4.
BARCELONA Das Arts Hotel in Barcelona war ein modernes Gebäude aus Glas und Stahl und zeichnete sich durch Eleganz, Komfort und zeitgenössisches Design aus. Es lag direkt am Meer und Sam verspürte plötzlich die Sehnsucht nach Sand, Sonne und Salzwasser. Er war trotz der längeren Auszeit urlaubsreif. Ein rauschender Wasserfall am Eingang begrüßte die Gäste des Hotels, bevor sie in die mit einem weißen Kronleuchter und Hunderten von weißen Rosen geschmückte Lobby kamen.
Er hatte sie kaum betreten, als ein uniformierter Beamte der Guardia Civil auf ihn zusteuerte, ihn ungeniert von oben bis unten musterte und schließlich zweifelnd fragte: „Sam O’Connor von …?!“
„Europol, ja.“ Sam strich sich über sein unrasiertes Gesicht und steckte die Hände in die Hosentaschen, die so zerrissen waren, dass seine Fingerspitzen unten herausragten. „Ich bin eine Undercover Version.“
„Folgen Sie mir“, sagte der Spanier unbeirrt und geleitete Sam zu den Fahrstühlen.
Sam beobachtete die roten Digitalziffern, die die Stockwerke im Sekundentakt anzeigten, und fühlte sich, als würde er neben sich stehen. Die letzten drei Stunden waren wie ein zu schnell abgespulter Film an ihm vorbeigerauscht. Der Wagen, der ihn kurz nach dem Telefonat mit Brenner vor der Praxis abgeholt hatte, das Flugzeug, das er ohne seine Rolle Pfefferminzbonbons bestiegen hatte - eine neue Methode, die er für sich gefunden hatte, um die Reiseübelkeit loszuwerden -, die spärlichen Informationen über den Fall, das Landen auf dem zweitgrößten Flughafens Spaniens und die Fahrt durch die belebte Hauptstadt Kataloniens bis zum Eingang des Arts Hotels.
Im vierunddreißigsten Stock angekommen, bahnte er sich einen Weg durch die im Gang stehenden neugierigen Gäste und Ermittlungsbeamten der spanischen Polizei zu dem Zimmer, in dem man bereits auf ihn wartete. Das modern eingerichtete Duplex Apartment hatte eine breite Fensterfront mit Blick auf den beleuchteten Jachthafen „Port Olimpica“, den weitläufigen Strand nach rechts und links und das tiefschwarze Meer, auf dem nur ein paar winzige Lichter von Schiffen in der Ferne auszumachen waren. Er trat zwei Schritte vom Fenster weg. Das Meer verschwand, als hätte man eine andere Kulisse davorgeschoben. Er sah jetzt sich und den spanischen Beamten, der ihn nach oben geleitet hatte und nun an der Wendeltreppe ungeduldig auf ihn wartete. Eine schmale geschwungene Holztreppe führte in den oberen Bereich des Duplex, wo sich nur das Schlafzimmer der Suite befand.
Sam ließ sich Zeit. Er nahm schwerfällig eine Stufe nach der anderen. Das Gefühl wieder „bereit“ zu sein, war inzwischen ganz verschwunden. Ein dicker Kloß saß in seiner Kehle fest. Am liebsten wäre er auf dem Absatz wieder umgekehrt und hätte alles stehen und liegen gelassen.
Die spanischen Kollegen hatten ihre Spurensuche zum größten Teil erledigt, und man wartete nur noch auf ihn, um schließlich mit der Säuberung und dem Abtransport der Leiche beginnen zu können.
Die Treppe kam einer Bergbesteigung gleich, und als er schließlich die letzte Stufe erklommen hatte, stand er auf einem hellen weichen Teppich und das Erste, was er sah, war die Leiche einer nackten Frau.
