38.

 

 

 

KOLUMBIEN  Lea huschte über den hell erleuchteten Gang im Untergeschoss des Heimes. Es roch nach abgestandener Luft und vor allem nach Formaldehyd. Aus dem Autopsieraum drang leise Salsamusik an ihr Ohr.

Hier unten wurden die Verstorbenen obduziert und für die Beerdigung, sofern es eine gab, vorbereitet. Ein zusätzlicher Service des Heimes, den schon ihr Vater eingeführt und ihr selbst auch die Möglichkeit gegeben hatte, die eine oder andere Krankheit etwas genauer zu untersuchen.

Lea sah durch die kleine kreisrunde Scheibe oberhalb der Schwingtür.

Oscar, der Leichenpräparator war gerade dabei, einen verstorbenen Aidspatienten zu obduzieren. Plötzlich hielt er inne und sah direkt in ihre Richtung. Er musste bemerkt haben, dass das Licht im Gang angegangen war. Das Licht war an Bewegungsmelder gekoppelt und ging jedes Mal automatisch an, wenn jemand den Gang betrat.

Lea duckte sich schnell, lief zur nächsten Tür und versteckte sich im Türrahmen. Sie hörte, wie die Schwingtür aufging und Oscar ein „Hallo“ in den Gang rief. Sie wartete einige Minuten, bevor sie wieder aus ihrem Versteck heraustrat. Alles war jetzt ruhig.

Nathalia hatte versprochen dafür zu sorgen, dass sie im Aktenraum ungestört bleiben würde. Sie wollte die Nachtschwester und einen Pfleger in Schach halten bis Lea ihr eine SMS sandte.

Endlich stand sie in dem fensterlosen Kellerraum. Hier drin war es stickig und roch nach altem Papier. Bis zur Decke lagen Akten von Patienten gestapelt, die seit der Gründung des Heimes, hier ein- und ausgegangen waren. Bisher hatte niemand die Zeit gefunden, sie zu katalogisieren, geschweige denn die Daten in den Computer einzugeben.

  Mit der Taschenlampe leuchtete Lea jeden Winkel des Raumes ab. In einer Ecke standen drei neuere verschlossene Aktenschränke. Sie holte die kleinen Schlüssel aus ihrer Hosentasche und öffnete einen nach dem anderen. Zwölf Namen standen auf ihrer Liste. Sie begann mit dem Jungen Alfonso Villegas, den sie auch persönlich gekannt hatte.

Alfonso Villegas war ganz plötzlich an Nierenversagen gestorben. Zwei Monate nachdem seine Familie nicht mehr für die Medikamente und Behandlungen aufgekommen war und ihn auch nicht mehr im Heim besucht hatte. Der kleine Körper war verbrannt worden. Autopsie: R. Rodriguez, darunter stand seine Unterschrift.

Lea suchte weiter. Die Blumenfrau: Verstorben an Herzversagen. Keine Verwandten. Ebenfalls verbrannt. Autopsie: R. Rodriguez.

Und so ging es weiter. Bis auf zwei Fälle waren alle letztes Jahr Verstorbenen von ihrem Bruder eigenhändig obduziert und anschließend verbrannt worden. Davon sechs, die physisch kerngesund und nur geistig nicht auf der Höhe gewesen waren.

Lea rieb sich über das Gesicht. Warum sollte ihr Bruder diese Patienten getötet haben? Das Heim lebte seit seiner Gründung von großzügigen Spenden. Die Vision ihres Vaters war es gewesen, auch den armen Behinderten die Möglichkeit einer medizinischen Hilfe zu bieten. Er war in den siebziger Jahren in medizinischen Kreisen hoch angesehen gewesen für seine mildtätige Institution.

Irgendetwas musste sie übersehen haben. Aber die Berichte gaben nichts weiter her. Sie würde ihren Bruder zur Rede stellen, sobald er wieder zurück war. Noch einmal sah sie sich im Raum um. Sie konnte nichts weiter Ungewöhnliches entdecken.  Schließlich hinterließ sie alles, wie sie es vorgefunden hatte und trat auf den Gang hinaus. Wieder ging das Licht automatisch an.

Lea hatte gerade die Hälfte zwischen Aktenraum und Fahrstuhl erreicht, als sie sah, dass die Anzeige des Fahrstuhls leuchtete. Jemand fuhr nach unten. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Wo sollte sie hin? Es war zu spät, um zurückzulaufen und sie war zu weit weg von der letzten Türnische. Es blieb nur der Obduktionsraum.

Oscar war gerade dabei ein paar Innereien zu wiegen. Er stand mit dem Rücken zu ihr.

Lea schlüpfte hinein und versteckte sich unter einer Bahre. In dem Moment ging die Tür auf und die Nachtschwester sagte: „Kaffeepause, Oscar.“ Darauf folgte ein Giggeln, ein Schmatzen, irgendetwas zerriss und dann wurde Lea unfreiwillig Zeugin obszöner Worte und dem Geräusch dumpfen Aufeinanderprallens menschlicher Leiber.

 

 

Orchideenstaub
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