31.
MÜNCHEN „Goethe sagte schon sehr richtig: Im Grunde ist der Mensch zu allem fähig.“
Schlaue Sprüche waren das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. „Ist das alles was Sie mir sagen können, Dr. Jäger?“, fragte Sam aufgebracht. Am liebsten hätte er diesen Therapeuten mit seinem mitleidsvollen Lächeln am Kragen gepackt und wachgerüttelt.
Alle warteten gespannt darauf, dass der Mörder wieder zuschlug und ein weiteres grauenvoll hingerichtetes Opfer zu bedauern war.
„Wieder wird ein unschuldiger Mensch sterben, weil da ein lebender emotionaler Sprengsatz durch die Gegend läuft. Das ist doch pervers!“ Sam war wütend. Wütend auf sich, dass ihm noch keine zündende Idee eingefallen war, wütend darauf, dass er den nächsten Schritt dieses Mistkerls nicht im geringsten vorhersehen konnte, wütend auf die Gesellschaft, die solche schizoiden Missgeburten hervorbrachte und wütend auf seinen Therapeuten, der ihn gerade blöde ansah und irgendwelche Notizen über ihn in sein Heftchen schrieb, um sie später psychologisch auszuwerten.
„Ich weiß, wie Sie sich gerade fühlen. Es ist wie eine Art Ohnmacht, Sie haben das Gefühl, lebendig begraben zu sein, aber das geht vorbei.“
Phrasen über Phrasen, die er nicht hören wollte.
„Vergessen Sie nicht, Sam, Sie waren in den letzten Monaten psychisch relativ instabil. Nach dem Tod Ihrer Freundin haben Sie sich das erste Mal in Ihrem Leben gehen lassen. Haben zugemacht, Ihnen war plötzlich alles egal. Sie haben nicht mehr den Starken gespielt und das war eine Art innere Heilung für Sie, glauben Sie mir. Ein Mensch wird krank, wenn er seine Gefühle nicht zulassen kann und sie ständig unterdrückt.“
Es war Sams vierte Sitzung und es war das dritte Mal, dass Dr. Jäger ihm das im selben Wortlaut erzählte. „Bullshit, meinen Sie im Ernst, das interessiert auch nur einen Menschen da draußen, wie es hier drinnen aussieht?“ Sam tippte energisch auf sein Herz. „Wichtig ist, dass man funktioniert.“
In der Nacht hatte er die meiste Zeit wach gelegen, obwohl er todmüde gewesen war, und sich gefragt, was das alles für einen Sinn machte. Wollte er wirklich sein Leben weiterhin damit verbringen, irgendwelche kranken Seelen zu jagen, die jeden Tag aufs Neue wie Unkraut wucherten. Bei achtzig Prozent der Serientäter konnte man bereits Konflikte in der Kindheit mit einem der Elternteile feststellen. Achtzig Prozent! Wie viele asoziale Familien gab es auf diesem Erdball, die der Nährboden für potenzielle Mörder waren? Menschen, die in ihrer Kindheit verprügelt, gequält, missbraucht, gedemütigt, verachtet und tief enttäuscht wurden, die ihre seelischen Verletzungen in extreme Gemütsarmut und Teilnahmslosigkeit gegenüber ihrer Umgebung verwandelten. Und irgendwann wurden sie auf die Menschheit losgelassen und der aufgestaute Hass entlud sich wie bei einem Überdruckventil. Sie töten wie im Rausch.
Nur der Mörder, mit dem er es zutun hatte, tötete nicht im Rausch. Er war kontrolliert und organisiert. Keine Anzeichen von Impulsivität oder Töten im Affekt. Er war weder ein religiöser Fanatiker und nicht sexuell orientiert, noch ein Raubmörder, obwohl er eine Uhr und ein paar Diamantohrringe gestohlen hatte. Hatte er die Schmuckstücke mitgenommen, um sie jemandem zu schenken, oder vielleicht, um sie zu verkaufen? Jasmin Rewe hatte auch Schmuck getragen, doch an ihr hatte nichts gefehlt, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte, oder war es nur nicht sein Stil gewesen? Auf jeden Fall handelte es sich nicht um Erinnerungsstücke an seine Opfer. Es schien, dass dieser Mann seinen eigenen Krieg führte und Krieg war pure Gewalt. Gewalt wurde eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen.
