II.TEIL
KOLUMBIEN
46.
Lea hatte die Schlüssel wieder an ihren Platz gelegt, vorher jedoch noch Kopien davon machen lassen, damit sie sich jederzeit Zugang zu dem mysteriösen Gang verschaffen konnte. Obwohl sie Angst hatte, das Geheimnis des Ganges und das, was sich dahinter verbarg zu lüften, hatte sie sich genau das vorgenommen. Koste es, was es wolle.
Am frühen Morgen rief Rafael an, um ihnen mitzuteilen, dass er gedachte, seine Reise frühzeitig abzubrechen und kündigte den Besuch eines Bekannten an, den er mitbringen wollte. Einen Arzt, den er auf einem Kongress kennengelernt hatte. Aleida sollte das Gästehaus für den Besuch fertigmachen. Dass Aleida gar nicht mehr unter ihnen weilte, behielten sie erst einmal für sich. Es würde ein Schock für ihn sein, dachte Lea, und beobachtete ihren Vater, wie er zitternd die Tasse Kaffee zum Mund führte. Dieses Mal kleckerte er sich nicht den Latz voll.
Wenn sie es sich recht überlegte, konnte sie sich gut vorstellen, dass ihr Vater eine Menge Dreck am Stecken hatte. Nie waren viele Worte über seine Kindheit oder Jugend gefallen, noch waren sie in den Genuss gekommen, ihre Großeltern väterlicherseits kennenzulernen. Es war, als würde ein Leben vor ihnen gar nicht existieren. Selbst ihre Mutter wusste nicht allzu viel über ihn zu erzählen, oder wollte sie vielleicht auch nicht. Aber dass Rafael sich in was auch immer hatte reinziehen lassen, konnte sie nicht glauben. Er war ein guter Mensch.
Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Die eiskalten stahlblauen Augen ihres Vaters durchbohrten sie, als könnte er ihre Gedanken lesen. War ihm vielleicht doch aufgefallen, dass die Schlüssel nicht mehr an ihrem Platz lagen? Oder hatte das Gedächtnis ihrer bekloppten Schwester doch länger angehalten, als erwartet und sie hatte Lea verpetzt? Leas Nase und Hände wurden ganz kalt vor Schreck, aber sie hielt dem Blick stand und brachte sogar ein Lächeln über die Lippen, das nicht erwidert wurde.
„Lea, ich möchte mit dir reden. Fahre mich in mein Zimmer.“ Im Gegensatz zu seinem gebrechlichen Körper war die Stimme fest und duldete keinen Widerspruch.
Lea ging hinter seinen Rollstuhl und schob den Greis den langen Flur hinunter. Sie versuchte ihre innere Aufregung zu kontrollieren, die ihr schier den Atem nahm. Konnte sie sich doch noch allzu genau an die Ängste in ihrer Kindheit erinnern, die sie allein schon beim Erscheinen ihres Vaters verspürt hatte. Einmal hatte er sie wegen Nichtgehorsams so mit dem Gürtel verprügelt, dass die Narben auf dem Oberschenkel heute noch zu sehen waren.
Als sie das Zimmer des alten Mannes erreichten, hievte sie etwas umständlich den Rollstuhl über die Schwelle.
„Was hast du in meinem Zimmer verloren gehabt, Lea?“
„Die Tür war offen und ich habe ein Geräusch gehört, als ich zur Toilette ging.“
„Und? Was hatte das Geräusch verursacht?“, fragte ihr Vater in zynischem Unterton.
„Es war der Fensterladen. Er war offen gewesen und der Wind hatte ihn gegen das Fenster geschlagen. Ich habe ihn festgemacht.“
Lea wich dem Blick ihres Vaters nicht aus. Sie wusste, wenn sie das tat würde er erkennen, dass sie log.
„Geh. Verschwinde“, sagte er kalt.
Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Ihr Herz raste, als sie den Flur zurückging und dann hörte sie, wie eine Schublade aufging und das Geräusch, wenn Metall auf Metall stieß. Ihr Vater hielt gerade den Schlüsselbund in der Hand und Lea legte einen Schritt zu.