Ihre Haut war weiß und auf den ersten Blick schien sie unversehrt zu sein. Doch in ihren weit aufgerissenen Augen konnte Sam erkennen, dass diese Frau mit Grauen dem Tod ins Gesicht gesehen hatte. Eine Gänsehaut kroch ihm wie ein langes vielbeiniges Insekt den Rücken hinunter. Ihre Beine waren geschlossen und ihre Arme lagen entspannt neben ihrem Körper. Keine Spuren von Fesseln an Beinen oder Handgelenken. Dieses Stillleben machte auf ihn den Eindruck, als hätte der Täter versucht, symbolisch alles ungeschehen zu machen, wahrscheinlich aus einem Gefühl der Reue heraus. Eine emotionale Wiedergutmachung. Was wiederum bedeuten könnte, dass Opfer und Täter sich kannten.
Sam betrachtete wieder ihr Gesicht, forderte sie im Stillen auf zu reden und dann schien es, als würden ihre Augen seinen Bewegungen folgen. Sam drehte sich abrupt weg, atmete tief durch. Hatte er plötzlich Halluzinationen? Er sah sich um und hoffte nicht, dass irgendjemand ihn beobachtet hatte.
Auf dem Boden lagen Einkaufstüten mit verschiedenen Labels, teure Labels wie Gucci und Burberry. Der Inhalt lag verstreut im Zimmer herum. Wahrscheinlich hatte sie mit den Einkaufstüten nach ihrem Peiniger geschlagen und dabei waren die Kleidungsstücke durch die Gegend geflogen. Sam sah auf die Uhr. Es war acht Uhr abends. Er hörte jemanden leichten Schrittes die Treppe hochkommen.
„Todeszeitpunkt liegt voraussichtlich zwischen drei und fünf Uhr nachmittags, Señor.“ Die spanische Gerichtsmedizinerin war von hinten an ihn herangetreten und stellte sich als Zita de las Herras vor. Sie hatte langes schwarzes Haar, das sie zu einem hohen Zopf gebunden hatte, einen etwas zu langen Pony, der ihr ständig in den Wimpern ihrer großen kaffeebraunen Augen hing und sie zum Blinzeln zwang und Sommersprossen auf einer kleinen formschönen Nase. „Der Ehemann und das Zimmermädchen haben sie so gefunden. War ihre erste Leiche, armes Ding.“
„Was ist die genaue Todesursache?“
„Wenn sie nicht diesen irren Blick hätte, könnte man glatt denken, sie würde schlafen, nicht wahr?! Aber sehen Sie sich das hier an.“ Sie reichte Sam ein paar Handschuhe und gab ihm ein Zeichen, ihr zu helfen die Leiche auf den Bauch zu drehen.
Sam war gar nicht erbaut darüber, die Tote anzufassen, aber Zitas Blick ließ ihm keine andere Wahl.
Sie drehten die Leiche gemeinsam auf die Seite, sodass erst jetzt das ganze Ausmaß der Tat sichtbar wurde. Sam gab einen Laut des Erstaunens von sich und sah Zita ungläubig von der Seite an.
„Sie haben die Leiche aber auf dem Rücken liegend vorgefunden?“
„Ja, und sie war zugedeckt mit einem weißen, frisch gebügelten Laken aus der hoteleigenen Wäschekammer.“
Sam strich sich seine gewellten Haare zurück und überlegte, was das zu bedeuten hatte. Immerhin hatte der Täter sich die größte Mühe bei seiner Arbeit gemacht. Warum sollte man das nicht auf den ersten Blick sehen?
„Er muss eine Art Bolzenschneider dabeigehabt haben, einen mit dem man dicke Schlösser knacken kann. Sie wissen schon … Erst hat er ihr die Haut und die Muskeln abgeschält, um die Wirbelsäule freizulegen … das hier ist der erste Lendenwirbel, sehen Sie?“ Zita de las herras zeigte mit ihrem blutverschmierten, behandschuhten Finger auf eine Erhebung.
Sam war zwar grob mit der menschlichen Anatomie vertraut, aber bei gewissen Innereien, Sehnen, Muskulatur- und Wirbelbezeichnungen hörte es dann auf. Trotzdem nickte er.
