9.

 

 

 

Nicki Hörner lebte etwas bescheidener, aber trotzdem stilvoll in einer kleinen Altbauwohnung in Winterhude. Sie war im Gegensatz zu ihren beiden Freundinnen natürlich schön, wie Sam feststellte und offenbar bisher kein Opfer irgendwelcher Schönheits-OPs geworden, was wiederum bedeuten konnte, dass sie das schwächste Glied in der Kette war. Vielleicht war sie diejenige, die nicht so ganz dazugehörte, weil sie weniger Geld besaß, unverheiratet war, keine Kinder hatte und die Hobbys der beiden anderen nicht teilte oder sogar eine Gegnerin dessen war. Bei Dreien war immer einer zu viel, dachte Sam und hoffte, dass er sie zum Reden bringen würde.

Aber er hatte sich geirrt, auch Nicki Hörner schwieg, obwohl sie sich als keine gute Lügnerin entpuppte. Als er sie fragte, ob sie von einer Affäre wüsste, verneinte sie und errötete dabei. Beide Freundinnen logen Stein und Bein, um … ja um was? Um Jasmin Rewes Ehre zu bewahren?

„Warum lügen die beiden wie gedruckt?“, fragte Juri und startete den Wagen. „Sie könnten einen Mörder überführen, stattdessen machen sie einen auf Musketierehre. Dämliche Kühe.“

„Vielleicht weil sie tatsächlich eine Affäre hatte, aber die beiden sich sicher sind, dass der Kerl damit nichts zu tun hat. Sie wollen nicht, dass der Ehemann und die Kinder davon erfahren. Sag mal bist du nicht auch Fisch?“

„Ja, warum?

„Na das erklärt dann so einiges.“ Sam grinste Juri an und der holte gleich zum Gegenschlag aus.

„Wundert mich eigentlich, dass dir das mit dem Handy nicht aufgefallen ist.“ Juri schlug sich gegen die Stirn. „Ach, ich vergaß, du hattest ja deine Brille nicht dabei.“

Sam schüttelte lachend den Kopf über Juri, der nicht gern einsteckte.

„Und was machen wir jetzt?“

„Auf ein Wunder warten“, bemerkte Sam knapp und erntete dafür einen ungläubigen Blick seines Partners, als sein Handy leise vor sich hinzuvibrieren begann. Sam meldete sich und hörte dreißig Sekunden zu, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Als er auflegte, grinste er spitzbübisch seinen Partner an. „Tja, man muss nur ans Wunder glauben. Sieht so aus, als hätte da noch jemand gelogen.“

 

Die Rewes wohnten in einer Nebenstraße im Stadtteil Klein Borstel, eine Gegend, die Sam unbekannt war, ihm aber gut gefiel. Hoher Baumbestand säumte die Straßen, gepflegte Vorgärten, schöne Altbauvillen zwischen modernen Häusern. Ähnlich wie die Gegenden am Rothenbaum und an der Elbe, die er noch vom letzten Mal in Erinnerung hatte.

Juri parkte den Wagen vor einer hübschen ockergelb-weißen Villa und verglich die Hausnummer mit der, die sie sich notiert hatten. In der Auffahrt standen drei Mercedeslimousinen. Juri sah ins Wageninnere des 500 SL und bewunderte die hellbraune Lederausstattung und die Armaturen aus Kirschholz. „Die Wirtschaftskrise scheint an manchen Leuten spurlos vorbeizugehen.“

Dr. Rewe öffnete persönlich den beiden Beamten die Tür und bat sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.

Während Juri auf einem Barhocker am Tresen Platz nahm, setzte sich Sam in die andere Ecke des Wohnzimmers in einen weinroten samtenen Sessel mit goldenen Lehnen, direkt Dr. Rewe gegenüber, der, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, wesentlich blasser, ja sogar krank aussah.