„Sam? Es ist gut, wenn Sie Ihrem Ärger Luft machen.“
Der Therapeut sah auf die Uhr. Anscheinend war ihm heute die Sitzung mit Sam zu anstrengend und er wäre froh, wenn er ihn endlich los wäre.
„Manchmal muss man loslassen, um weiterzukommen. Vielleicht sollten Sie mal einen Tag etwas ganz anderes machen, gar nicht an den Fall denken.“
„Sie sind ein richtiger Sesselfurzer, Dr. Jäger. Sie wissen selbst, dass ich erst seit Kurzem wieder dabei bin, da kann ich mich nicht einfach so …“ Sam schnippte mit den Fingern in die Luft „wieder ausklinken und sagen, ich hab Migräne.“ Er erhob sich von dem blauen Sofa, griff nach seiner Jacke und verließ die Praxis, als Dr. Jäger ihm noch hinterherrief: „Trotzdem denke ich, Sie sollten sich einen Tag freinehmen. Fahren Sie nach Malaga und klären Sie Ihre Erbschaftsangelegenheit.“
Juri wartete in einer nahegelegenen Bäckerei, trank einen Kakao und las Zeitung, als Sam von seiner Therapiesitzung kam. Diese Sitzungen waren ihm von oberster Stelle zwar sehr ans Herz gelegt worden, aber Sam entschied nach dem heutigen Tag, das Dr. Jäger genug zu seiner Genesung beigetragen hätte und er seine schlauen Sprüche nun jemand anderem erzählen könnte.
„Wow, du siehst aus, als hättest du jemanden den Arsch aufgerissen?“, stellte Juri fest, nachdem er Sams grantigen Gesichtsausdruck gemustert hatte.
„Was gibt´s Neues?“, fragte Sam, ohne auf Juris Kommentar einzugehen.
„Alles bereitet sich auf den großen Ärztekongress in Berlin vor. Zivileinheiten sind in und vor den meist besuchten Hotels abgestellt worden. Das Personal wird genauestens überprüft, damit sich keiner unbefugt Zutritt verschaffen kann und alle tragen einen grünen Punkt auf der Uniform. Kameras sind zusätzlich installiert worden. Und es ist bisher noch kein weiterer Mord passiert, soweit ich weiß.“
„Das ist ja beruhigend zu wissen“, sagte Sam trocken. Seit er die Praxis verlassen hatte, spukte ein Gedanke in seinem Kopf herum, der ihn nicht mehr loslassen wollte.
„Ich glaube, ich hole mir ein Ticket und kläre die Sache mit dem Erbe.“
„Was jetzt?“
„Ja, uns sind zurzeit eh die Hände gebunden. Wir können nur abwarten. Es kann heute was passieren, oder erst nächste Woche oder in einem Jahr, oder auch gar nicht mehr. Vielleicht hat er seine Rache gehabt. Alle möglichen Opfer auf dem Foto sind tot oder nicht auffindbar. Keine brauchbaren Spuren bei den Tatorten, die uns weiterbringen könnten. Wir haben nichts, außer seine dämlichen Verse und eine Blutgruppe. Nicht mal ein Motiv. Das ist grandios.“
„Gut, ich sehe schon, du bist nicht in bester Stimmung.“
„Was soll das jetzt heißen.“
„Dass du dir einen Flug buchen solltest. Ich halte so lange die Stellung.“
Sam sah Juri misstrauisch an. Er wusste nicht, was er von seiner Reaktion halten sollte. Aber sie gefiel ihm. Juri war gelassen, während er selbst gerade in einer streitsüchtigen Stimmung war.
„Los, worauf wartest du. Mittwoch fängt der Kongress an, dann sollten wir in Berlin sein.“
„Ja, doch, warum nicht. Berlin, Frankfurt, Mailand, Zürich, Madrid, wer weiß, wo dieses Arschloch als Nächstes auftaucht und seine vielsagenden Zettelchen hinterlässt.“
„Du glaubst also, dass Berlin Quatsch ist?“
Sam zuckte resignierend mit den Schultern, als sein Handy plötzlich eine Musik spielte, die er definitiv nicht eingestellt hatte.
Juri unterdrückte ein Lachen, während Sam ihm gegen die Rippen haute.
