65.
Es dauerte nicht mal eine Stunde, bis sich Leas Freund mit Neuigkeiten zurückmeldete. Im Morgue, in der Leichenhalle im Zentrum, waren drei Tote eingeliefert worden, auf die die Beschreibung von Juri passte. Alle drei hatte man ohne Ausweispapiere auf der Straße gefunden und dort abgeliefert.
Sam konnte es nicht fassen, dass das Schicksal ihm so übel mitspielen wollte. Lea kannte Juri nicht, sie würde ihm nichts nützen und er selbst war zu schwach und konnte obendrein nichts sehen. Also blieb diese undankbare Aufgabe Brenner und Estelle überlassen.
„Ich habe einen gut bei Ihnen, O’ Connor. Juri sollte nicht hier sein. Ich hatte ihm ausdrücklich verboten …“
„Ich komme mit“, unterbrach Sam seinen Vorgesetzten und schwang unbeholfen seine Füße aus dem Bett. „Machen Sie mich von den Kabeln hier los, Lea.“
„Ich …“
„Wollen Sie mir noch mehr Ärger machen? Sie bleiben hier in Ihrem Bett und rühren sich ja nicht vom Fleck“, sagte Brenner aufgebracht.
„Ich bin es Juri schuldig.“
„Sie bleiben!“
„Ich kündige.“
Einen Moment war Stille im Raum. Die beiden Frauen sahen von einem zum anderen. Die Stimmung war innerhalb von Sekunden auf den Nullpunkt angelangt. Schließlich zog sich Sam die Kanüle selbst aus der Vene und tastete sich am Bett entlang.
„Das habe ich vor einiger Zeit schon mal gehört. Ach nein, da hieß es, ich nehme unbezahlten Urlaub. Und was ist daraus geworden?“, brüllte Brenner.
„Ich möchte trotzdem mit“, sagte Sam starrsinnig und stand nun mitten im Zimmer in seinem Krankenhauskittel.
„Wollen Sie sich durch die Leichenhalle tasten, oder wie stellen Sie sich das vor?“
Estelle griff Sam unter die Arme und stützte ihn.
„Ich will …“ Sam wusste selbst nicht, warum er mitgehen wollte. Es war nur so ein Gefühl. „Ich will einfach nur dabei sein, falls …“
„Sie sind ein verdammter Sturkopf, O’ Connor. Ziehen Sie sich wenigstens was über Ihren nackten Hintern.“
Unten vor der Klinik wartete Juan Carlos auf die drei Deutschen. Die Fahrt ging Stop and Go durch den Feierabendverkehr und die ganze Zeit lief im Radio eine Sendung, die sich „Stimme des Himmels“ nannte. Gott ist immer für dich da. Du musst nur fest an etwas glauben, dann wird es in seinem Willen geschehen. Gib Gott die Chance, dir zu zeigen, dass er für dich da ist.
Das war der Moment, als Sam im Stillen anfing, mit Gott zu reden. Okay, du hast mir in den letzten Jahren so ungefähr alles genommen, was mir lieb und teuer war. Deshalb bin ich auch verdammt wütend auf dich. Ich bitte dich dieses Mal, dich gnädig zu zeigen. Lass es dem Jungen gut gehen. Bitte. Irgendwie kam er sich albern vor, auf der anderen Seite war es sein innerster Wunsch und den zu äußern fand er mehr als menschlich. Egal wem gegenüber. Als Kind hatte er abends immer gebetet, aber er konnte sich an kein einziges Gebet von damals mehr erinnern.
Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, bis der Wagen endlich stoppte und der Motor ausging.
„Was soll das denn hier sein?“, hörte er Brenner sagen.
„Die öffentliche Leichenhalle“, antwortete Juan Carlos.
Brenner brummte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.
„Würden Sie mir erklären, was Sie sehen?“
„Sieht aus wie eine … na ja, wie eine Art Werkstatthalle“, sagte Estelle und half Sam aus dem Wagen, während Juan Carlos Brenners Rollstuhl ausklappte und ihn reinsetzte.
Ein kleiner dicklicher Mann erschien an der blauen Stahltür und verlangte nach ihren Ausweisen. Nach sorgfältiger Durchsicht reichte er ihnen ein paar Besucherausweise und ließ sie eintreten. Es war merklich kühler hier drin als draußen und Sam fing an zu frieren.
