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Windelfrei

Jede Großstadt hat mindestens einen Bezirk, in dem die Geburtenrate ständig steigt, während sich die Bewohner in den umliegenden Bezirken der Fortpflanzung verweigern. In meinem Bezirk gibt es sehr viele Babys. Sie krabbeln und laufen manchmal auch ohne Windeln herum, denn viele von ihnen werden modern »windelfrei« erzogen. Deswegen machen diese Babys oft in die Hosen, was ihr Leben meiner Meinung nach später erschweren wird. Im Kindesalter wird der Mensch nämlich am stärksten geprägt, und wer als Baby ständig in die Hose macht, wird das auch im Alter tun.

Den Anstieg der Geburtenrate hat unser Bezirk zwei Tibet-Geschäften zu verdanken, die fast gleichzeitig nebeneinander aufgemacht haben. Diese Läden verkaufen schöne bunte orientalische Tücher: Kopftücher, Schultertücher, vor allem aber Babytücher, die schnell in Mode geraten sind. Die Kombination aus einem Babytuch, einer Dreiviertelhose und einem dicken Rock darüber bildet den berühmten Frauen-Dreiteiler, der zum Kern der Berliner Frauenmode gehört. Nur ein Haken ist dabei: Ein Babytuch ohne Baby sieht aus wie ein Segel ohne Wind. Deswegen kamen in kürzester Zeit eine Menge Kinder in unserem Bezirk auf die Welt, die farblich und von ihrer Größe her gut zu den Tüchern passten. Gleich nach ihrer Geburt wurden sie in Tücher eingewickelt und schaukelten auf ihren Müttern hin und her, während die Fahrrad fuhren. Fahrrad und Baby im Tuch galt als besonders schick. Aber durch das ständige Schaukeln und Kopfstoßen entwickeln diese Fahrradbabys, kaum dass sie angefangen haben, selbstständig zu laufen, eine seltsame Gangart, die mich an Seeleute erinnert, wenn sie nach langer Fahrt zum ersten Mal wieder auf festem Boden stehen.

Gefüttert werden diese Seebabys hauptsächlich in Kneipen. Dafür sucht die Mutter meist die Kneipe aus, die gerade am vollsten ist. Dort setzt sie sich an einen möglichst zentralen Tisch, holt ihre Brust heraus und steckt sie dem Baby in den Mund. Das macht sie nicht aus Spaß. Das öffentliche Stillen soll die Kinder zu kommunikativen Wesen machen. Wenn es windelfreie Kinder sind, so machen sie gleich im Anschluss an die Fütterung in die Hose.

Die Mode mit den windelfreien Kindern kommt aus einem Buch, dass eine durchgeknallte Kanadierin geschrieben hat. Das Buch mit dem Titel Windelfrei will beweisen, dass Windeln ein Ausdruck des Totalitarismus sind. Ich bin im Totalitarismus aufgewachsen und kann diese These nur bestätigen. Man hat uns damals sogar sehr eng – ganzkörperlich sozusagen – eingewickelt. Manche Kinder blieben bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr so eingewickelt. Sie lagen wie die Mumien in ihren Bettchen und konnten sich kaum bewegen. Man versprach sich davon eine stolze Körperhaltung und eine ruhige disziplinierte Kindheit. Außerdem galt das Einwickeln als Vorbeugungsmaßname gegen Onanie. Gebracht hat es nur eine lebenslange Angst vor engen Hemden und einen Hass auf Krawatten.

Die windelfreie Kindheit von heute funktioniert so: Um sieben Uhr früh und um sieben Uhr abends wird das Baby auf den Topf gesetzt. Ab der zweiten Lebenswoche weiß es Bescheid, was zu tun ist. Die Methode aus dem Buch funktioniert eigentlich ganz gut, erklärten mir schon mehrere Mütter. Nur wenn Besuch kommt oder das Telefon klingelt, ist das Baby durcheinander und macht zur falschen Zeit. Oft stelle ich mir vor, was passiert, wenn dieses Kind zufällig Schriftsteller wird. Es wird ein Buch schreiben mit dem Titel Nackte Kindheit, basierend auf seinen eigenen Erfahrungen. Es wird darin über skrupellose Techniken berichten, mit denen seine Eltern es damals zu widernatürlichen Handlungen gezwungen haben. Es wird mit diesem Buch auf Tour gehen, überall Vorlesungen halten und jedes Mal, wenn im Publikum ein Handy klingelt, wird es in die Hose machen. Denn nichts prägt uns stärker als die Kindheit.