24.
CHANTEAU Das kleine Hexenhäuschen mitten im Wald im Loiretal lag so gut versteckt, dass Sam und Juri ein paar Mal an dem kleinen Weg, der direkt zu einem alten verrosteten Eisentor führte, vorbeigefahren waren.
Noch gestern Abend hatte er die Nummer in Frankreich angerufen, die ihm Dr. Rewe von seiner Mutter gegeben hatte, und nachgefragt, ob sie sich zurzeit auch in Chanteau aufhielt. Robert Camus, der Besitzer des Restaurants „La Rue“ bestätigte, dass er sie noch am Morgen auf dem Markt des kleinen Örtchens getroffen hätte, worauf Sam sofort zwei Flüge nach Paris gebucht hatte. Von da aus waren sie mit einem Leihwagen etwa einhundert Kilometer Richtung Orléans gefahren.
Die idyllische Ruhe im Wald war so außergewöhnlich für Sam, dass er sich wie auf einem anderen Planeten fühlte. Sogar die Bäume schien man hier atmen zu hören.
„Puh, das ist aber ganz schön einsam für eine alleinstehende Frau, findest du nicht?“ Juri sah aus dem Fenster in alle Richtungen. „Nicht nur einsam, sondern auch unheimlich. Wo man hinsieht, ist Wald. Man kann ja nicht mal den Himmel vor lauter Bäumen sehen.“
„Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die haben die Welt da draußen so satt, dass sie sich genau so ein Fleckchen suchen, um sich ganz zurückzuziehen.“
Sie ließen den Wagen vor dem Tor stehen und betraten das Grundstück.
„Das wär genau dein Ding, wenn du die Möglichkeit hättest, stimmt’s?!“
„Ja vielleicht, aber ich würde mir was am Meer suchen“, sagte Sam und klopfte an die massive Holztür. Die Vorstellung, jeden Tag das Meer zu riechen war in der Tat verlockend.
Eine kleine zierliche Frau in ausgewaschenen Jeans und dicker Wolljacke öffnete den beiden die Tür.
„Sie müssen die Herren von der Polizei sein, die bei Camus angerufen haben. Er hat mir noch gestern Abend jemand vorbeigeschickt. Er ist immer so fürsorglich. Daraufhin habe ich gleich bei meinem Sohn angerufen, um sicher zu gehen, dass er und die Kinder in Ordnung sind.“ Sie trat zur Seite und machte eine ausholende Geste, um die beiden in ihr Heim zu bitten. „Vorsicht stoßen Sie sich nicht!“, warnte sie die beiden Männer und zeigte auf den Türrahmen, der eher für Kleinwüchsige gebaut worden war.
Sam duckte sich und drehte sich breit grinsend zu Juri um. „Du passt da locker gestreckt durch. War wohl mal für Zwerge wie dich gedacht.“
Tatsächlich passte Juri mit seinen ein Meter sechsundsiebzig ohne Probleme durch.
Innen roch es nach Kuchen und Gebäck wie zur Weihnachtszeit und Sam knurrte plötzlich der Magen.
„Ich versorge das Restaurant und ein paar Cafés in der Umgebung mit Kuchen und Quarkspeisen à l‘Allemand. Sie sehen beide hungrig aus, möchten Sie vielleicht ein Stück.“ Sie zeigte auf einen Kuchen mit einer cremigen Füllung. „Und dazu einen Kaffee oder Tee?“
„Haben Sie vielleicht auch Kakao?“, fragte Juri vorsichtig.
„Aber sicher. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, warum Sie die weite Reise zu mir gemacht haben.“
Während Frau Rewe Teller und Tassen aus einer alten Vitrine holte, Kuchen auffüllte und Kaffee kochte, erzählte Sam kurz und knapp von den drei Mordfällen und dass sie vermuteten, dass die Familien Rewe und Steiner irgendwie verbunden waren. Zwischendurch beobachtete er, wie Frau Rewe immer mal wieder kurz innehielt. Irgendetwas schien ihr auf dem Herzen zu liegen. „Halten Sie mich für herzlos, weil ich nicht zur Beerdigung meiner Schwiegertochter gehe?“
„Sie werden Ihre Gründe dafür haben“, antwortete Sam.
„Ich mochte sie nicht, Gott hab sie selig, aber sie war egoistisch, war nur hinter dem Geld meines Sohnes her und zog es vor, Partys mit ihren Freundinnen zu machen, anstatt sich um die Kinder zu kümmern.“ Schließlich stellte sie den Kuchen und den Kaffee auf den Tisch und tat jedem auf.
