47.
Sam saß seit neun Stunden im Flieger und hatte so viel Pfefferminzbonbons zerkaut, dass ihm ganz schlecht davon war. Der Flug war die ersten fünf Stunden ruhig gewesen, dann hatten die gefürchteten Turbulenzen angefangen.
Rafael Rodriguez hatte nach dem Start ein großzügiges Mahl zu sich genommen, ein paar Gläser Whiskey getrunken und war direkt danach eingeschlafen, während er an die Maschine gedacht hatte, die vor ein paar Jahren in Kolumbien über der Stadt Cali abgestürzt war. Anstatt den Überlebenden zu helfen, hatten die Einheimischen nicht nur das Gepäck der Reisenden geplündert, sondern auch den Sterbenden die Goldzähne herausgerissen. Als die ersten Rettungsmannschaften eintrafen, waren alle tot. Zu was für einem Volk flog er da.
Der Kapitän kündigte durch den Lautsprecher an, dass sie sich auf dem Landeanflug auf den internationalen Flughafen El Dorado in Bogotá befanden.
Schräg auf der anderen Seite saß eine ältere Dame, betete den Rosenkranz und bekreuzigte sich zwischendurch immer wieder.
Sam sah zu Rafael. Der Mund war leicht geöffnet, seine Lider zuckten und ab und zu kam ein Röcheln aus seiner Kehle wie bei einem sterbenden Tier. Der Mann war die Ruhe selbst, obwohl gerade seine dritte Frau bestialisch ermordet worden war. Aber vielleicht hatte das auch mit seinem Glauben zu tun. Seine Frau war im Himmelsreich angekommen.
Auf dem Flughafen in Frankfurt war Rafael bei der Kontrolle aus Versehen einer Frau auf den Fuß getreten. Entschuldigung, Señora hatte er zu ihr gesagt. Das war der Moment, bei dem es Sam kalt den Rücken runtergelaufen war. Der Mann, der Harry Steiner vor dem Hotel angestoßen hatte, hatte dieselben Worte benutzt, eine Mixtur aus Deutsch und Spanisch. Wieder fragte er sich, ob er neben einem eiskalten Mörder saß oder ob die Schicksale Rafael Rodriguez so abgestumpft hatten, dass er gar nicht anders konnte, als das Geschehene einfach zu verdrängen. Jeder schützt seine Seele auf eine andere Weise, dachte Sam, der vor einiger Zeit selbst Opfer einer solchen Situation gewesen war und sah aus dem Fenster.
War es vielleicht möglich, dass jemand Rafael Rodriguez so gut kannte oder studiert hatte, dass er ihn perfekt kopierte?
Die Maschine flog durch eine dicke Wolkendecke. Kurz darauf konnte Sam unter sich die gewaltigen Ausmaße der kolumbianischen Metropole erkennen. In keine der Himmelsrichtungen war ein Ende der Stadt zu sehen.
Drei Stunden später und nach einem weiteren Kurzflug fuhren sie in einem gelben Taxi, dessen Innenausstattung in Deutschland längst auf der Müllhalde gelandet wäre, die serpentinenreiche Straße Richtung Medellin entlang.
Inzwischen war es stockdunkel, nur ab und zu blitzten Lichter vonFinkas zwischen den Bäumen hervor. Sam war etwas flau in der Magengegend. Fuhren sie wirklich Richtung Stadt, oder entfernten sie sich eher davon? So ganz wollte er Rafael Rodriguez nicht trauen. Doch dann kamen sie über einen Berg und plötzlich öffnete sich der Blick auf die Stadt, die aussah als läge funkelnder Goldstaub auf ihr.
Noch heute Abend würde er die Familie von Rafael Rodriguez kennenlernen und vielleicht einem alten Naziverbrecher gegenüberstehen.
Als sie die Stadt erreichten, waren die Straßen zwar belebt, aber es war nicht so wie in Kairo, wo der Verkehr geradezu unangenehm und fast gefährlich gewirkt hatte. Hier war er fließend und es dauerte nicht lange, da waren sie schon wieder aus der Stadt heraus und fuhren die Autopista Richtung Süden. Sam versuchte sich alles einzuprägen, damit er, falls es notwendig war, auch allein wieder den Weg in die Stadt finden würde.