„Na und dann hat er sich von unten nach oben vorgearbeitet. Sein Opfer leiden lassen bis zum letzten Atemzug. Er hat ihr erst hier unten ein paar Wirbel durchschnitten … und dann hier oben … sehen Sie hier die Vertebra prominens …“ Wieder zeigte sie auf eine weißliche Hervorhebung, die, wie Sam vermutete, der siebte Halswirbel war. Er galt als anatomischer Orientierungspunkt, weil man ihn auch von außen am besten ertasten konnte. … „darüber hat er sie schließlich ganz durchtrennt, wie eine dicke Metallkette. Das war ihr endgültiges Todesurteil.“ Zita lächelte Sam traurig an und gab zwei Beamten ein Zeichen, die Leiche abzutransportieren. Sie zog sich die Handschuhe ab und warf sie in eine Tüte, ohne dabei Sam aus den Augen zu lassen.
„Hat das alles hier im Bett stattgefunden? Ich meine, das ist doch eine ziemlich blutige Angelegenheit, oder hat er sich noch die Zeit genommen, hinterher sauber zu machen?“
„Die Sauerei hat er im Bad veranstaltet.“
Die Tür zum Bad war angelehnt und verwehrte somit jeglichen Einblick.
„Wurde sie vergewaltigt?“
„Sieht nicht so aus. Keine Spermaspuren, was nicht heißt, dass er nicht doch Verkehr hatte, aber …“
„Wer sind Sie?“ Ein großer breitschultriger Mann mit schwarzen kurzen Haaren und einer Knollennase unterbrach die beiden. Seine eigentlich gutmütigen Augen waren zu kleinen Schlitzen verengt.
„Europol“, antwortet Sam knapp.
„Sie haben hier keinen Zutritt“, blaffte er ihn an und sah Zita wütend an. „Sie kennen doch die Prozedur. Erst wir, dann bekommen Ihre Spezialisten den Leichnam zur Obduktion.“
Sam bedankte sich mit einem Blick bei Zita und ließ den leitenden Inspektor der Mordkommission, Edgar Vargas, links liegen. Vergewaltigung mit Kondom würde bedeuten, dass er ihn entsorgt, mitgenommen oder in der Toilette runtergespült hat, dachte Sam. Aber man würde Spuren von ihm an der Frau finden. Ein Haar, eine Hautschuppe, Schweiß - irgendetwas würden sie finden. Er sah sich noch einmal um. Die Frau war gerade vom Shoppen gekommen, das war offensichtlich. War sie hier oben überrascht worden? Dann hätte sich der Täter alleine heimlich Zugang verschafft. Höchstwahrscheinlich mit einer Zimmerkarte. Eine andere Möglichkeit war: Sie hatte ihren Mörder gekannt und ihn eingelassen, war nach oben gegangen, um sich vielleicht frisch zu machen und wurde dann nichts ahnend hier überwältigt.
Die Leiche wurde in einen weißen Leichensack verstaut und zwei junge Männer schleppten sie die schmale Treppe hinunter.
Mit der Fußspitze versetzte Sam der Badezimmertür einen kleinen Tritt. Sie öffnete sich wie in Zeitlupe, als würde sie ihn langsam auf das Kommende vorbereiten wollen. Er blieb im Türrahmen stehen. Die Badewanne sowie der Badewannenrand waren blutverschmiert, so auch der ganze Boden und das Waschbecken. Dazwischen lagen Klumpen von Haut und Muskelgewebe und blutdurchtränkte, ehemals weiße Handtücher lagen, wie Putzlappen auf dem Boden verteilt.
Sam wandte sich ab, er hatte genug gesehen. Er ging zügig die Treppen hinunter. Er brauchte dringend frische Luft. Dort oben hatte es nach menschlichen Exkrementen, Blut und Angstschweiß gerochen. Er wollte diesen Geruch loswerden. Bevor er wieder hinaus in den Gang trat, warf er noch einen letzten Blick ins Zimmer. In der hintersten Ecke saß jetzt ein Mann in einem dunkelgrau bezogenen Sessel, der wie versteinert vor sich hinstarrte. Sam näherte sich ihm langsam und fragte: „Dr. Rewe?“
„Ja“, antwortete der Mann müde, ohne aufzusehen.
„Es tut mir furchtbar leid, was mit Ihrer Frau geschehen ist. Ich weiß …“
„wie ich mich fühle?“, bemerkte der Mann höhnisch. „Das möchte ich bezweifeln.“
Sam enthielt sich jeglichen Kommentars.