„Du sollst nicht mit meinem Handy spielen. Was ist das überhaupt?“
„Die Musik aus der amerikanischen Serie Hawaii 5-0. Lief bei uns in den 70ern, wie Kojak und Starsky und Hutch. Müsstest du aber noch aus deinen Kindertagen kennen. Ist halt schon älteres Kaliber. Ist doch cool oder, besser als dein anderes Gebimmel.“
Sam schüttelte missbilligend den Kopf, während er den Namen auf dem Display las. Für einen Moment hielt er die Luft an und die Straßengeräusche um ihn herum nahm er nur noch wie durch einen Filter wahr.
„O’Connor!“
„Ja“, sagte er vorsichtig und machte sich darauf gefasst, die nächste Schreckensnachricht zu hören, aber Estelle Beauchamp sagte lediglich: „Wir haben noch jemanden von dem Foto gefunden.“
Keine halbe Stunde später standen Sam und Juri vor einem grauen dreistöckigen Mietshaus aus den sechziger Jahren und drückten auf den Klingelknopf, der neben dem Namen D. Thiel stand.
Sam trat zwei Schritte von der Tür weg, damit man ihn besser von den oberen Fenstern aus sehen konnte. Alte Leute waren heutzutage vorsichtig und ließen meist keine Unbekannten ins Haus. Tatsächlich bewegte sich jemand hinter einer Gardine und kurz darauf ertönte der Türsummer.
Die Wohnung lag im zweiten Stock. An der Wand direkt gegenüber der Eingangstür hing ein Poster von Clint Eastwood aus jungen Jahren mit einem qualmenden Zigarillo im Mund. Er betrachtete die Ankömmlinge argwöhnisch durch ein zusammengekniffenes Augenpaar.
Sie stellten sich beide noch einmal vor und zeigten ihre Dienstausweise, bevor sie die kleine, sehr gepflegte Wohnung von Doris Thiel betraten.
Im Wohnzimmer standen ein antikes abgewetztes Ledersofa und zwei dazu passende Ledersessel, auf denen Juri und Sam Platz nahmen.
Ein kleiner Hund beschnüffelte erst Juri und dann Sam, bevor er auf den Schoß seiner Herrin sprang und sich genüsslich im Nacken kraulen ließ. „Dann schießen Sie mal los, meine Herren. Es klang sehr … na, wie soll ich sagen … dringend, dass Sie mich sehen wollten.“
Als Sam den Namen ihres Vaters erwähnte, war es, als würde sich ein dunkler Schatten auf Doris Thiels Gesicht legen. Ihre Augen wirkten plötzlich kalt, ihr Kiefer und ihr Körper waren angespannt. Trotzdem gab sie sich keine Blöße und versuchte, weiterhin zu lächeln.
„Erkennen Sie darauf Ihren Vater?“ Sam beugte sich über den Holztisch, der zwischen ihnen stand, und reichte ihr die alte schwarz-weiß Fotografie.
Doris Thiel griff nach ihrer Brille, die an einer bunten Perlenkette hing, und hielt sie dicht vor das Foto. „Oh ja. Unverkennbar.“ In ihrer Stimme schwang jetzt eine Mischung aus Verachtung, Angst und Zorn mit. „Es ist der Mann in der Mitte in der ersten Reihe.“
„Erkennen Sie vielleicht noch jemanden auf dem Foto?“
Dieses Mal ließ sie sich mehr Zeit. Erst nach einer Weile sagte sie leise: „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber dieser Mann hat meiner Mutter mal persönlich einen Brief vorbeigebracht.“
Sam und Juri waren gleichzeitig aufgesprungen und um den Tisch herumgegangen, um genau zu sehen, auf wen Frau Thiel zeigte. Ihr Finger deutete auf den Kopf eines hochgewachsenen Mannes, der direkt hinter Thiel stand. Er war dunkelhaarig, trug einen Seitenscheitel und lächelte in die Kamera.
„Sind Sie sicher?“ Sam versuchte, nicht allzu erwartungsvoll zu klingen.
