10.

 

 

 

KOLUMBIEN  Aleida Betancourt stöhnte laut auf. Die Schmerzen waren nicht auszuhalten und sie hoffte inständig, dass Gott sie bald erlösen würde. Sie war immer gesund gewesen, bis vor einer Woche, als die Schmerzen im Rücken unerträglich geworden waren. Nach einer eingehenden Untersuchung hatte man bei ihr einen apfelsinengroßen Tumor in der Lunge entdeckt und sie gleich zwei Tage später operiert. Seit gestern lag sie nun hier auf der Intensivstation und merkte, wie die Lebensgeister sich aus ihrem Körper verabschiedeten. Es ging zu Ende, das konnte sie auch an den Augen ihrer Besucherin Lea sehen, die jetzt neben ihr saß, sie anlächelte und dabei versuchte, die Tränen zu unterdrücken.

Ihr ganzes Leben zog an ihr vorbei. Ein arbeitsreiches und gotterfülltes Leben, über das sie sich nie beschwert hatte. Sie war regelmäßig in die Messe gegangen, hatte ihre kleinen Sünden gebeichtet und dafür den Rosenkranz gebetet. Jetzt würde das Paradies auf sie warten.

Sie sah wieder zu Lea, die ihren Tränen nun freien Lauf ließ.

Diese Familie war ihr Leben gewesen. Sie hatte ihr über vierzig Jahre gedient. Sie kannte alle ihre Familiengeheimnisse und hatte nie ein Wort darüber verloren. Die meisten würden der ruhmvollen Familie das Genick brechen.

Im Alter von vierzehn Jahren hatte Diego Rodriguez sie von ihren Eltern abgekauft und als Hausmädchen in seinen Haushalt gesteckt.

Lea griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Sie war ihr von den fünf Kindern, die sie hatte aufwachsen sehen, besonders ans Herz gewachsen. Die hübsche kleine Lea mit ihren aschblonden Haaren und grün-blauen, fast türkisfarbenen Augen. Sie war das Schmuckstück der Familie, der besondere Edelstein.

Ihre Lider fielen ihr zu und ein Schluchzen drang an ihre Ohren. Weine nicht, kleine Lea, dachte sie, es wird alles gut. Noch einmal versuchte sie, die schweren Lider zu öffnen. Sie wollte, nein, musste Lea noch ein Geheimnis anvertrauen, das nur sie und ihre eigene Schwester kannten. Ein schreckliches Geheimnis, das wie ein Schatten über den Rodriguez’ lag. Es wurde Zeit, es ans Licht zu bringen. Wieder durchbohrte sie der Schmerz und nahm ihr die Kraft zum Reden.

Lea weinte jetzt hemmungslos. Sie versuchte sie zu trösten, aber dazu fehlte ihr einfach die Kraft. Schritte näherten sich ihrem Bett und eine Schwester sagte, dass es Zeit wäre zu gehen. Ihr Inneres wollte sich aufbäumen, wollte sagen Nein, warte, da gibt es etwas, was du wissen musst. Aber sie konnte nicht, der Schmerz drückte sie zurück und brachte sie zum Schweigen.

In der Nacht machte Aleida Betancourt ihren letzten Atemzug und nahm das schreckliche Geheimnis der Familie Rodriguez mit ins Grab. Ein Geheimnis, das selbst der Familie nicht bekannt war und das sie so viele Jahre in ihrem Herzen getragen hatte. Nach siebenundzwanzig Jahren würde es sich nun allein auf verschlungenen Wegen aus der Dunkelheit befreien müssen.

 

 

Orchideenstaub
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