39.
BERLIN Sam und Juri waren auf dem Weg zum LKA Schöneberg, wo Rafael Rodriguez weiter vernommen werden sollte. Sam hatte die Augen geschlossen und dachte an die letzte Nacht, in der er nach allen Raffinessen verführt worden war. Estelle hatte einen schönen Körper, sie war weich und fest zugleich gewesen und biegsam wie eine Zirkusakrobatin. Sie hatte aus Sam alles rausgeholt. Bei dem Gedanken musste er wieder lächeln.
Juri arbeitete sich durch den zähflüssigen Frühverkehr. Ihm war Sams auffällige Entspanntheit nicht entgangen. Er wollte gerade anfangen zu sticheln, als ein Anruf die Stille im Wagen störte.
Sam sah auf das Display – unbekannt. Er lehnte sich wieder zurück. Dann nahm er plötzlich doch das Gespräch an.
Frau Rewe stand in Frankreich bei strömendem Regen in einer Telefonzelle und verstand kaum ihr eigenes Wort, geschweige denn das, was Sam ihr sagte.
„Ich habe mich wieder erinnert“, schrie sie laut in den Hörer. „Sie hatten mir doch dieses … gezeigt.“
Sam sah fragend zu Juri, der auch nur mit den Schultern zuckte.
„Was?“
„Na, das Buch mit dem Engel und dem …“
Für Sam hörte es sich so an, als würde Frau Rewe inmitten eines Kugelhagels stehen.
„Ich kann Sie kaum verstehen“, schrie sie wieder in den Hörer.
Sam hielt das Telefon etwas vom Ohr weg und sagte langsam und deutlich: „Ich habe auch nichts gesagt, Frau Rewe.“
„Was?“
Sam hörte sie fluchen, dann war das Gespräch unterbrochen.
Sie parkten den Wagen gerade vor dem LKA als Sams Handy erneut klingelte. Dieses Mal war die Verbindung ausgezeichnet, weil Frau Rewe von dem kleinen Restaurant ihres Freundes aus telefonierte.
„Mich hat dieses Bild nicht in Ruhe gelassen und mir ist da ein Seminar eingefallen, das ich damals besucht habe. Es ging dabei um esoterische Geheimbünde“, begann sie und klang dabei sehr aufgeregt. „Es gab da einen Orden, gegründet von einem Österreicher, so etwa um 1900, dem nur Personen beitreten durften, die blond, blauäugig und eine ario-heroische Figur aufwiesen. Für diesen Orden war die arische Rasse das gute Prinzip, Neger und mediterrane Völker, also die dunklen Rassen gehörten zum bösen Prinzip. Es gab für sie nur Gut und Böse, nichts zwischendrin. Sie waren der Meinung, dass zum Beispiel das Böse auf die Erde kam, weil die Lemurier sich mit einer schönen aber minderwertigen Rasse vermischt und deshalb die göttliche Gnade verloren hatten. Und diese Gnade wollten sie zurückhaben. Sie glaubten daran, dass durch eine Rassentrennung die verkümmerten Fähigkeiten der Gottmenschen wieder hergestellt werden können. Das bedeutete, dass man mit Unterprivilegierten hart umzugehen hatte. Sie sollten versklavt, verbrannt oder für ihre Zwecke benutzt werden … na ja, auf jeden Fall wollte dieser Orden durch eine arische Elite das Universum retten, und dafür gingen sie über Leichen und Länder. Die Anhänger des Ordens sollten nämlich überall auf der Welt solche ario-christlichen Zentren gründen und das Wappen sollte ihr Zeichen sein. Das Wappen mit dem Engel und dem Faun, dem Guten und dem Bösen. So, Ende meiner Geschichtsstunde. Was sagen Sie?“
Sam war überrascht und verwirrt zugleich. „Nun, was soll ich sagen … gute Arbeit. Sie sind eingestellt.“
Frau Rewes Lachen am anderen Ende der Leitung konnte sogar Juri hören.
„Diese Informationen muss ich jetzt erst einmal verstehen und sacken lassen.“
„Tun Sie das, und wenn Sie noch fragen haben, rufen Sie mich an.“
Sam bedankte sich bei der Frau, die ihnen für die Ermittlungen einen entscheidenden Hinweis gegeben hatte, und legte auf. „Hast du schon mal was von einer arischen Elite gehört, die das Universum retten wollte?“
„Ich glaube ich lasse mich demnächst nach Russland versetzen. Du kommst mir immer mit zu schrägen Typen daher. Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass unser Mörder so ein Bekloppter ist, oder?“
„Die Opfer waren bis auf das letzte blond. Es geht hier also nicht um eine Rassengeschichte, aber anscheinend war zumindest der alte Steiner Mitglied eines solchen Ordens, sonst wäre er ja nicht im Besitz dieses Buches gewesen.“ Sam strich sich seufzend über die Stirn und sagte leicht verzweifelt: „Ich glaube ich werde langsam wahnsinnig.“
„Na, vielleicht sitzt die Lösung ja da drin.“ Juri zeigte mit dem Finger auf das Polizeigebäude vor sich. „Zerlegen wir ihn wie einen Frosch.“
„Man merkt doch manchmal, dass dir die Schulzeit noch tief in den Knochen sitzt, Kleiner.“