Juri verfolgte jede ihrer Bewegungen wie eine hungrige Schlange, die ihre Beute im Visier hatte.
„Fangen Sie ruhig an.“ Sie lächelte und setzte sich mit an den Tisch. „Meine beiden Enkelkinder kommen jeden Sommer hierher. Das ist immer eine sehr schöne Zeit. Wir gehen dann Kräuter und Beeren sammeln.“
Sam nickte und schob sich das erste Stück Kuchen in den Mund. „Er schmeckt ausgezeichnet“, lobte er ihre Backkünste vor dem ersten Schluck Kaffee. Er war brennend heiß, aber noch mehr brannte ihm die eine Frage auf der Zunge. Und damit wollte er nicht warten, bis alle aufgegessen hatten.
„Sagt Ihnen der Name Steiner etwas?“, begann er vorsichtig.
„Oh ja, ich glaube schon. Irgendetwas bimmelt da bei mir in der letzten Ecke meiner grauen Zellen.“ Sie stand auf, holte eine kleine Kiste aus einer großen alten Holztruhe mit Eisenscharnieren und stellte sie neben sich auf den Tisch. Dann schob sie sich einen Bissen Kuchen in den Mund und lächelte über den leeren Teller von Juri. „Hätte ich gewusst, dass Sie beide so einen Hunger mitbringen, hätte ich etwas gekocht. Aber ich wusste ja auch nicht genau, wann Sie hier auftauchen würden. Greifen Sie ruhig zu.“
Unter den neugierigen Augen von Sam öffnete sie den Deckel der kleinen Kiste und holte einen Stapel Fotos daraus hervor. Es waren alte vergilbte Fotos in Sepiafarben und schwarz-weiß.
„Die habe ich gefunden, als mein Mann vor zehn Jahren verstarb. Erst wollte ich sie wegschmeißen, weil ich damit nichts anfangen konnte. Es waren seine Erinnerungen, nicht meine. Aber dann habe ich es mir doch anders überlegt. Jetzt weiß ich warum. Alles im Leben hat einen Sinn.“
Das hatte Lina auch immer gesagt, fuhr es Sam durch den Kopf. Er nahm die Fotos in die Hand, die sie vor ihm auf den Tisch legte.
„Das hier ist Dennis mit seinem Vater. Da war er knapp einen Monat alt.“
Sam hielt das Foto ins Licht, um es besser sehen zu können. Richard Rewe hatte auf dem Bild schütteres Haar, war leicht untersetzt und trug eine Hornbrille auf der Nase. Sam reichte das Foto an Juri weiter.
„Er war damals sechsundvierzig, ich gerade mal zwanzig.“
Sam überschlug schnell, wie alt Frau Rewe sein musste und kam auf genau siebzig Jahre. Ihre Gesichtszüge waren glatt und jugendlich, wodurch sie gute fünfzehn Jahre jünger wirkte. Das gepflegte graue Haar trug sie in Kinnlänge. Es umspielte elegant ihr schmales Gesicht.
„Das hier habe ich gesucht. Sehen Sie, hier auf der Rückseite steht’s.“
Auf dem Foto waren etwa zehn Personen abgelichtet. Ein paar in weißen Kitteln, die anderen in Straßenkleidung. Sie standen in zwei Reihen, wie bei einem Klassenfoto. Im Hintergrund war ein weißes Gebäude zu sehen, das umsäumt war von Palmen. Eine Schwester mit weißer Haube war offenbar versehentlich auf das Foto gekommen. Sie schob jemanden im Rollstuhl. Das Gesicht des im Rollstuhl Sitzenden war von einem der Männer halb verdeckt, aber es hatte etwas Eigenartiges. Und noch etwas war auf dem Foto: ein Schild, ebenfalls nur halb zu sehen, auf dem irgendwas stand. Sam kniff die Augen zusammen und hielt das Foto weiter weg.
„Hier, nehmen Sie die.“ Frau Rewe nahm ihre goldumrahmte Lesebrille ab und reichte sie Sam über den Tisch, der sie lediglich wie ein Vergrößerungsglas vor das Foto hielt. Tatsächlich waren die Buchstaben jetzt deutlicher erkennbar. Casa de…, mehr konnte man bedauerlicherweise nicht darauf lesen. Sam drehte das Bild um. Mit Tinte geschrieben und teilweise etwas verschmiert standen dort sechs Namen. Unter anderem Steiner und Rewe. Das war ein Volltreffer, dachte er. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie uns damit geholfen haben, Frau Rewe.“
Juri hatte sich die anderen aussortierten Fotos angesehen. Es waren Familienfotos jüngeren Datums.