Dr. Rewe sah von Sam zu Juri und wieder zu Sam. „Und sind Sie mit Ihren Ermittlungen weitergekommen?“

„Ja, wir haben die beiden Freundinnen Ihrer Frau interviewt und ein paar interessante Dinge in Erfahrung gebracht.“

„So? Und was, wenn ich fragen darf?“ Dr. Rewe stand auf, ging an den Kühlschrank und holte eine Flasche Wodka aus dem Eisfach. „Möchten Sie auch einen?“

Sam lehnte dankend ab, tauschte einen kurzen Blick mit Juri aus und beobachtete den Arzt, wie er sich ein halbes Wasserglas Wodka einschenkte und die Hälfte davon in einem Zug trank.

„Entschuldigen Sie, aber ich habe das Gefühl, verrückt zu werden. Die Situation ist unerträglich. Ich fühle mich irgendwie schuldig, weil ich meine Frau mit nach Barcelona genommen habe.“

„Und eigentlich hatten Sie das gar nicht vor, nicht wahr?“

Juri sah auf und Dr. Rewe stellte das Glas ab. Niemandem im Raum war der lauernde Unterton von Sam entgangen.

„Ich dachte, es würde unserer Ehe guttun.“ Dr. Rewe schenkte sich noch einmal nach. „Wollen Sie mir irgendetwas unterstellen?“

„Wir haben erfahren, dass Sie sich in Ihren Urlauben gerne mal Prostituierte aufs Zimmer bestellt haben.“

„Es geht Sie doch nun wirklich nichts an, was ich in meiner Freizeit mache, meine Herren. Das ist ja unglaublich.“ Der Arzt mimte den Empörten. „Vor allem, was hat das mit dem Mord an meiner Frau zu tun? Seien Sie ehrlich, Sie haben überhaupt keinen Plan, sind keinen Schritt weiter und wollen mir, dem Nächstbesten, irgendetwas anhängen, weil Sie den Fall zu den Akten legen möchten und nach Hause zu Ihren Frauen und Kindern wollen.“ Dr. Rewe lachte höhnisch.

„Es gibt da so ein paar Ungereimtheiten, was Ihre Person angeht …“, begann Sam, ohne auf die Anschuldigungen einzugehen. „Sagten Sie nicht, Sie waren zwei Stunden mit einem Kollegen essen? So etwa zwischen drei und fünf Uhr?“

Dr. Rewe gefror das Lachen plötzlich im Gesicht. Er wurde ernst und massierte sich den Nacken. „Habe ich das gesagt?“

„Soll ich Ihnen Ihre eigene Aussage noch einmal vorlesen?“ Sam begann, den Ordner zu öffnen und die Blätter hin und her zu schieben.

„Nicht nötig“, lenkte der Arzt ein. „Na schön, dann war ich eben nicht so lange mit ihm essen. Und?

„Und?“ Sams Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. „Sie scheinen den Ernst der Lage nicht ganz zu begreifen. Wo waren Sie danach?“, fragte er scharf.

„Unterwegs.“

„Unterwegs?“, wiederholte Sam und sah den Mann an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.

Juri war jetzt aufgestanden. Dr. Rewe hatte es mit seiner herablassenden Art zu weit getrieben und er kannte Sam, wenn er wütend wurde. „Ziehen Sie sich eine Jacke an. Wir fahren zum Revier, Dr. Rewe.“

Der Arzt hob die Hände als Zeichen seiner Ergebung. „Ist ja gut.“ Er setzte das Glas erneut an und leerte es dieses Mal in einem Zug. Seine Augen waren inzwischen glasig, sein Ton leicht lallend. „Ich habe mich danach mit einer Frau getroffen. Sind Sie jetzt zufrieden?“

Juri und Sam tauschten wieder Blicke aus.

„Wie heißt die Frau?“, fragte Juri.

„Saida“, antwortete Dr. Rewe leise.

„Und weiter.“

„Das werden Sie mir jetzt sicher nicht glauben. Aber ich weiß es nicht. Ich habe nur eine Nummer von ihr. Sie ist eine Professionelle. Immer wenn ich nach Barcelona fahre, rufe ich sie an“, erklärte er mit Verzweiflung in der Stimme, als er die misstrauischen Blicke der beiden Polizisten sah.