„Ziemlich sicher. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil er mir damals heimlich einen Umschlag mit Geld zugesteckt hatte. Es war von meinem Vater und sollte wohl sein schlechtes Gewissen beruhigen. Außerdem war meine Mutter ganz angetan von ihm. Er war charmant, gut aussehend und verführte sie gleich in der ersten Nacht. Er blieb etwa drei Wochen bei uns, dann verschwand er aus unserem Leben, genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Wenn der Postbote in die Straße fuhr, rannte meine Mutter ihm entgegen, in der Hoffnung ein Brief von ihm wäre dabei.“
„Und? War mal ein Brief von ihm dabei?“
Doris Thiel genoss die Aufmerksamkeit, die ihr die beiden Polizisten entgegenbrachten, in vollen Zügen. Sie hingen an ihren Lippen und jede Information, die sie preisgab, zauberte ein Lächeln auf die hübschen jungen Gesichter. Sie bot ihnen ein paar Kekse aus einer kleinen Porzellandose an und genehmigte sich selbst einen. Während sie an dem Keks knabberte, ließ sie sich ausgiebig Zeit mit den Antworten. „Ja, einmal, etwa ein halbes Jahr später, brachte der Postbote tatsächlich einen Brief für sie mit. Ihr Gesicht strahlte. Ich habe sie danach nie wieder so glücklich gesehen. Doch als sie ihn geöffnet hatte, war der ganze Zauber vorbei. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und kam sieben Tage nicht mehr heraus.“
„Wissen Sie, was …“
„Was in dem Brief stand?“ Wieder lächelte sie geheimnisvoll. „Ich suche ihn später für Sie raus, wenn Sie wollen.“
Sam konnte es kaum glauben. Das Glück war ihnen hold. Damit hätten sie eine weitere Lücke gefüllt. Er rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her und versuchte, sich auf die nächsten Fragen zu konzentrieren.
„Haben Sie eine Ahnung, wo das Foto gemacht worden ist?“, kam ihm Juri zuvor.
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke irgendwo in Südamerika.“
Eine Antwort mit der Sam überhaupt nicht gerechnet hatte. War er doch immer davon ausgegangen, dass die Aufnahmen irgendwo in Spanien gemacht worden waren.
„Ich habe immer bei ihm gelebt. Als ich acht war, schickte er mich ohne eine Erklärung zu meiner Mutter nach Darmstadt zurück. Danach hörte ich lange Zeit nichts mehr von ihm. Irgendwann muss er sich in einer stillen Stunde an seine Tochter erinnert haben und fing an, mir Briefe zu schreiben. Beantwortet habe ich allerdings keinen davon.“
Sam war kurz davor, sie zu fragen, warum sie keinen seiner Briefe beantwortet hatte, entschied sich aber dann dagegen, weil es ihm doch zu persönlich erschien.
„Sie sagten irgendwo in Südamerika? Hatte er keinen festen Wohnsitz?“, warf Juri ein und kaute auf dem Ende seines Kugelschreibers herum.
„In Argentinien lebten wir ziemlich zurückgezogen. Keine sozialen Kontakte. Und als eines Tages zwei Männer nach ihm fragten, sagte er uns, er müsse für kurze Zeit verreisen.“
„Können Sie sich noch daran erinnern, was für Männer das waren?“
„Sie sahen aus, wie man heute FBI-Beamte im Fernsehen zeigt. Düster dreinblickend, wortkarg. Einer trug sogar eine Waffe, soweit ich mich erinnere. Sie blieben etwa drei Stunden bei uns im Haus, sahen alles durch und als mein Vater nicht kam, verschwanden sie wieder. Noch am selben Abend packte mein Vater seine Sachen. Er schickte mich mit dem nächsten Flugzeug zurück nach Deutschland mit der Begründung, dass meine Mutter mich sehen wolle, was nicht ganz der Fall war. Und die Angestellte mit dem dicken Bauch ließ er einfach im Haus zurück. Die Briefe, die ich später nach Jahren erhielt, kamen aus verschiedenen Orten in Brasilien. Er war wohl immer auf der Flucht vor diesen Männern. Und die Nachricht von seinem Tod kam, glaube ich, aus Kolumbien.“
Die Miltonia-Orchidee kam aus Kolumbien, schoss es Sam durch den Kopf. „Wann war das ungefähr?“
„Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich habe sie trotz allem aufbewahrt.“ Sie beugte sich runter zu einem kleinen hellbraunen Lederkoffer und zog ihn unter dem Regal vor, ohne den Hund vom Schoß zu nehmen. In dem Koffer waren haufenweise Briefe und andere Papiere. Sie fischte ein gefaltetes Papier daraus hervor und las die Zeilen laut vor. „Hier steht: Nach einer schweren Malariaerkrankung verstarb Heinrich Thiel um zehn Uhr dreißig des Datums 3. März 1963 in der Clinica Javier Ruiz in Bogota. Sprechen Sie Spanisch?“
Sam nickte und Doris Thiel reichte ihm die Sterbeurkunde, damit er sich selbst davon überzeugen konnte.