„Sie sind wohl der deutsche Beamte, den man mir schicken wollte?“
„Vermutlich.“ Sam ersparte sich weitere Förmlichkeiten und zog sich einen Stuhl heran, um auf gleicher Höhe mit dem Ehemann des Opfers zu sein. „Wann haben Sie in dieses Hotel eingecheckt?“
„Gestern. Gestern Mittag.“
„Sie sind Arzt, wie ich den Unterlagen entnehmen konnte?“
„Ich hatte ihr gesagt, dass ich nicht viel Zeit für sie haben werde, aber sie wollte ja unbedingt mit.“
„Wo waren Sie heute zwischen drei und fünf?“
„Ich war den ganzen Nachmittag unterwegs. Erst mit einem Kollegen essen, dann habe ich mich für den morgigen Kongress vorbereitet.“
„Das war wann?“
„Gegen fünf.“
„Und wo?“
„Na, hier im Hotel unten.“
„Dafür gibt es ja sicherlich Zeugen?“
„Nun, ich weiß nicht. Ich denke schon.“
Sam entging nicht, dass Dr. Rewe bei den letzten Angaben etwas unsicher geworden war. Er wollte es erst einmal dabei belassen und später noch einmal das Thema Alibi angehen. „Wann haben Sie Ihre Frau denn zuletzt gesehen?“
„Als sie mit ihren Einkaufstüten durch die Lobby kam. Gegen halb drei.“
Der Mann antwortete völlig emotionslos. Manche brauchten länger um eine solche Situation zu realisieren, manche weniger, dachte Sam und ließ nach einem Arzt rufen, um auszuschließen, das Dr. Rewe einen lebensbedrohlichen Schock erlitt. Keine Minute später betrat ein Arzt den Raum und begann Dr. Rewes Blutdruck zu messen. Sam stand daneben und nutzte die Gelegenheit, sich Dr. Dennis Rewe etwas näher anzusehen. Er hatte lange Beine und einen langen Oberkörper. Schätzungsweise war er an die ein Meter neunzig groß und sehr schlank. Er trug eine Jeans mit Bügelfalte, braune elegante Halbschuhe und unter einem dunkelblauen Jackett – vermutlich Kaschmir - ein hellblaues Hemd mit Manschettenknöpfen, wovon einer fehlte. Sein hellbraunes dünnes Haar war rechts gescheitelt und am Hinterkopf hatte er einen Wirbel, der ein paar unbändige Haare zum Stehen brachte und sie, wie kleine Antennen aussehen ließen. „Ihnen fehlt der linke Manschettenknopf, Dr. Rewe.“
Dr. Rewe verdrehte den Arm, um besser sehen zu können und war sichtlich überrascht. „Oh, ich muss ihn irgendwo verloren haben. Heute früh hatte ich ihn noch.“
Wo mag er ihm wohl abhandengekommen sein?, dachte Sam. Er würde den Tatort noch einmal absuchen, bevor er ging. „Sie sind Gynäkologe?“
„Ja. Warum fragen Sie? Meinen Sie, das war die Tat eines Gynäkologen? Wollen Sie behaupten …“
„Dr. Rewe, ich will gar nichts behaupten. Ich versuche diese Tat zu verstehen“, unterbrach ihn Sam gereizt.
„Na, da sind Sie nicht der Einzige.“
Der Arzt war mit seiner Untersuchung fertig und packte seine Gerätschaften wieder ein. Er gab mit einem Nicken Sam unmissverständlich zu erkennen, dass dem Patienten nichts fehlte.
„Fahren Sie immer mit Ihrer Frau auf Kongresse?“
„Nein, das haben wir seit Jahren nicht mehr gemacht. Wie ich schon sagte, eigentlich wollte ich alleine fahren“, erklärte er und wischte sich über die Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten.
Sam sah aus dem Fenster. Er ließ dem Mann Zeit, sich wieder zu fassen. „Dieser Kongress. Darf ich fragen, welches Thema dort behandelt wird?“
„Dieses Jahr lag der Schwerpunkt auf Brustkrebs. Hormone, die auslösend wirken könnten. Brustamputationen und ihre Folgen sowie Therapien, die die Folgen der schweren Behandlungen erleichtern sollen.“
Sam dachte an die gleichlangen dünnen Narben unter den Brüsten bei Frau Rewe, die wohl eher von einer Schönheitsoperation stammten und weniger von einem Brustaufbau nach einer Amputation.