„Vor einer Minute sagten Sie mir noch, dass Sie Ihre Frau mitgenommen haben, weil Sie dachten, es würde Ihrer eingerosteten Ehe guttun. Und jetzt erzählen Sie mir, Sie haben sich mit einer anderen Frau getroffen, während Ihre Frau allein im Hotelzimmer saß? Kommen Sie, Dr. Rewe, geben Sie sich bisschen mehr Mühe.“ Sam war laut geworden. Er hasste nichts mehr, als wenn er für dumm verkauft wurde. „Erzählen Sie uns, was wirklich passiert ist zwischen vier und sechs Uhr nachmittags.“

Der Arzt wischte sich unbeholfen mit dem Handrücken über den Mund. Sein Lallen war jetzt stärker geworden.„Ich … ich hatte mich seit drei Wochen auf diese Reise gefreut.“ Ein Leuchten flackerte in den Augen des Mannes auf. „Und dann …“

„Kam Ihre Frau dazwischen und wollte mit“, warf Sam ungerührt ein.

Dr. Rewe griff sich wieder an seinen Nacken und atmete laut aus. „Diese Frau ist einfach einzigartig. Sie macht eben Dinge, die meine Frau strikt abgelehnt hat.“ Er verdrehte die Augen. „Ach, was sage ich, sie wurde geradezu hysterisch, als ich ihr von meinen Vorlieben erzählte.“

„Welche Vorlieben sind denn das?“ Sam hatte die verschiedensten Bilder vor Augen, von Auspeitschen in Lack und Leder bis zu Nadeln durch die Brustwarzen stecken, aber als Dennis Rewe von seiner besonderen Vorliebe erzählte, zog sich doch etwas in seinem Unterleib zusammen.

Saida war eine Domina, die sich auf Harnröhrenerweiterung spezialisiert hatte.

Auch Juri hatte bei den Schilderungen die Luft angehalten und es im Stillen mit mittelalterlichen Foltermethoden verglichen. Er schrieb sich nun die spanische Nummer der Frau auf, während er immer wieder zu Sam rübersah.

„Wir werden das überprüfen“, sagte Sam, während er wieder das Vibrieren seines Handys in seiner Tasche spürte. Er ignorierte es und überlegte, was er Dr. Rewe unbedingt noch hatte fragen wollen, als Juri ihm zuvorkam.

„Wer hat von Ihrem Treffen gewusst. Ich meine, Sie haben doch Ihr Date organisieren müssen. Was haben Sie Ihrer Frau erzählt?“

„Dass ich ein paar Geschäftstreffen habe und erst am frühen Abend zurück sein würde.“

„Und wann genau haben Sie Ihr das gesagt?“

„Ach du liebe Zeit. Das weiß ich doch jetzt nicht mehr.“ Dr. Rewe tippte sich an die Stirn, als würde es seiner Erinnerung helfen. Er hielt sich leicht schwankend am Tresen fest und setzte sich schließlich neben Juri auf einen Barhocker.

„Na ja, vor der Reise, im Flugzeug, auf dem Hotelzimmer, per SMS … denken Sie nach“, bohrte Juri weiter.

Sams Handy vibrierte weiter, bis er sich doch entschied, den Anruf entgegenzunehmen. Er stand auf, um auf die Terrasse zu gehen. „Entschuldigen Sie mich.“ Plötzlich fiel ihm seine Frage wieder ein. „Ach, hat sich eigentlich inzwischen Ihre Zimmerkarte wieder angefunden?“

Dr. Rewe beantwortete die Frage kopfschüttelnd und senkte dann den Blick auf seine gegeneinander reibenden Fingerkuppen.