„Warum meinen Sie, war Ihr Vater auf der Flucht?“, fragte währenddessen Juri.
„Das lag wohl an seiner Tätowierung unter dem Arm. Das Zeichen der SS. Ich habe ein wenig später mehr darüber erfahren. Die Amerikaner haben nach Kriegsende besonders nach dieser speziellen Tätowierung bei den Deutschen gesucht und die Kriegsverbrecher in Gefangenenlager gesteckt. Mein Vater, der offensichtlich ein Nazi war, konnte damals mit Hilfe eines Bischoffs in Italien, der ihm die Papiere und das Visum besorgte, nach Argentinien fliehen. Das habe ich später von meinem Großvater erfahren.“
War es nicht das zweite Mal, dass im Zusammenhang mit den Fällen der Begriff Nazi fiel? Inspektor Germain hatte die Injektionen ins Herz erwähnt. Und trotzdem ergab alles überhaupt keinen Sinn.
„Sie sind keine Ärztin geworden, oder?“ Sam hatte die Titel auf den Buchrücken in den Regalen überflogen. Es waren fast ausschließlich Romane, keine Fachbücher für Mediziner.
„Nein.“ Sie lachte das erste Mal wieder. „Nachdem ich gesehen habe, wie viele Leute unter der Hand meines Vaters starben, dachte ich, es wäre besser, die Finger von dem Beruf zu lassen.“
„Was meinen Sie damit, es starben viele Leute?“, fragte Juri neugierig.
„An Infektionen, glaube ich. Ich kann mich aber auch nicht mehr so genau daran erinnern. Ich war ja noch ein Kind. Aber mir ist in Erinnerung geblieben, dass wir ziemlich oft auf irgendwelchen Beerdigungen waren. Patienten meines Vaters.“
„Was für ein Arzt war Ihr Vater?“
„Er arbeitete hauptsächlich als Gynäkologe, operierte aber auch am Blinddarm … irgendwie hat er alles gemacht.“
Ein lautes Knacken in Juris Mund durchbrach die kurze Stille. Er hatte es endlich geschafft, seinen Stift durchzubeißen. Sam sah die Anspannung in seinem Gesicht.
Ihm selbst ging es nicht anders, aber er war auch verwirrt. Konnte diese Entdeckung bedeuten, dass dem nächsten Opfer die Gebärmutter entfernt wurde? Und wer war das nächste Opfer? Doris Thiel selbst, eine der letzten Überlebenden?
Sie erzählten ihr in Kurzform von den beiden anderen Fällen und dass sie vermutlich in Gefahr schwebte. Doch Doris Thiel nahm es gelassen. Sie war sich sicher, dass ihr niemand etwas tun würde.
„Sagen Sie, die Angestellte mit dem dicken Bauch. War sie schwanger oder …?“
„Vermutlich.“
„Von Ihrem …“
„Ja sie trieb es mit meinem Vater. Also denke ich, dass sie von ihm schwanger war.“
„Haben Sie von ihr einen Namen? Oder irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte, sie zu finden?“
„Wenn sie noch lebt, dann wird sie sicherlich noch dort in Lanusse wohnen. Sie war ein einfaches Bauernmädchen und gerade mal sechs Jahre älter als ich. Ihr Name war Julietta, mehr weiß ich nicht mehr.“
Als Doris Thiel die beiden Polizisten verabschiedete, drückte sie Sam einen Brief in die Hand, den sie kurz zuvor noch aus ihrem Lederköfferchen geholt hatte.
Am frühen Nachmittag flog Sam mit der Fülle von Informationen, die er von Doris Thiel bekommen hatte nach Malaga. Obwohl er immer weiter in die Tiefe der Fälle eintauchte und die Sicht eigentlich hätte klarer werden müssen, schien es immer dunkler um ihn herum zu werden. Es war, als würde ihm jemand die Augen zuhalten.