„Dr. Rewe, wann hatten Sie das letzte Mal Sex mit Ihrer Frau?“
„Gestern Abend. - Mit Kondom, falls Sie das auch noch wissen möchten. Soll ich Ihnen noch die Stellungen sagen, die wir praktiziert haben? Wir haben auch einen Porno gekauft, um uns anzuheizen.“
Sam atmete tief ein und aus. Er musste Ruhe bewahren und durfte nicht schon am ersten Tag die Contenance verlieren, wie sein Freund Phillipe Argault zu sagen pflegte, wenn der Ruf mal wieder Sam vorausgeeilt war. Dr. Rewe versteckte seine Trauer hinter beißendem Spott. Die Frage war, wie lange er es noch durchhielt, den starken Mann zu spielen. Leider war Dr. Rewe noch nicht aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen, um ihn mit Fragen unbehelligt zu lassen.
„Als Sie Ihre Frau gefunden haben, ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen?“
Der Mann hielt den Blick gesenkt und schüttelte nur den Kopf.
„Denken Sie nach, jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.“
Der Arzt nickte einsichtig und Sam sah sich selbst, wie er vor mehr als vier Monaten in Linas tote Augen gestarrt hatte. Obwohl er in seinem Leben dem Tod so oft begegnet war, war er bei ihrem Anblick einfach zusammengeklappt und erst einmal nicht mehr ansprechbar gewesen.
„Ich konnte meine Karte nicht finden, obwohl ich sicher war, dass ich sie eingesteckt hatte. Ich musste ein Zimmermädchen bitten, mich einzulassen.“
Natürlich konnte das alles so inszeniert worden sein, dachte Sam. Ehemann tötet Frau, verlässt den Tatort und kommt mit einem Zimmermädchen als Zeugin wieder.
„Zum Glück habe ich gute Beziehungen. Ein Freund hat einen Bekannten beim BKA, und der hat jemanden von Europol angerufen. Ich spreche kein Spanisch, wissen Sie.“
Das erste Mal sah Dr. Rewe Sam direkt an. Aber es schien ihn nicht weiter zu tangieren, dass er nicht wie ein geschniegelter Beamter, sondern eher wie ein Junkie aussah, mit seinen dunklen Augenringen und seiner wenig eleganten Kleidung. Da lag also der Hund begraben, dachte Sam. Peter Brenner hatte ihn angerufen, weil er jemanden noch ein Gefallen schuldete und nicht, weil er ihn wieder im Einsatz haben wollte. „Es ist Ihnen also nichts Außergewöhnliches aufgefallen? Was ist mit Schmuck? Ist irgendetwas abhandengekommen?“
„Das weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, was sie alles mitgenommen hat.“
Sam erhob sich, er wollte sich das Zimmermädchen vornehmen, als Dr. Rewe sagte: „Warten Sie, da war doch etwas.“ Seine hohe Stirn wies nun Wellen von Falten auf. „Da war so ein Zettel, der neben meiner Frau lag. Aber wahrscheinlich ist er aus einer Tüte gefallen.“
„Was für ein Zettel?“ Er selbst hatte keinen Zettel neben der Leiche gesehen.
