62.
Gegen Abend fuhr Sam noch einmal in die Clinica Medellín zu Lea. Weil sie gerade schlief, ging er ein paar Türen weiter und sah durch die Scheibe in Thiels Zimmer. Er hatte gerade Besuch, weshalb Sam runter in die Cafetería ging, um sich einen Tinto zu holen. Der schwarze Kaffee wurde in kleinen Pappbechern ausgeschenkt und von den Einheimischen meist mit viel Zucker getrunken. Sam hatte sich inzwischen an die dünne Plörre, wie er den kolumbianischen Kaffee nannte, gewöhnt und hatte sogar Geschmack daran gefunden. Man gewöhnte sich eben an alles.
Während er aus dem Fahrstuhl im zweiten Stock trat und den Flur entlangschlenderte, kam der Besucher gerade aus Thiels Zimmer. Er hatte eine Schirmmütze auf und ging mit gesenkten Kopf auf Sam zu. Als der junge Mann auf gleicher Höhe mit ihm war, hob er den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Stechend blaue Augen registrierte Sam und drehte sich nach ihm um, dabei wurde er fast von einem Arzt und zwei Schwestern umgerannt, die in Thiels Zimmer eilten. Sam versuchte den jungen Mann in der Menge zwischen den anderen Besuchern auf der Treppe auszumachen, aber er war verschwunden, und als er sich zu Heinrich Thiels Zimmer umdrehte, das jetzt offen stand, konnte er sehen, dass der alte Mann tot in seinem Bett lag.
In Heinrich Thiels Herz steckte noch eine Spritze und auf seinem Nachtisch hatte der Besucher einen kleinen Zettel hinterlegt auf dem stand
Das Feuer es reinigt ohn Ansehen der Macht
Und Ruhe und Frieden kommt nun mit der Nacht.
Sam hatte kaum die Zeilen gelesen, als ihm ein erschreckender Gedanke durch den Kopf schoss und sein Herzschlag für einen Moment aussetzte. Er legte einen Spurt über den Flur ein und stürmte in Leas Zimmer.
Sie lag in der gleichen Stellung wie vor einer halben Stunde in ihrem Bett. Sam näherte sich ihr langsam und legte seine Finger an ihre Halsschlagader. Ein regelmäßiger Puls schlug gegen seine Kuppen und ließ ihn erleichtert durchatmen.
Lea war immer nett zu dem kleinen Jungen gewesen, hatte ihre Mutter gesagt. Wahrscheinlich hatte ihr gerade das, das Leben gerettet.
Sam blieb noch eine Stunde an ihrem Bett sitzen und betrachtete Leas feine Gesichtszüge. Ihre Wangen waren wieder rosiger und ihre Lippen nicht mehr so spröde und ausgetrocknet. In ein paar Tagen würde man sie entlassen und dann? Sam holte ein Foto von Lina aus seiner Brusttasche und strich mit dem Finger darüber. Ein Kapitel war beendet, ein neues begann.
Die Fahndung nach Nevio Betancourt, Aleidas siebenundzwanzig Jahre alten Ziehneffen, war im vollen Gange, ein Grund für Sam und Juri den baldigen, hoffentlich erfolgreichen Abschluss ihrer Reise zu feiern. Es war Wochenende und im Parque LLerras war der Teufel los. In den kleinen Straßen reihten sich ein Restaurant und eine Bar an die andere. Überall saßen Menschen auf Bordsteinen und Mauern um den kleinen Park in der Mitte herum und feierten ausgelassen.
Sam hatte noch nie so viele hübsche Frauen auf einen Haufen gesehen und Juri gingen die Augen über. Schließlich entschieden sie sich für eine Bar mit einer großen Veranda, von der man einen Blick auf den ganzen Park genoss. Er bestellte sich einen Whiskey auf Eis und Juri einen Rum. Seit Langem hatte er nicht mehr das Gefühl der inneren Zufriedenheit und des Friedens in sich gespürt. „Du siehst aus wie eine Katze auf Mäusejagd“, kommentierte Sam den unruhigen Blick von Juri.
