37.
BERLIN Sam und Juri saßen in einem Konferenzraum des Interkontihotels im dritten Stock zusammen mit Maik Schenker, dem MKLWirsch und Fräulein Beauchamp, die ein I-Phone in die Mitte des Tisches platzierte und leise sagte: „Er kann’s nicht lassen.“
„Das habe ich gehört“, dröhnte es aus dem Handy.
„Haben Sie ihre OP gut überstanden, Brenner?“, fragte Sam, amüsiert darüber, dass sein Chef sich keine Ruhe zu gönnen schien.
„Nun legen Sie schon los, O’Connor“, antwortete Brenner barsch.
An einer Wand waren die Tatortfotos aller drei Morde gepinnt und auf dem Tisch lagen die jeweiligen Autopsieberichte und das Gedicht.
Die Leiche war dieses Mal nicht mit einem Leinentuch zugedeckt gewesen. Sam zog daraus den Schluss, dass diesem Mord etwas sehr Persönliches anhing. Auch sonst hatte er stark den Eindruck, dass es eine Beziehung zwischen Täter und Opfer gegeben hatte.
Im Labor hatte man, wie schon erwartet, festgestellt, dass dieses Gedicht ebenfalls mit Blut der Blutgruppe A+ geschrieben worden war, außerdem befanden sich die Fingerabdrücke von Rafael Rodriguez auf dem Zettel, der ihn genau wie Dr. Rewe in die Hand genommen hatte, um zu sehen, was darauf stand und keinen Gedanken daran verschwendet hatte, ob er Spuren hinterlassen könnte.
Sam berichtete über den Tathergang der beiden anderen Morde und dann las Juri das Gedicht laut vor.
Die Zeit gibt das Leben, doch nimmt sie es auch
Es wächst, reift heran und bläht auf den Bauch.
Zum richtigen Zeitpunkt hat es keine Not.
Doch war es zu früh, ergreift es den Tod.
Der Zeiten Gesetz verändert man nicht
Verkürzt und verändert es Leben zerbricht.
Die wimmernden Schatten, die daraus entstehen
Sie irren umher, von keinem gesehen.
Der MKL kratzte sich am Hinterkopf, Maik sah abwechselnd mit fragendem Blick zu Juri und Sam, während Estelle Beauchamp ihre Brille abnahm und sich den Nasenrücken rieb. Sie sah auch ohne Brille ganz reizend aus, stellte Sam fest.
„O.k. unser Täter ist von seinen herkömmlichen Versen abgewichen und hat uns dieses Mal ein vollständiges Gedicht geliefert. Was ist Ihre Meinung dazu?“ Sam sah in die Runde von einem zum anderen. Keine Antwort. Alle blickten ihn erwartungsvoll an, als wäre er der rettende Anker. „Ich glaube, es geht hier um eine Schwangerschaft, etwas, das in einem Bauch heranwächst, ihn aufbläht. Alles ist gut, solange die Zeit eingehalten wird. Die neun Monate, denke ich mal … doch war es zu früh, ergreift es den Tod. Eine Frühgeburt? Denn die Gesetze der Schwangerschaft ändert man nicht. Vielleicht spricht er auch von einer Abtreibung. Genau das, was er im Grunde genommen mit seinem dritten Opfer gemacht hat, bei dem er den Fötus gewaltsam aus dem Mutterleib gerissen hat.“ Juri und er hatten lange gemeinsam über den Zeilen gesessen und gegrübelt, bis sie zu diesem Ergebnis gekommen waren, das er gerade vorgetragen hatte.
Fräulein Beauchamp nickte Sam anerkennend zu, was Juri mit Genugtuung registrierte.
„Und was sollen die anderen Verse bedeuten?“, fragte der MKL.
Auf dem Tisch lagen die drei Verse der ersten Opfer in einer Schutzhülle und ein kaum noch leserlicher blutverschmierter Papierstreifen, den man nach der Obduktion aus der Gebärmutter des letzten Opfers gefischt hatte.
„Diese Teilchen ergeben wiederum ein Gedicht für sich, wobei wir glauben, dass immer noch ein Puzzleteilchen fehlt. Ein Mord zwischen Anna Galanis und Jasmin Rewe. Bisher haben wir nichts finden können, was nicht heißt, dass er nicht begangen worden ist. Ich denke nur, dass Deutschland, Spanien und Frankreich nicht infrage kommen. Die Engländer ermitteln gerne für sich, vielleicht sollten wir dort mal anfragen, oder auch in Übersee. Amerika, Südamerika, Afrika oder Asien. Jedenfalls haben wir Folgendes, wenn wir die vier Verse zusammenfügen.“ Sam gab Juri ein Zeichen und der las laut vor:
Verlassen und leer muss werden der Leib
ob alt, ob jung, ob Mann ob Weib.
Doch wem gilt das Forschen, das Streben der Welt?
Ob Spender, Empfänger, es heilt keine Zeit
Gesunde zu Krüppeln, verstummt ist ihr Schrei
Der Tod als Erlösung, er machte sie frei.
Das Weiß der Götter mit Blut so befleckt
Der Strom des Todes die Erde bedeckt.
„Ich verstehe nur Bahnhof“, platzte der MKL hervor. „Was lässt Sie vermuten, dass da noch ein Mord fehlt?“
Juri erklärte es ihm geduldig und erntete weiterhin fragende Blicke. Den MKL hatte er schon von der ersten Minute an auf dem Kieker gehabt. Ein überheblicher, arroganter Sack, dachte er.