„Was sehen Sie jetzt, Estelle?“
„Ich sehe vor uns eine Anlage wie in einer Reinigung, wo man durch einen Knopfdruck die Kleider an einer Schiene in Bewegung setzt, bis die richtige Nummer an einem vorbeikommt.“
Sam versuchte, sich dieses bizarre Bild einer Leichenhalle auszumalen. Er hatte zwar schon Morgues gesehen, die ganz und gar nicht den deutschen Vorschriften entsprachen, aber das hier war dann doch außerhalb seiner Vorstellungskraft.
„Die Leichen hängen in so Kleidersäcken an einem Haken“, erklärte Brenner weiter, „wie Schweine nach der Schlachtung.“
Ein Angestellter kam auf sie zu und gab Brenner ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie schienen durch eine weitere Tür zu treten, denn plötzlich wurde es noch kälter. Sam fröstelte inzwischen. Das Geräusch von Generatoren drang an sein Ohr.
Estelle hielt Sams Arm fest und führte ihn neben sich her. Trotz der Kälte, die irgendwie eine Frische vermittelte, roch es hier nach Blut, menschlichen Exkrementen und Tod. Säuerlich, verfault und süßlich.
Ein neues Geräusch kam hinzu. Etwas setzte sich schwerfällig in Bewegung. Wahrscheinlich das Leichenkarussell, dachte Sam und hoffte, dass er nicht allzu dicht an irgendwelchen toten Menschen stand. Die Anlage stoppte, ein Reißverschluss wurde geöffnet.
„No. No es. Bleiben nur noch zwei kleine Negerlein“, hörte Sam Brenner sagen und erinnerte sich an den alten Kinderreim, in dem von zehn kleinen Negerlein am Ende keiner mehr übrig war.
„Seien Sie froh, dass Sie das hier nicht ansehen müssen, O’ Connor. Das würden Sie Ihr Lebtag nicht vergessen.“
„Machen Sie ein paar Fotos für mich. Damit ich später weiß, dass meine Fantasie nicht mit mir durchgegangen ist.“
Nachdem jemand die Anlage ein zweites Mal in Betrieb setzte und stoppte, hörte er jemanden sagen: „Cientouno. Un mono joven.“
Einhunderteins. Blond und jung. Würde er Juri als jung bezeichnen, fragte sich Sam. Das stand immer in der Relation, wer die Frage stellte. Er selbst würde ihn schon als jung bezeichnen. Ein Zwanzigjähriger nicht. Sam versuchte an etwas anderes zu denken. Neben ihm atmete Estelle laut aus. Zu laut, dachte Sam und sein Herz schien für einen Moment stillzustehen.
„Mein Gott …“, hörte er sie sagen. „Ich dachte erst … der Kopf, die Haare … Es tut mir leid, wenn ich Ihnen einen Schrecken eingejagt habe“, entschuldigte sie sich.
„Da war es nur noch einer“, sagte Brenner.
Die nächste Leiche im Sack war ein dunkelhaariger junger Mann und hatte ebenfalls keine Ähnlichkeit mit Juri. Im Stillen dankte Sam Gott im Himmel. Er wollte daran glauben, dass sein Gebet erhört worden war.
Sie waren gerade wieder auf den Weg in die Klinik, als Nelly anrief. Man hatte Juri anscheinend gefunden, zumindest entsprachen alle Angaben seinem äußeren Erscheinungsbild, bis auf eine kleine Tatsache.
Verwahrloste Obdachlose, halb nackte Verrückte, Verstümmelte ohne Beine, die sich auf Skateboardbrettern fortbewegten oder Drogenabhängige, die auf einem Trip waren, waren nichts Ungewöhnliches in Medellin. Aber dass ein nackter blonder Ausländer vor den Augen aller sich ein riesengroßes Stück Fleisch vom Haken einer Fleischerei klaute und es wie ein wilder Kannibale genüsslich auf der Straße vertilgte, ließ den Besitzer sofort die Polizei rufen, zumal man von so einem eine Entschädigung erwarten konnte. Als die Polizei Juri jedoch in einen Polizeiwagen verfrachten wollte, schlug er erst einmal einen Beamten nieder und rannte weg, woraufhin eine Jagd nach ihm durch die Innenstadt mit drei Motorrädern und vier Beamten zu Fuß folgte.
Juan Carlos erklärte Sam, dass die Droge starke Halluzinationen hervorrufen konnte und Juri kein Einzelfall war. Man konnte von Glück reden, dass er überhaupt gefunden worden war, denn so mancher Ausländer war nach einem solchen Trip nie wieder aufgetaucht.