„Du musst zugeben, das ist ein Schlaraffenland für jeden Single. Oh Mann, ich flipp echt aus. Schau mal die da drüben … “ Juri zeigte auf eine schlanke junge Frau, die ihre Haare offen bis über die Hüfte trug. „Ich geb’s ja ungern zu, aber am liebsten hätte ich sie alle.“
„Ich glaube, du brauchst ernsthaft eine Therapie, Kleiner.“ Sam schmunzelte und verschwand auf die Toilette. Als er zurückkam, war Juri weg. Er entdeckte ihn mit zwei Mädchen auf der anderen Straßenseite, gestikulierend und irgendwelche Faxen machend. Sam setzte sich wieder auf seinen Platz, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und ließ den Whiskey langsam und genüsslich die Kehle runterlaufen.
Wenn sie Nevio endlich fassten, war der Fall erledigt und er ein freier Mann. Frei! Das Wort Freiheit würde plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Schule, Studium, Beruf, er war immer an irgendetwas gebunden gewesen. Er würde eine Weltreise machen und auf dem Fleckchen Erde, wo er sich am wohlsten fühlte, wollte er sich niederlassen. Für eine Weile.
Sein Blick schweifte über den Park, in dem Künstler ihre bunten Bilder zwischen den Bäumen ausgestellt hatten und auf ausländische Kunden warteten, als plötzlich jemand neben ihm sagte: „Entschuldigung Señor, darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen.“
Bevor Sam antworten konnte, saß der junge Mann schon auf Juris Platz und lächelte ihn an. „Darf ich mich vorstellen? Ich glaube ich bin der, nach dem Sie suchen. Nevio Betancourt.“
Sam konnte seine Überraschung nicht verbergen. Er sah sich unauffällig nach Juri um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
„Ihr Partner ist schwer beschäftigt“, sagte Nevio mit einem Grinsen im Gesicht und spielte mit Juris halb vollem Glas.
„Sie sind ja ganz schön mutig.“
„Weil ich mich hier zu Ihnen setze und Ihnen meine Seite der Geschichte erzählen möchte?“
„Ich kenne Ihre Geschichte.“
„Ach ja?“
„Aber tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Haben Sie wirklich geglaubt, Sie kommen hierher nach Medellin und können mich einfach so verhaften?“
„Sie haben ein paar Menschen ermordet, und das in meinem Revier.“
„Sie haben nichts gegen mich in der Hand“, sagte Nevio selbstsicher.
Sam sah in die eisblauen Augen seines Gegenübers und wusste mit einem Mal, dass der Kerl, der so frech vor ihm saß, Recht hatte. Es gab keine Spuren und keine Beweise.
Nevio lächelte wieder. Es war das Lächeln eines Überlegenen, eines Gewinners. Er beugte sich zu Sam hinüber und sagte leise: „Ich sag Ihnen was im Vertrauen. Die Gedichte tragen nicht meine Handschrift und es ist nicht mein Blut, mit dem sie geschrieben wurden, aber das wissen Sie ja sicherlich schon. Sie haben keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Zeugen. Und wenn es jemand gäbe, der mich angeblich gesehen hätte …“, er lachte und zeigte ein strahlend weißes Gebiss, „Könnte ich das abstreiten, denn ich bin eigentlich gar nicht in Deutschland gewesen. Als Kolumbianer brauchen Sie die Einverständniserklärung, ein Visum Ihrer Landsleute bei der Botschaft in Bogota, um nach Deutschland zu reisen. Ich habe nie eines beantragt, folglich war ich auch nie in Ihrem Revier.“
Sams Kehle war plötzlich trocken. Er griff zu einem Glas Wasser, das er sich zusammen mit dem Whiskey bestellt hatte, und leerte es halb.
„Sie sind mit einem falschen Pass eingereist. Mit dem Pass von einem jungen Deutschen, der vor zwei Monaten hier erschossen wurde. Wahrscheinlich von Ihnen.“
„Beweisen Sie es“, sagte Nevio gelassen. „Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“
„Sie sind … Rafael Rodriguez’ Sohn und … der Enkel von Heinrich Thiel“, antwortete Sam mit schwerer Zunge. Der Schluck Whiskey setzte ihm ganz schön zu, dachte er und sah auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die die Eiswürfel umschloss. Er schob es darauf, dass er so gut wie nie Alkohol trank.