Aus dem iPhone war nun ein leises Klackern zu hören. Peter Brenner schien auf irgendetwas herumzutrommeln.
„Es gibt eine Verbindung zwischen den Eltern beziehungsweise Großeltern der Opfer, wie bei Anna Galanis. Dazu können wir sagen: Der eine war Hautarzt, der andere Orthopäde. Einem Opfer wurde die Haut abgezogen, dem anderen die Wirbelsäule durchschnitten. Die Großmutter des ersten Opfers hat in Auschwitz ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Trotzdem entging sie dem Prozess und eröffnete später in Heidelberg eine Praxis. Ihrer Enkeltochter wurde lediglich eine tödliche Injektion ins Herz gespritzt, genauso wie den anderen beiden Opfern. Eine Tötungsart, die in den KZs häufig angewandt wurde. Dann haben wir hier den Brief eines Arztes, sein Name war Ernst Ritter.“ Sam reichte den Brief zuerst an Fräulein Beauchamp weiter. „Er hatte diesen Brief angeblich 1960 am Strand von Rio geschrieben, abgeschickt wurde er jedoch aus Israel, genauer gesagt aus Jerusalem. Dort verliert sich seine Spur, aber wie wir wissen, war der israelische Geheimdienst hinter Kriegsverbrechern her, hat ihnen in Jerusalem den Prozess gemacht und sie hingerichtet. Das sind natürlich nur Vermutungen, aber …“
„Bisschen weit hergeholt, meinen Sie nicht?“, unterbrach ihn Wirsch. „Sie wollen uns doch wohl nicht erzählen, dass irgendein jüdischer Rächer nach fast 70 Jahren noch unterwegs ist. Entschuldigen Sie Herr O’Connor, aber bei allem Respekt, so einen Bullshit habe ich schon lange nicht mehr gehört. Die Überlebenden des Holocausts sind heute, wenn sie noch am Leben sind, um die siebzig oder achtzig Jahre alt.“
„Halten Sie den Mund, Wirsch.“ Brenners Stimme klang durch den Lautsprecher äußerst rau und genervt. Doch der MKL ließ sich nicht den Mund verbieten.
„Und wo sind die Väter jetzt?“
„Beide verstorben.“
„Das macht Sinn.“ Der MKL schüttelte missbilligend den Kopf.
„Er rächt sich an den Nachkommen“, warf Maik ein.
„Ja, sehr dramatisch.“
„Ist der Vater von Rafael Rodriguez auch Arzt?“, fragte Fräulein Beauchamp dazwischen.
„Das haben wir noch nicht in Erfahrung gebracht“, antwortete Sam und sah ihr länger als nötig in die Augen, woraufhin Estelle Beauchamp leicht errötete.
„Alles deutet doch darauf hin, dass er seine Frau selbst umgebracht hat und die anderen wahrscheinlich auch“, erwiderte Wirsch. „Er hat kein Alibi und seine Fingerabdrücke sind auf dem Gedicht.“
„Er war zum Zeitpunkt des zweiten Mordes nicht in Paris“, sagte Sam gereizt. „Eine Tatsache, die allen hier am Tisch Sitzenden bekannt sein sollte.“
„Vielleicht hat er einen Komplizen. Ganz klar ist, dass die beiden anderen Tatorte sehr sauber hinterlassen wurden. Sie tragen eindeutig eine andere Handschrift. Der Letzte war ja das reinste Gemetzel. Ein bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagenes Gesicht, ausgekugelte Arme, aufgeschnittener Unterleib, entrissener Fötus … Die Wut eines durchgeknallten, vielleicht betrogenen Ehemanns?“
Sam überflog noch einmal den Autopsiebericht. Es fehlte etwas. Eine Pause entstand, in der sich alle gegenseitig ansahen. Jeder hoffte, dass irgendjemand eine plausible Lösung vortrug.
„Denken Sie laut, O’Connor“, hörten sie Brenner sagen.
„Hier steht nichts von einer Injektion ins Herz, wie bei den anderen beiden Opfern. Das irritiert mich ein wenig.“
„Vielleicht hat er es in seinem Blutrausch vergessen“, kommentierte Wirsch und suchte bei Maik und Fräulein Beauchamp eine Bestätigung.
„Wir haben die kolumbianischen Behörden bereits über ihren Landsmann verständigt. Mal sehen was die für Informationen über ihn ausspucken“, sagte sie und nickte Sam aufmunternd zu.
Alle erhoben sich, als Juri Sam ein Foto reichte, auf dem man den rechten Arm der Toten sehen konnte. Er deutete stumm auf ein kleines Detail.
Sam kniff die Augen leicht zusammen, um besser sehen zu können und dann sah er, was Juri gemeint hatte. Er nickte bestätigend, schob die Fotos zusammen und steckte sie in die Akte.
„Von wegen siebzig und dick“, sagte Juri leise und zwinkerte Sam zu. Dann folgte er den anderen nach draußen.
„Sam, ich würde gerne noch einmal mit Ihnen sprechen.“ Estelle Beauchamp erhob sich und ging auf Sam zu. Sie blieb dichter als notwendig vor ihm stehen. „Ich fahre morgen erst wieder nach Den Haag zurück … Vielleicht könnten wir heute Abend gemeinsam essen gehen?“
Sam lächelte und nickte, als das Handy auf dem Tisch wieder zu sprechen begann. „Fräulein Beauchamp!! Ich möchte nicht Zeuge einer unsittlichen Begegnung werden. Schalten Sie sofort das Ding aus.“