Zu Sams Überraschung war Nicki Hörner am Apparat, die ihm schluchzend erklärte, dass ihre Freundin Jasmin eine Internetbekanntschaft gehabt hatte. Auf ihrer Mailbox war eine Nachricht von Jasmin gewesen, die sie aber gerade eben erst abgehört hatte. Darauf hatte sich ihre Freundin aufgeregt angehört und hatte wissen wollen, ob Nicki irgendjemandem gegenüber ihre Reise nach Barcelona erwähnt hätte, oder ob ihr jemand an ihrem Geburtstag im Café aufgefallen sei. Sie sollte sie unbedingt zurückrufen.

Nicki bestätigte Sam, dass sie an dem Geburtstag ihrer Freundin einen Mann mit einer Zeitung bemerkt hätte, der zwei Tische weiter gesessen und eine halbe Stunde oder länger auf ein und dieselbe Seite gestarrt hatte.

Juri hatte offensichtlich richtig beobachtet. Jasmin hatte entweder, kurz bevor sie in den Fahrstuhl getreten war oder kurz danach telefoniert. Er musste sich die Aufzeichnungen noch einmal dazu ansehen.

 

Dr. Rewe hatte den Laptop seiner Frau den beiden Beamten ohne Murren ausgehändigt und dieser stand nun auf Juris Schreibtisch und wartete darauf, dass man ihm sein kleines Geheimnis entlockte.

Vom Bildschirmschoner lächelte ihnen eine glückliche Familie entgegen. Eine Familie, die es so nicht mehr geben würde, dachte Sam, während Juri von Ordner zu Ordner sprang, Dateien und Fotoalben öffnete, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das sie in der Sache Internetbekanntschaft weiterbrachte. Im Download wurde er schließlich fündig: ein abgespeicherter Chat mit dem Datum von vor einem Monat. Er druckte ihn aus und schob ihn zu Sam, der gedankenverloren neben ihm am Tisch saß und sich vorstellte, wie Dr. Rewe sich eine ein Zentimeter dicke Sonde bis zum Anschlag in die Harnröhre schieben ließ und dabei zum Höhepunkt kam.

„Na, du denkst gerade an die spanische Domina und Dr. Rewes perverse Sexpraktiken. Stimmt’s?“, stellte Juri mit einem Blick in Sams schmerzverzerrtes Gesicht fest.

„Kannst du Gedanken lesen?“

„Deine Gesichtszüge waren gerade ziemlich angespannt, da dachte ich, es kann sich nur um die bildhafte Vorstellung von urologischen Spielchen handeln.“

Sam schüttelte sich und begann zu lesen:

Picasso: Hi

Sonnenschein: Hi

Picasso: Schön, dass du kommen konntest.

Sonnenschein: Ich sagte ja, ich versuche es.

Picasso: Ich habe gestern Nacht darüber nachgedacht, was hier mit uns passiert. Ich fühle, dass wir auf einer Ebene sind und das hat … wie soll ich sagen, ziemlich starke          Gefühle bei mir geweckt. Gefühle, die ich schon lange nicht mehr hatte.

Sonnenschein: Ich weiß. Mir geht es nicht anders.

Picasso: Ist dir klar, dass das hier der Anfang einer großen Liebe sein könnte? Das werden wir aber erst wissen, wenn wir den nächsten Schritt wagen. Den Schritt aus der Virtualität.

Sonnenschein: Hm. Ich weiß nicht. Und was ist, wenn deine oder meine Erwartungen nicht erfüllt werden?

Picasso: Wir sind beide zu lange durch die Wüste gegangen, ohne Wasser. Wir sind ausgetrocknet. Es wird Zeit, die Pflänzchen zu gießen.

Sonnenschein: Wir sollten nichts übereilen.

Picasso: Du versteckst dich schon wieder. Ich hab die Nase voll vom Warten. Ich brauche endlich wieder jemanden an meiner Seite. Ich will mir nicht mehr nur der einzige Halt sein.

Picasso: Hallo? Bist du noch da?

Sonnenschein: Ja. Ich bin müde. Lass uns morgen weiterreden.

