliner Eltern standen einen Tag lang vor dem Kulturhaus in der Kälte Schlange, damit ihre Töchter bei der Lehrerin kurz vortanzen durften. Man musste sich ein paar Mal biegen und bücken und zusammen mit der Lehrerin ein paar Bewegungen aus dem »Tanz der kleinen Schwäne« machen. Danach wurde das Kind weggeschickt und mit den Eltern gesprochen.
Meine Frau, damals gerade acht Jahre alt geworden, gab sich Mühe, obwohl sie sich nach fünfstündigem Warten kaum noch bewegen konnte. Die Ballettdame schaute sie genau an, schickte sie raus und sagte zu ihrer Mutter:
»Ihre Tochter hat Fleiß, aber keine natürliche Begabung. Ich kann sie in meine Klasse aufnehmen und es mit ihr versuchen. Das wird ihr aber wehtun. Sind Sie damit einverstanden? Wollen Sie ihrem Kind wehtun?«, fragte die Ballettlehrerin direkt.
»Nein«, sagte Olgas Mutter und brachte ihre Tochter am nächsten Tag in die Klavierklasse der Musikschule. Dort haute Olga fleißig zehn Jahre lang in die Tasten: Mozart, Weber, Tschaikowski, Etüde Parzhaladse. Sie ist keine Klavierspielerin geworden, doch Musik ist ein gutes Lebenselixier, sie tröstet und beruhigt. Wenn einem schwer ums Herz wird, die Welt einem brutal, die Mitmenschen doof vorkommen, setzt man sich ans Klavier, drückt mit beiden Füßen die Pedale und los geht die Etüde von Parzhaladse, mit einem solchen Enthusiasmus, dass sich die technogewohnten Nachbarn aus den Fenstern hängen.
Musik ist Kommunikation, sie gibt einem das Gefühl, gehört zu werden, nicht allein auf der Welt zu sein. Deswegen war ich dafür, unsere Tochter in die Musikschule zu schicken. Meine Frau wollte aber, dass sie Ballett lernte. Die Erinnerung an ihr Sachaliner Scheitern ließ ihr anscheinend keine Ruhe. Und so landete meine Tochter im Ballettunterricht unserer Landsfrau Ballerina Katjuscha. Trotz ihrer kräftigen Statur und runden Formen überzeugte Katjuscha als Lehrerin: Sie konnte sich mit dem Fuß locker hinter den Ohren kratzen und schaute während der Tanzstunde nie auf die Uhr. Sie war aus Kiew nach Berlin gekommen und, soweit ich das beurteilen kann, schon immer eine Ballerina gewesen. Auf Jugendphotos sah man Katjuscha im Hinterhof eines Bauernhauses, wo sie in einem Ballerinakleidchen das Bein hoch über den Zaun legt. Ein großer Schäferhund und eine Ziege schauen ihr dabei begeistert zu.
Früher in Russland brauchte eine Ballerina Jahre, um auf die Bühne zu gelangen und in der Öffentlichkeit zu tanzen. In Berlin geht es ruckzuck. Nach einem Monat war bereits der erste öffentliche Auftritt in einem Jugendzentrum geplant, zum Tag des tschetschenischen Balletts, wie uns Katjuscha mitteilte. Wir haben gelacht. Unter einem tschetschenischen Ballet konnten wir uns nur Lustiges vorstellen. Männer mit rasierten Beinen und Kalaschnikows vor dem Bauch und Frauen in Ganzkörperetuis. In Wirklichkeit ging es um die Völkerverständigung. Das Jugendzentrum unseres Bezirks hatte ein Tanzkollektiv tschetschenischer Jugendlicher und unseren Ballettkreis eingeladen, erklärte mir Katjuscha. Sie würden ein gemeinsames Programm zum Besten geben – Säbeltanz und Contredance, um des Weltfriedens willen.
Meine Tochter hatte beim Contredance eigentlich nur zwei kurze Auftritte, am Anfang und am Ende. Sie musste einem anderen Mädchen, das als Junge verkleidet war, die Hand geben, sich einmal um die eigene Achse drehen, nicken und lächelnd die Bühne verlassen. Trotzdem war sie sehr aufgeregt und konnte in der Nacht vor der Vorstellung nicht schlafen. Am Morgen war sie plötzlich mit ihrem Kleid unzufrieden, meckerte herum, hatte Lampenfieber und wollte nicht aus dem Haus gehen. Wir kamen zu spät. Das Jugendzentrum platzte bereits aus allen Nähten. Alle Sitz- und Stehplätze waren doppelt besetzt, und es gab auch keine richtige Bühne, sondern nur einen freien Fleck Boden, um den herum sich die Eltern gruppierten. Mütter, Väter, Tanten, Omas und Opas belegten jedes Fensterbrett und alle Heizungsrippen. Mit roten Gesichtern und vom ständigen Applaudieren angeschwollenen Händen schmolzen sie langsam vor Rührung und Überhitzung.
Der tschetschenische Teil war gerade zu Ende, als wir kamen. Es hatte sich dabei, so erzählten uns einige Eltern, um einen volkstümlichen Tanz gehandelt, den man bei Hochzeiten in den Bergen aufführt. Ein junger Mann musste, um die Gunst seiner Braut zu gewinnen, in der Luft mit Dolchen jonglieren, während seine Freunde ihn daran zu hindern versuchten. Die Frauen standen derweil im Kreis herum und klatschten rhythmisch in die Hände. Es war bestimmt toll gewesen, auch wenn wir den Tanz leider verpasst hatten. Nun wurde das letzte Blut aufgewischt und der Contredance angekündigt.
Die Kinder zogen ihre Kostüme an, teilten sich in Paare, und der Mann von Katjuscha bediente den Kassettenrekorder. Die Eltern ließen ihre Kinder auf die Tanzfläche und schlossen ihre Reihen wieder. Meine Tochter kam, nahm die Hand ihrer Partnerin, drehte sich zwei Mal um die eigene Achse und schaute sich panisch um: Alle Rückzugswege waren von den Zuschauern abgeschnitten. Also gaben sich die Mädchen erneut die Hände und drehten sich und drehten sich und drehten sich, bis die Musik ausging. Der Applaus donnerte auf die Kinder nieder wie eine Lawine. Ein Vater sprang mir mit voller Kraft auf den Fuß, und eine Tante fiel vor lauter Aufregung in Ohnmacht. Die Eltern fielen über ihren Nachwuchs her, und nur mit Glück gelang es uns halbwegs lebendig aus dem Saal zu kommen. Seitdem macht ein neuer Spruch in der Familie die Runde. Wenn jemand stark übertreibt und eine grenzenlose Begeisterung an den Tag legt, ganz egal aus welchem Anlass, heißt es, »Hör mir auf mit dem tschetschenischen Ballett«.