„Na, so ein kleiner Papierstreifen mit einem Sprichwort oder Ähnlichem drauf. Er sah so aus, wie diese kleinen Zettel in den chinesischen Glückskeksen, nur dass er handschriftlich geschrieben war.“
„Haben Sie den Zettel angefasst?“
„Ja, natürlich.“
Sam entschuldigte sich und trat in den Gang hinaus, der immer noch voller geschäftiger Menschen war. An der Wand lehnte Edgar Vargas und unterhielt sich mit der Gerichtsmedizinerin. In seiner Hand hielt er eine durchsichtige Schutzhülle mit einem Schnipsel darin. Sam ging schnurstracks auf die beiden zu und unterbrach ihr Gespräch. „Ich nehme an, das ist der Zettel, den Sie bei der Leiche gefunden haben?“
Vargas hielt Sam die Plastikhülle baumelnd vor die Nase. „Richtig geraten. Ist auf Deutsch, Polnisch oder was weiß ich, aber das können Sie uns ja sicherlich gleich sagen.“
Sam sah sich den Zettel an und zog die Stirn kraus, während er die mit roter Tinte handschriftlich geschriebenen Zeilen las. „Ein Spruch?“
„Wenn Sie es sagen, wird es wohl so sein“, erwiderte Vargas gleichgültig. „Was steht denn drauf?“
Sam gab Vargas die Schutzhülle zurück und konterte lächelnd: „Ich bin sicher Ihre Spezialisten werden Ihnen da weiterhelfen können.“ Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ließ einen verblüfften Vargas einfach stehen.
Hatte der Täter ihnen eine Spur hinterlegt, oder hatte das Zettelchen gar nichts mit dem Fall zu tun und war nur aus einer der Tüten gefallen? Doch daran wollte er nicht so recht glauben. Sam ging wieder zurück ins Zimmer. Dr. Rewe hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Seine Augen waren rot.
„Sagen Sie, Dr. Rewe sind Sie auch in der Forschung tätig?“
„Nein.“
„Ihre Frau vielleicht?“
„Nein, sie war Hausfrau. Warum?“
„War nur eine Frage. Kann es sein, dass Ihre Frau selbst gern gedichtet hat?“
Dr. Rewe sah Sam ungläubig an. „Meine Frau und dichten? Nein. Dafür hat sie ein Vermögen für diese grauenhaften Frauenzeitschriften ausgegeben und Artikel verschlungen wie: Wie bringe ich am besten und schnellsten das Geld meines Mannes unter die Leute.“ Plötzlich verlor der Mann seine hanseatische Haltung und klappte in sich zusammen wie ein brüchiges Stahlgerüst, dass das eigene Gewicht nicht mehr halten konnte. Er weinte und brabbelte etwas von irgendwelchen Freundinnen seiner Frau vor sich hin.
Nach den letzten Worten des Arztes wusste Sam, dass er wieder in die Stadt fahren musste, die er in Zukunft hatte meiden wollen. Hamburg. Hamburg, wo er Lina kennengelernt und beerdigt hatte.
Carmenza García Alvarez stand zitternd vor Sam und spielte nervös an den kleinen Plastikknöpfen ihres Kittels herum. Sie arbeitete nun seit zehn Jahren als Zimmermädchen und hatte schon so einiges miterlebt. Sie hatte blutbefleckte oder mit anderen Körperflüssigkeiten beschmutzte Bettlaken ausgewechselt, Erbrochenes und Urinpfützen weggewischt, menschliche Kothaufen von Teppichen abgekratzt, aber noch nie hatte sie ein Zimmer betreten und eine Leiche darin gefunden.
„Señora, wie oft werden die Zimmer am Tag vom Personal betreten?“
„Kommt darauf an. Die Frühschicht reinigt die Zimmer, meist sind gegen Mittag alle fertig. Die Spätschicht macht die Nachzügler, bringt nach Bedarf noch einmal neue Handtücher, macht die Betten für die Nacht einstiegsbereit und legt den Gästen eine Schokolade aufs Kissen.“
„Der Gast von Zimmer 34601 hatte seine Karte vergessen und Sie gebeten sein Zimmer aufzumachen …“
Die etwa fünfunddreißigjährige Frau fing plötzlich an zu weinen und verbarg ihr Gesicht in den rissigen Händen, die offenbar jahrelang mit scharfen Putzmitteln und Wasser in Berührung gekommen waren. Schluchzend sagte sie: „Das ist nicht erlaubt. Dafür werden sie mich kündigen.“
Sam wusste nicht, was er erwidern sollte. Ihm tat die kleine Frau leid, die mit Sicherheit zwei Kinder oder mehr zu Hause zu versorgen hatte und ihren Job verlieren würde, nur weil sie Dr. Rewe einen Gefallen getan hatte. Auf der anderen Seite konnte sich so jeder unbefugt Zutritt zu den Zimmern verschaffen und ein Verstoß gegen die Sicherheitsregeln musste bestraft werden, damit es nicht wieder vorkam.