Endlich erreichten sie eine große Toreinfahrt, die direkt von der Landstraße abging. Der Portero, in einem kleinen Häuschen sitzend, inspizierte den Wagen. Als er sah, dass Rafael im Taxi saß, ging das Tor automatisch auf. Er grüßte freundlich und dann zeigte Rafael mit ausschweifender Handbewegung auf eine hell beleuchtete weiße Finka neben einem Teich. Ein weitläufiger Garten führte um die Finka herum und die hohen Palmen, die neben dem Teich standen, wurden von unten mit bunten Strahlern beleuchtet.
„Willkommen in meinem Heim, Señor O’Co …, Kreibich“, verbesserte er sich schnell. „Tut mir leid, ich hoffe der Patzer kommt nicht wieder vor.“
„Sie sollten sich selbst den Gefallen tun, Rafael. Denn sollte sich der Mörder nicht zeigen, stehen Sie als Hauptverdächtiger wieder ganz oben auf der Liste.“
„Schon klar.“
Das Taxi fuhr eine hundert Meter lange Auffahrt hoch, die links und rechts von großen Bambuswäldern und Orchideenbeeten gesäumt war, auf einen Platz zu, in dessen Mitte ein beleuchteter Steinbrunnen stand. Zwei große Toyota Geländewagen parkten direkt vor der doppelflügeligen Eingangstür, die weit offen stand und einen ersten Einblick ins Hausinnere zuließ.
Kaum waren Rafael und Sam aus dem Taxi gestiegen, kam eine ältere Dame aus dem Haus. „Rafa, wie schön, dass du wieder da bist.“
Sie lächelte warmherzig und Sam konnte erkennen, dass die zierliche Frau in jungen Jahren eine Schönheit gewesen sein musste. Sie trug ein schlichtes graues Kostüm und um ihren Hals hing unübersehbar ein Kruzifix als Zeichen ihrer christlich-frommen Gesinnung. „Das ist also der nette Besucher, von dem du erzählt hast. Señor Kreibich freut mich, Sie hier als Gast willkommen zu heißen. Jorge wird Ihre Sachen ins Gästehaus bringen.“
Neben ihr war ein dunkelhäutiger Mann mit Oberlippenbart aufgetaucht, der sich Sams Reisetasche griff und sie zu einem angrenzenden kleinen Haus brachte, während Sam Rafael und seiner Mutter ins Hausinnere folgte.
Die Möblierung war alles andere als pompös. Sie schien nach der Fertigstellung der Finka vor rund fünfzig Jahren gekauft oder angefertigt worden zu sein und seitdem zierte sie das Haus. Reich und bescheiden oder reich und geizig?, dachte Sam und nahm einen blutroten Saft entgegen, der ihm von einer Angestellten auf einem Tablett gereicht wurde.
Rafael sah ihr nach, wie sie leise im hinteren Teil des Hauses verschwand. „Ist sie neu? Wo ist Aleida? Hat sie Urlaub?“, fragte er irritiert seine Mutter.
„Sie ist …“
„Tot.“ Rafael und Sam drehten sich gleichzeitig zu Diego Rodriguez um, der hinter ihnen in seinem Rollstuhl aufgetaucht war. Das einsame Wort, das allein für sich schon so viel aussagte, blieb im Raum stehen und schien ihn für einen Moment ganz auszufüllen.
Rafael sah von seinem Vater zu seiner Mutter, die der Aussage nicht widersprach. „Aber wie? Ich meine wieso, wie kann das sein? Was ist denn passiert?“
Sam verstand Rafaels Verzweiflung. War doch Aleida diejenige, die vielleicht etwas Licht in die Fälle hätte bringen können. Nur sie hatte von seiner neuen Frau Leila gewusst, sonst niemand. Jetzt war die einzige mögliche Zeugin oder Wissende tot.
Diego Rodriguez sah seinen Sohn verständnislos an, als Rafael auf einen Stuhl sank und vor sich hinstarrte.
„Was regst du dich so auf, Rafael. Sie war doch nur eine Angestellte. Würdest du mich bitte unserem Gast vorstellen.“
Sam war sprachlos, aber auch Rafaels Blick und der seiner Mutter sprachen Bände. Sicherlich hatte es in dieser Familie auch andere, ,wichtigere’, Todesfälle gegeben, aber war Aleida nicht fast 40 Jahre die Hausangestellte gewesen? Gehörte ein Mensch nach so vielen Jahren nicht zur Familie? Oder waren und blieben es Menschen zweiter Klasse für die gehobene Schicht?
