29.
MÜNCHEN Estelle Beauchamp hatte die Namen, die Sam ihr gegeben hatte, überprüfen lassen. Wie sich herausstellte, war das ein ziemlich schwieriges Unterfangen, denn bis auf drei Namen war niemand mehr aufzufinden.
Da gab es einen Johann Kremer, der im Max-Planck-Institut in der Abteilung für Biochemie gearbeitet hatte und vor fünfzehn Jahren verstorben war. Keine registrierten Nachkommen.
Dr. Hans Münch war 1965 bei einem tödlichen Unfall mit seinem Auto auf der Autobahn München-Salzburg – heute eine der gefährlichsten und meist befahrenen Strecken - verunglückt. Ebenfalls unverheiratet gewesen.
Und die Ärztin Dr. Rosemarie Klein: Sie hatte eine Praxis in Heidelberg gehabt, bis sie krank wurde. Sie war letztes Jahr in einem Altersheim gestorben. Ihre Tochter Sybille, verheiratet mit einem Griechen, hatte sich vor zehn Jahren eine Überdosis Heroin gesetzt und ihre Tochter wiederum - und jetzt kam das Interessante - war die Prostituierte Anna Galanis, die vor vier Jahren in Wien mit einer Herzinjektion getötet worden war.
„O.k., dann ist ja wohl keiner mehr von der Runde übrig, den man umbringen könnte“, sagte Juri trocken.
„Hoffen wir mal, dass du Recht hast.“
Plötzlich fiel Sam der Name Thiel wieder ein, den er vergessen hatte zu erwähnen. Er ließ Juri eine Textmessage von seinem eigenen Handy schreiben, weil er sich einfach zu viel auf den winzigen Tasten vertippte und Juri zudem doppelt so schnell war wie er.
„Wann schaffst du dir endlich ein Blackberry an? Das ist wie ein kleiner Computer, kannst sogar die E-Mails darüber abrufen.“
„Ja, und die Tastatur ist noch kleiner. Nein, lass mal, ich habe mich gerade mal mit dem da angefreundet.“
Juri warf Sam einen ungläubigen Blick zu. „Das hier ist mindestens vier, fünf Jahre alt.“
„Da siehst du mal, wie lange ich brauche, um mit etwas warm zu werden.“ Sam grinste schelmisch und holte das Foto aus dem Ordner, auf dem die zehn Ärzte abgebildet waren.
„Du bist ein hoffnungsloser Fall, Sam.“ Juri hatte die SMS fertig geschrieben und sendete sie ab.
„Brenner muss etwas übersehen haben. Ich bin sicher, dass es noch einen Mord zwischen dem ersten und dem von Frau Rewe gibt. Fünf von den Männern auf dem Foto sind unauffindbar? Das kann ich kaum glauben. Unser Täter ist jung. Schätze mal zwischen fünfundzwanzig und dreißig.“
„Wieso bist du da so sicher?“
„Weil er sich schon viel eher an den Leutchen hier gerächt hätte. Er war noch zu jung. Ich glaube, er hat erst in einem gewissen Alter von etwas erfahren, was ihn so getroffen haben muss, dass er sich an die Fersen der Nachfahren geheftet hat.“
„Und die wissen nicht einmal etwas von den Schandtaten ihrer Väter.“
„Dafür werden sie es jetzt erfahren. Sofern wir ihn kriegen und er uns von seiner Motivation erzählt.“
„Freut mich, dass du so positiv eingestellt bist“, bemerkte Juri sarkastisch.
Sam konnte sich vorstellen, dass der Mörder selbst durch die Forschungen dieser Ärzte jemand Nahestehendes verloren hatte. Vielleicht sogar einen oder beide Elternteile, weshalb er bescheiden und im Verborgenen aufgewachsen war, wie eine Veilchenorchidee.
„Okay, was wäre, wenn einer oder zwei von denen ihren Namen gewechselt haben und Brenner sie deshalb nicht finden konnte?“
„Dann sind sie höchstwahrscheinlich noch am Leben und wir werden sie nie finden, aber der Täter dann auch nicht.“
Die Frage war, wie er herausgefunden hatte, wann die beiden Ärzte Steiner und Rewe verreisen und wo sie absteigen würden. Dafür gab es mehrere Möglichkeiten: Die Klinik, die Praxis, die Ehefrauen … oder hatte er direkt Kontakt mit ihnen aufgenommen? War es das, woran Steiner sich erinnert hatte, überlegte Sam.