Das Foto muss jemand anderem gehört haben, dachte Sam. „Das ist nicht die Handschrift ihres Mannes, oder?“
„Nein, ich glaube nicht. Warum?“
„Ich dachte nur, dass man seinen eigenen Namen ja nicht hinten raufschreibt, oder?“
„Das ist richtig. Aber ein Name, den ich öfter gehört habe, steht hier nicht drauf. Sicher gehörte das Foto ihm. Er ist mir entfallen … ach herrje, man wird alt“, stöhnte sie und legte Sam ein weiteres Foto hin.
„Also diese beiden Herren da, die kenne ich zum Beispiel nicht. Sie waren zu einem Geburtstag meines Mannes plötzlich aufgetaucht. Haben sich auch nicht vorgestellt. Gesehen hab ich sie auch nie wieder.“
„Wissen Sie, wann die gemacht worden sind?“
„Ich glaube es war sein Fünfzigster, kann aber auch der Sechzigste gewesen sein. Und die anderen sind wohl alle gemacht worden, bevor ich Richard kennengelernt habe, also um 1950 … und dieses hier …“ Sie zeigte auf das Bild mit dem weißen Haus im Hintergrund „war um 1960, denn es gibt noch eins davon, wo das genaue Datum draufsteht.“
„Wissen Sie auch, wo das gemacht wurde? Casa de …, könnte das in Spanien gemacht worden sein?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.“
Sie durchwühlte wieder das kleine Kästchen und zauberte noch ein Foto daraus hervor. Wieder war es ein Gruppenfoto, dieses Mal waren nur fünf der Männer und eine Frau abgelichtet.
„Richard fuhr oft weg und jedes Mal wurde ein Riesengeheimnis darum gemacht. Er sagte immer nur, dass es geschäftlich sei. Er war ein ausgezeichneter Orthopäde, aber im Grunde genommen ein Misanthrop. Er war menschlich ein Arschloch. Entschuldigen Sie.“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wäre ihr das Schimpfwort plötzlich rausgerutscht und lächelte verschämt wie ein kleines Mädchen. „Sie können die Fotos ruhig behalten. Sie haben jetzt ihren Dienst getan.“
„Können Sie damit etwas anfangen?“ Juri holte das kleine Buch aus der Tasche und reichte es ihr über den Tisch. Sie blätterte die leeren Seiten durch und betrachtete das Bild lange und eingehend.
„Dieses Bild kommt mir irgendwie bekannt vor. Komme aber gerade nicht drauf, wo ich es schon einmal gesehen habe. Ich habe damals Geschichte studiert, da läuft einem ja so einiges über den Weg. 1953? Nein, sagt mir nichts. Tut mir leid.“
Sie stand auf, räumte schnell ab und stellte drei Weingläser auf den Tisch. Dazu holte sie eine Flasche Rotwein. Beide Männer winkten gleichzeitig ab, aber Frau Rewe sah die beiden an, als würde sie keinen Widerspruch dulden. „Ich habe so selten Besuch hier, tun Sie mir den Gefallen und bleiben Sie heute abend meine Gäste. Ich habe zwei Gästezimmer und Sie werden hier im Wald so gut schlafen wie noch nie, das verspreche ich Ihnen.“
Wieder setzte sie ihr charmantes Lächeln auf und Sam willigte ein. Das Wochenende stand vor der Tür, und wenn sie morgen früh zurück nach Paris fahren würden, reichte das auch.
Juri war ebenfalls ganz seiner Meinung und nippte bereits genüsslich an dem Wein.
Gegen Abend versuchte Sam Inspector Germain zu erreichen, den sie auf dem Rückweg nach Paris noch einmal besuchen wollten. Im Wald gab es tatsächlich keine Verbindung, weshalb er ein Stück in den Ort hineinfuhr. Ein kleiner, gemütlicher französischer Ort mit einer kopfsteingepflasterten Altstadt und Häusern aus dem 19. Jahrhundert. Aber Germain hatte nur seine Mailbox an.
Sam war zufrieden, die Reise hierher hatte sich gelohnt. Endlich sah er ein Fortkommen in dem Fall. Mit den Namen auf dem Foto würden sie vielleicht verhindern können, dass es weitere Opfer gab. Vorausgesetzt sie arbeiteten schnell und machten den Vorsprung wett, den der Mörder mit seinem Wissen hatte.