Picasso: Es macht mich verrückt, dir nicht in die Augen sehen zu können, dich riechen zu können, deine Bewegungen zu sehen, dich reden zu hören. Ich drehe durch.

Sonnenschein: ☺ Bis morgen.

Sonnenschein hat den Chat verlassen.

 

Der Mann klang regelrecht verzweifelt und ausgehungert nach Liebe. „Gibt es nur den einen?“, fragte Sam und rieb sich die Augen, die ihm etwas wehtaten, nachdem er sich angestrengt hatte, die kleinen Buchstaben zu entziffern. Er würde sich nun endlich mal daran gewöhnen müssen, seine Lesebrille bei sich zu tragen.

„Bisher konnte ich keinen Weiteren finden.“ Juri klickte sich immer noch durch die Menge von Dateien.

„O. k., dieser ein Monate alte Chat sagt uns nur, dass da jemand war. Aber treffen wollte sie sich nicht mit ihm, was die Aussage von Nicki Hörner untermauern würde.“

„Vielleicht hat sie sich aber doch in der Zwischenzeit mit ihm getroffen und hat es ihren Freundinnen nur nicht gesagt“, bemerkte Juri.

„Ja, möglich wäre es. Hatte ich dir schon gesagt, dass er wohl aus Hamburg kommt. Das schränkt den Suchradius etwas ein.“ Sam musste über seine eigene Bemerkung lachen, während er große Kreise auf ein Blatt Papier malte. Die Bewegung hielt ihn davon ab, die Augen zu schließen und sofort einzuschlafen.

„Nichts leichter, als jemand mit dem Pseudonym Picasso in Hamburg zu finden.“

„Dachte ich‘s mir.“ Sam unterdrückte einen Gähner. „Warum hat sie ausgerechnet den gespeichert?“

Juri zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat sie auch nur vergessen ihn zu löschen. Keine Ahnung. Oder ich finde die anderen Chats auch noch irgendwo.“ Juri sah auf Sams Kreise, die immer dunkler wurden, je mehr Umdrehungen er mit dem Kugelschreiber machte.

Der Mann war in der Hoffnung gewesen, seine große Liebe gefunden zu haben, dachte Sam. Er selbst hatte sie auch mal gefunden und gehen lassen. Er würde viel Zeit brauchen, bis er wieder einen Menschen in sein Leben lassen würde.

„Vielleicht haben sie sich getroffen, und da sie ihn laut Nicki Hörner, ausgesprochen hässlich fand, hat sie ihn abblitzen lassen oder sogar beleidigt und er, schwer gekränkt, hat sich an ihr gerächt. Vielleicht gibt es noch weitere Vergleichsfälle. Anzeigen wegen Belästigung oder ähnlichem nach einem Internetkontakt. Wir sollten auch danach die Datenbanken durchgehen.“

„Und um sich zu rächen, ist er ihr direkt nach Barcelona gefolgt? Halte ich für Blödsinn. Außerdem wäre es dann ein Mord im Affekt. Dieser hier war von langer Hand geplant. Nein, zurzeit ist noch alles offen, Kleiner. Es ist auch gut möglich, dass jemand aus einer Laune heraus Frau Rewe getötet hat. Das würde bedeuten, keine Täter-Opfer-Beziehung, kein wirkliches Motiv. Der Albtraum eines jeden Ermittlers.“ Sam rieb sich wieder über die Augen und gähnte. „Ich bin müde, machen wir Schluss für heute.“

Der Monitor des Computers warf einen bläulichen Glanz auf Juris junges Gesicht. Er nickte und fuhr den Laptop runter.