Als Erstes riefen sie Frau Steiner an. Dieses Mal war sie gleich freundlich und zuvorkommend, aber sie hatte keine verdächtigen Anrufe in letzter Zeit erhalten.
Die Sekretärin, die die Buchführung und Terminplanung machte, konnte ihnen auch nichts sagen. Sprechstundenhilfen hatte es insgesamt drei in der Praxis von Dr. Steiner gegeben. Alle drei hatten Patienten in einem gewissen Zeitraum für die Terminplanung mitgeteilt, dass Dr. Steiner in der fraglichen Zeit auf einem Kongress sein würde. Er hatte sich nach dem Kongress noch eine Auszeit gönnen wollen, wie jetzt herauskam, die in die Kongresszeit eingeplant war. Zwei Mitarbeiterinnen hatten Patienten gegenüber erwähnt, dass Dr. Steiner nach Paris zu einem Kongress für Augenärzte fahren würde und sehr wahrscheinlich im George V absteigen würde, wie er es immer tat. Wem gegenüber sie das erwähnt hatten, konnten sie nicht mehr sagen. Fakt war, es war gesagt worden. Insofern hätte sich der Mörder über die Praxis die Information holen können.
In der Frauenklinik, die Dr. Rewe leitete, wechselte das Personal schichtweise. Wer, wann und wie was gesagt hatte, war ebenfalls nicht mehr nachzuvollziehen.
Wie sich herausstellte, waren beide Ärzte Gewohnheitstiere. Sie fuhren jedes Jahr etwa zur selben Zeit auf die Kongresse und stiegen in denselben Hotels ab. Normalerweise fuhren sie allein. Wären sie selbst Opfer geworden, wenn sie ohne Begleitung gewesen wären?
Sam betrachtete wieder das Foto, ohne wirklich etwas zu sehen, bis nach einer Weile die Gesichter zu einer gräulichen Masse verschwammen. Wer von ihnen war noch am Leben? Machte es überhaupt Sinn, das ganze Augenmerk auf Berlin zu richten, nur weil dort einer der größten Ärztekongresse stattfand? Was war, wenn mit Steiner der letzte der Bauern gefallen war?
„Geh ins Bett, Sam“, hörte er Juri sagen, der es sich liegend auf Sams Couch gemütlich gemacht hatte und nur noch mit einem halb offenen Auge fernsah.
Schwerfällig erhob sich Sam und schlurfte in sein Schlafzimmer. Er zog sich aus und legte sich ins Bett. Durch die Ritzen der Fenster hörte er den Wind und die Äste der Bäume bewegten sich hinter den geschlossenen Jalousien wie im chinesischen Schattentheater. Eine Weile beobachtete er das Schauspiel, dann suchte er eine bequemere Schlafstellung. Er wälzte sich hin und her. Aber der erlösende Schlaf wollte einfach nicht über ihn kommen. Er schloss die Augen und sah plötzlich Linas Mutter vor sich.
Consuela hatte die gleichen Augen wie Lina. Das war ihm allerdings erst bei ihrem letzten Treffen aufgefallen. ,Tod’ und sein Name hatten dort auf dem Zettel gestanden. Eines natürlichen Todes werde ich wohl eher nicht sterben, dachte er. Es sei denn ein plötzlicher Herzinfarkt oder eine fortgeschrittene Krebserkrankung, von der er noch nichts wusste, würde ihn von heute auf morgen dahinraffen. Aber daran glaubte er nicht. Hatte es vielleicht etwas mit dem derzeitigen Fall zu tun?
Sie hatten einen ziemlich gewieften Täter aufzuspüren. Er ging strategisch vor und Sam hatte das Gefühl, dass alles, was bisher geschehen war, nur ein kleines Vorspiel gewesen war. Der König stand auf seinem Platz und war noch im Spiel.