„Die Tat geschah im oberen Stock der Suite. Warum sind Sie überhaupt nach oben gegangen, nachdem Sie die Tür geöffnet haben?“
„Der Gast bat mich nachzusehen, ob die obere Minibar mit Wodka aufgefüllt worden war. Zumindest habe ich das so verstanden. Er sprach kaum Spanisch. Sagte nur Wodka und zeigte nach oben. Und dann wollte ich, wie gesagt, das Bett fertigmachen.“
Das Zimmermädchen mit seinem spitzen kleinen Gesicht, das ein wenig an eine Feldmaus erinnerte, sah Sam ängstlich an.
„Woher wussten Sie, dass die Frau tot war? War sie nicht mit einem Laken zugedeckt?“
„Der Blick … Señor … Es war dieser Blick … Ich werde ihn nie vergessen.“
Genauso wie Sam die offenen Augen von Lina niemals vergessen würde. Dieser Blick hatte sich ebenfalls in sein Gedächtnis eingebrannt.
„Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen? Haben Sie jemanden gesehen, der sich hier länger im Gang aufhielt? Oder jemand, der sich nach Gästen erkundigt hatte? Oder irgendetwas anderes, was Ihnen merkwürdig vorkam?“
„Nein“, sagte sie achselzuckend und schüttelte zusätzlich den Kopf.
„Sie haben hier doch sicherlich einen Raum für Putzwagen, Handtücher, Bettlaken et cetera, oder?“
„Ja, er ist am Ende eines jeden Ganges.“ Sie deutete mit dem Finger hinter Sam.
„Ist er immer abgeschlossen?“
„Nur in der Nacht. Man muss ständig Handtücher und Bettwäsche rausholen, da wäre es ziemlich mühsam, die Tür jedes Mal abzuschließen.“
Das heißt, jeder hätte sich unbemerkt während des Tages ein Laken aus der Wäschekammer holen können, dachte Sam. „Sagen Sie …“ Sam verlor den Faden, weil auf dem Gang hinter ihm plötzlich Unruhe herrschte.
Zwei finster aussehende Beamte der Guardia Civil bahnten sich einen Weg zum Zimmer und kamen kurz darauf mit Dr. Rewe wieder heraus, der einen Anflug von Panik im Gesicht hatte. Er sah sich Hilfe suchend um. Als er Sam entdeckte, sagte er in energischem Ton zu den Beamten: „No … él! Él … no mí.“
Die beiden Spanier blieben unbeeindruckt und schoben Dr. Rewe in den Fahrstuhl.
„Werde ich jetzt verhaftet? Wohin bringt man mich? Sagen Sie diesen Lackaffen, dass sie mich nicht anfassen sollen“, rief er Sam zu, bevor die Türen sich schlossen.
Sam bedankte sich bei Carmenza und fuhr wenig später hinunter in die Lobby. Er wollte sich die Sicherheitsvorkehrungen und die Aufzeichnungen des Hotels ansehen. Bedauerlicherweise stellte sich heraus, dass die spanischen Kollegen bereits alle Daten der letzten vierundzwanzig Stunden mitgenommen hatten. Er würde also wohl oder übel auf die Kopien warten müssen.
Im Hotel wimmelte es nur so von Beamten der Guardia Civil. Sie vernahmen Gäste und das Personal des Hotels, besonders aber war ihr Augenmerk auf die Ärzte des Kongresses gerichtet, weil die Polizei annahm, dass der Mörder über gute chirurgische Kenntnisse verfügte.
Sam nahm sich ein Taxi und folgte Dr. Rewe auf die Polizeistation, wo er ihm half, noch ein paar Fragen bezüglich seiner Ankunft und seines Tagesablaufes zu beantworten. Dann erledigte er die Formalitäten für die Überführung der Leiche nach Hamburg und fuhr mit dem Arzt zurück zum Hotel.
Als Sam sich endlich nach Mitternacht in die gestärkte Bettwäsche fallen ließ, dauerte es keine zwei Minuten, bis er eingeschlafen war. Es war die erste Nacht, in der er zu müde und erschöpft war, um noch an Lina zu denken.