Ehrliche Kinderaugen
Draußen im Hinterhaus ging plötzlich das Licht auf dem Balkon im dritten Stock an. Das kleine Kind stand auf dem beleuchteten Balkon und warf kleine Papierstückchen nach unten. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn es nicht gerade zwei Uhr nachts gewesen wäre. Der selbstsichere Junge schien keine Angst vor der Dunkelheit zu haben, er trieb sein Nachtspiel, während seine Eltern wahrscheinlich schliefen. Ich machte ihn auf mich aufmerksam und zeigte ihm die Faust. Er lächelte nur milde. Ein aufgeklärtes, durch nichts zu erschreckendes Kind mit zugekniffenen Augen und einer klaren Haltung, die man selbst in der Erwachsenenwelt nur selten findet. Diese Haltung sagte: »Du kannst mich mal«. Ich gab auf, vor allem wegen dieses Blicks. Als Papa mit zwölfjähriger Erfahrung habe ich inzwischen gelernt, zwei Arten von Kinderaugen zu unterscheiden. Die Kinder, denen viel erlaubt wird, schauen anders auf die Welt als ihre Altersgenossen, die unter der schweren Last der Erziehungsmaßnahmen ihrer Eltern leben müssen. Die aufgeklärten Kinder, die spät ins Bett gehen, im Kühlschrank wühlen und Men in Black schon mit sechs sehen dürfen, kneifen die Augen gerne zu. Die pädagogisch präparierten Kinder gucken dagegen mit großen runden Augen auf die Welt. Wenn sie etwas Unerlaubtes sehen, werden ihre Augen noch größer. Ich habe schon Kinder gesehen mit Augen wie eine Single-Schallplatte. Das passiert, weil einem das Unerlaubte von überallher ins Auge sticht und die Vielfalt der Welt sich nie mit einer pädagogischen Maßnahme bändigen lässt.
Einmal zeigte mein Sohn seinem Freund aus dem Kindergarten, der bei uns zu Besuch war, eine kurze Sequenz aus seinem damals von ihm heiß geliebten chinesischen Film – eine märchenhafte Geschichte über eine romantische Liebesbeziehung zwischen einer blinden Hexe und einem Zombie. Die Augen unseres Kindergartenfreundes, die auch ohne Film schon sehr groß waren, leuchteten danach wie zwei Billardkugeln im Scheinwerferlicht. Am nächsten Tag rief uns seine Mutter an. Sie erzählte, der Junge habe nach dem Besuch schlimme Albträume gehabt und die Augen überhaupt nicht mehr schließen können. Die Mutter wollte wissen, was bei uns los gewesen wäre.
»Keine Bange«, erklärte ich ihr, »es war bloß der Film.«
Nun darf das Kind mit unseren Kindern keine Filme mehr gucken, denn alles, was anders als Bambi aussieht, regt ihn zu sehr auf. Dabei haben wir oft auch andere Kinder zu Besuch – solche, die bei sich zu Hause im Bad Cello spielen, die sich selbst aus Waschlappen Kleider schneidern und Tapeten mit Buntstiften bemalen: die sogenannten schlitzäugigen Kinder, die Bambi für blöd halten und über Men in Black nur lachen. Ich sehe gerade für solche Kinder eine große Zukunft. Wenn sie größer sind, werden sie durch nichts mehr zu erschüttern sein, sie werden tapfer allen Ungereimtheiten der Welt entgegentreten, sich von Hexen und Zauberern nicht erschrecken lassen und alle Bambis abknallen. Sollten sie sich jemals von Gespenstern, bösen Geistern und blutrünstigen Monstern umgeben sehen, kneifen sie nur kurz die Augen zusammen, und sofort wird sich alles Dunkle der Welt vor diesem Blick fürchten und flüchten – in die Schlafzimmer der guten Kinder, die große runde Augen haben.