„Wo der Chat stattgefunden hat, kann man nicht rausfinden, oder?“

„Weißt du, wie viele Chaträume es gibt?“

Sam winkte ab und zog sich eine wattierte Jacke über, die Juri ihm geliehen hatte. „Ich weiß. Hunderte, Tausende. Aber vielleicht sollten wir mal die gängigsten Partnersuchseiten durchforsten. Dann sollten wir in diesem Café in Eppendorf nachfragen, ob der Mann mit Mütze bei der Belegschaft einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Wenn wir Glück haben, hat er mit Karte bezahlt.“

„Das wäre schön. Ich melde mich morgen bei ein paar Seiten an und setze das schönste Bild meiner Schwester rein.“

„Du hast eine Schwester?“

„Ja. Sie lebt in Sibirien.“

Sam überlegte, ob Juri einen Scherz gemacht hatte, aber er verzog keine Miene. Er musste sich eingestehen, dass er nicht allzu viel über seinen Partner wusste, was ihn etwas beschämte. Immerhin arbeiteten sie eng zusammen, da sollte er ein bisschen mehr Interesse zeigen. Nur jetzt war er zu müde. Es würden sich sicherlich noch viele Gelegenheiten ergeben, mehr über Juris Geschichte zu erfahren. Sam verabschiedete sich und fuhr in sein Hotel in der Innenstadt.

Die Temperaturen waren unter den Nullpunkt gesunken. Es war saukalt, und in Sam kamen der Wunsch und das dringende Bedürfnis hoch, nach langer Zeit mal wieder warme Sonnenstrahlen auf seiner Haut zu spüren und das Meer zu riechen.

Im Hotelzimmer angekommen legte er sich angezogen auf sein Bett und versuchte, seine Gedanken abzuschalten. Immer wieder ging ihm der Zweizeiler durch den Kopf. Dieser Schnipsel war das Einzige, was in dem ganzen Fall keinen Sinn machte und ihm wollte partout auch nichts dazu einfallen. Er nahm die Akte vom Nachttisch und schlug sie auf.

Jasmin Rewe war um 14.27 durch die Lobby zum Fahrstuhl gegangen. Um 14.40 hatte sie auf Nicki Hörners Mail-Box gesprochen. Das bedeutete, dass sie allein gewesen sein musste. Plötzlich kam in Sam das unbestimmte Gefühl hoch, dass sie einer völlig falschen Spur nachgingen. Er legte die Akte beiseite, drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Wilde springende Flecken in rot, gelb und braun tanzten vor seinen inneren Augen, sodass er sie wieder öffnete. Den Blick an die dunkle Zimmerdecke gerichtet, formte sich dort in leuchtend roten Buchstaben plötzlich ein Satz.

Sam machte die Augen wieder zu, wollte sich ablenken, indem er an Lina dachte. Aber mit ihr kam der Schmerz. Der Schmerz war wie ein wildes Tier, das in seinem Körper gefangen war und dort wütend herumtobte. Und es forderte die Freilassung. Seit zwei Wochen war er nun in psychiatrischer Behandlung. Er hatte die Hoffnung gehegt, durch Reden sich davon befreien zu können, aber der Schmerz war immer noch so tief, dass er manchmal kaum atmen konnte. Er war immer schon ein Meister der Verdrängung seiner Gefühle gewesen. Jede Verletzung seiner Seele hatte er weggesteckt oder tief im bodenlosen Abgrund seines Unterbewusstseins begraben. Jetzt quoll es hervor wie der Müll aus einem übervollen Container. Er hatte sich als Pfeiler gesehen, als Pfeiler für seine Schwester Lily, seine Umgebung, sogar für sich selbst. Nie hatte er sich Schwächen erlaubt und galt auch unter Kollegen als stabil, in sich ruhend und ausgeglichen. Linas Tod hatte ihm endgültig den Boden unter den Füßen weggerissen und ihm vor Augen gehalten, dass er eben nicht unfehlbar war. Er öffnete wieder die Augen und sah den Satz immer noch an der Decke stehen: Er tötet wieder.

Er stöpselte sich die Kopfhörer seines I-Pods in die Ohren und lauschte den ruhigen Klängen eines Klavierkonzerts von Chopin. Eine Weile betrachtete er das Foto von Lina, legte es auf seinen Bauch und nahm ihr Gesicht zehn Minuten später mit in seinen Traum.

 

 

Orchideenstaub
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