„Dr. Michael Kreibich, Vater.“
Die skelettartigen, kalten Finger schlossen sich unangenehm um Sams Hand und hielten sie länger fest als nötig. Diego Rodriguez‘ wässrige grau-blaue Augen musterten Sam mit kritischem Blick und Sam tat es ihm gleich. Diego Rodriguez sah seinem Alter entsprechend aus. Fast einhundert Jahre Mensch saßen dort im Rollstuhl. Das Gesicht faltig, eingefallen und schief. Die Haut am Kiefer hatte Taschen gebildet und hing runter wie bei einer Bulldogge. Ob dieser Mann Heinrich Thiel war, konnte Sam beim besten Willen nicht sagen. Aber eines wusste er: Falls dieser Mann Ähnlichkeiten zu seinem ehemaligen Kollegen Kreibich suchte, würde er sie nicht finden.
Kreibich war schlaksig gewesen mit einer prägnanten Nase im Gesicht, kleinen Augen und einem schmalen Mund. Die Haarfarbe auf den alten schwarz-weiß Fotografien war kaum erkennbar gewesen, aber Kreibich hatte keine vollen Haare gehabt wie Sam. Auch sonst hatten sie so viel Ähnlichkeiten wie ein Gürteltier mit einer Fledermaus.
„Kreibich?!“ Der Name kam wie ein Krächzen aus dem Mund des alten Mannes.
„Wir haben uns auf einem Kongress in Berlin kennengelernt. Dr. Kreibich ist Urologe.“
Der alte Mann nickte anerkennend. „Urologe.“
Sam hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete, in einem Ärztehaushalt einen Arzt zu spielen. Erst unter dem prüfenden Blick von Diego Rodriguez wurde ihm das bewusst und wohl fühlte er sich dabei gar nicht.
„Warum hat mir niemand Bescheid gesagt?“ Rafael lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Aber nur für einen kurzen Augenblick, denn plötzlich stand Lea in der Tür. Ihre Augen waren einzig und allein auf den Fremden gerichtet. „Lea! Warum hast du mich nicht angerufen?“, sagte Rafael vorwurfsvoll. Er war aufgestanden und nahm seine Schwester zur Begrüßung in den Arm.
Leas Blick war indessen immer noch auf Sam gerichtet. Dann löste sie sich aus dem Griff ihres Bruders und ging auf den Gast zu.
„Das ist Dr. Michael Kreibich aus Deutschland.“
Lea streckte Sam die Hand entgegen. „Freut mich, Sie hier bei uns begrüßen zu dürfen. Gibt es einen bestimmten Anlass, warum Sie meinen Bruder hierher begleitet haben?“
„Er wird vielleicht Geld ins Heim investieren“, antwortete Rafael für Sam.
„Kann Señor Kreibich auch selbst reden?“
„Freut mich ebenfalls. Ja, Ihr Bruder hat mir so viel von Ihrem schönen Land erzählt, und da ich gerade Urlaub habe, habe ich mich spontan dazu entschlossen, es mir mal näher anzusehen, Señorita …“, erklärte Sam in einem fast perfekten Spanisch.
„Lea. Ich heiße Lea. Sie sprechen unsere Sprache ziemlich gut, wenn ich das bemerken darf.“
„Danke.“
Lea begrüßte ihre Mutter mit einer Umarmung und ihren Vater mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Ihre Gestik war ziemlich eindeutig. Entweder hatte sie Angst vor dem alten Mann oder sie verachtete ihn aus irgendwelchen Gründen.
„Möchten Sie noch etwas essen, bevor Sie zu Bett gehen, Señor Kreibich?“, fragte ihn die Herrin des Hauses.
Alle Blicke waren auf Sam gerichtet, der dankend ablehnte. Er sehnte sich nach dem langen Flug nur nach einer Dusche und einem Bett, in dem er sich ausstrecken konnte. „Ich würde mich gerne zurückziehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.
Draußen war die Luft mild, Grillen zirpten, irgendwo bellte ein Hund, ansonsten war nichts zu hören. Eine idyllische Ruhe. Neben den beiden Toyotas stand jetzt noch ein kleiner schwarzer BMW. Sam drehte sich noch einmal zu dem hell beleuchteten Haus um. Lea sah den beiden nach.
„Sie ist eine wahre Schönheit. Kommt ganz nach unserer Mutter.“
Sam stimmte Rafael zu. Aber diese Frau war nicht nur äußerlich schön. Er hatte in ihren Augen etwas gesehen, was ihn für einen Moment alles um sich herum hatte vergessen lassen.