„Sie sind ganz schön schlau. Respekt“, sagte Nevio bewundernd. „Er hat meine Mutter zur Abtreibung gezwungen, aber nicht damit gerechnet, dass ich am Leben bleiben könnte. Dabei hatte er so viele Experimente mit Föten gemacht, dass er hätte wissen müssen, dass es möglich ist. Aleida hat mich aus der Mülltonne geholt und mir damit das Leben gerettet.“
„Und daran konnten Sie sich noch erinnern?“, fragte Sam sarkastisch und suchte wieder nach Juri auf der Straße, aber der Kerl war nirgendwo zu sehen. Seine Zunge klebte am Gaumen und er fühlte sich plötzlich sehr unwohl.
„Ich habe ein Gespräch zwischen Aleida und meiner Ziehmutter belauscht, und habe so erfahren, wo meine wahren Wurzeln sind. Ich hatte mich eh immer gewundert, warum ich so anders aussah wie der Rest der Familie, in der ich aufwuchs. Von dem Moment an als ich hörte, dass mein Großvater meine Mutter dazu gezwungen hatte, mich abzutreiben, und sie daraufhin nie wieder aufgetaucht ist, habe ich nur noch eins im Sinn gehabt. Rache. Haben Sie Durst?“
Sam hatte tatsächlich das Gefühl zu verdursten. Er sah Nevio skeptisch an, der ihm das Glas Whiskey zuschob.
„Trinken Sie.“
Sam setzte das Glas an und nippte nur. Eine innere Stimme sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Hatte Nevio ihm etwas ins Glas geschüttet?
„Es sollte keine Frau mehr an der Seite meines Vaters leben dürfen und ich wollte der einzige Nachfahre bleiben. Ich hab ihm Zeichen gegeben in einer Sprache, die er versteht und er hat nicht reagiert.“
„Warum haben Sie die unschuldigen Frauen in Deutschland umgebracht? Sie konnten nichts für Ihr persönliches Schicksal.“
„Indirekt schon. Die Vergangenheit zu ignorieren heißt nicht, sie ungeschehen zu machen. Ich wollte Zeichen setzen und dachte, mit der Enkelin von dieser Ärztin und dem Sohn von Dr. Fisher würde man nachhaken, aber weit gefehlt.“
„Dem Sohn von Dr. Fisher? Wo?“
„In London. Ich habe ihm auch eine Injektion ins Herz gejagt … ziemlich unblutig und unspektakulär. Ich musste also erst zu drastischeren Maßnahmen greifen und grob werden. Und siehe da, alle Welt hört mir plötzlich zu. Ein berauschendes Gefühl.“
„Und die Bücher?“, fragte Sam knapp. Ihm war plötzlich total schwindelig. Er musste Wasser trinken, aber sein Griff ging daneben. Nevio half ihm und schob das Glas in seine Hand. Doch Sam fühlte sich inzwischen außerstande, es an den Mund zu heben.
„Ja, die Bücher, der Alte war etwas unachtsam. Er hatte sie hinter dem Heim verbrennen wollen. Fünf Stück konnte ich vor den Flammen retten. Daraufhin habe ich mir die deutsche Sprache zu eigen gemacht. Seien Sie mir dankbar, ich habe Ihnen zwei Schwerverbrecher geliefert.“
Nevio verschwamm vor Sam zu einer wabernden Masse. Er rang um Orientierung und plötzlich wurde ihm klar, in welcher aussichtslosen Situation er sich befand. Sein Herzschlag beschleunigte sich rasant.
„Es tut mir leid, aber ich muss den Vorsprung nutzen. Leben Sie wohl.“ Nevio erhob sich aus seinem Stuhl, klopfte Sam kumpelhaft auf die Schultern und verließ die Bar.
Sam versuchte, jemand um sich herum zu erkennen. Er musste seinem Tischnachbarn erklären, dass er dringend Hilfe brauchte, aber er konnte sich nicht mehr artikulieren, geschweige denn von der Stelle rühren. Es war, als würde ihm jemand von innen die Kehle zudrücken. Er bekam keine Luft mehr. Das war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass die Prophezeiung doch in Erfüllung gehen würde. Sein Tod. Lina hatte am Ende doch Recht behalten. Sam gab es auf zu kämpfen und ließ sich langsam in die Dunkelheit tragen.