|157|ACHTES KAPITEL

Die Räte – darauf hielt der König mit strenger Hand – erschienen zu unseren Versammlungen sehr pünktlich. Der einzige, der mit einiger Verspätung eintraf und dem sofort ein Lehnstuhl gebracht wurde, war der arme Kardinal von Bérulle. Und ich staunte. Dem Bericht der Zocoli zufolge hatte Marillac seinen Zustand als hoffnungslos bezeichnet, er läge krank, »quasi auf dem Sterbebett«, hatte er gesagt.

Ich schloß hieraus, daß Marillac, als er der Königinmutter diese Auskunft gab, durch eine fromme Lüge hatte verhindern wollen, daß sie den Kardinal zu ihrer Verstärkung rufe, damit er ihr einziger Ratgeber blieb. Doch nicht, daß es dem armen Bérulle besser gegangen wäre. Er war totenblaß, konnte nur auf zwei Geistliche gestützt gehen und ließ sich mit sichtlicher Erleichterung auf dem herbeigeholten Lehnstuhl nieder.

In der Abneigung wie in der Zuneigung gibt es Grade, und ich empfand für Bérulle weniger Abneigung als für Marillac. Nach meinem Eindruck war Bérulle nicht boshaft. Er war nur borniert und völlig phantasielos. Wenn er sagte, und er sagte es oft, die protestantische Ketzerei müsse »mit Feuer und Schwert ausgerottet« werden, dachte er nicht etwa an eine europaweite Bartholomäusnacht, er stellte sich gar nichts darunter vor. Was sich dabei in seinem Geist abspielte, blieb wirr und abstrakt.

Für gewöhnlich stellte der König zu Beginn der Ratssitzung in großen Umrissen die Angelegenheit dar, die zu behandeln stand, und nachdem alle, die es wünschten, sich dazu geäußert hatten, fragte er Richelieu um seine Meinung.

Damit bot er dem Kardinal die Gelegenheit zu einer umfassenden Darstellung. Der nahm die ganze Affäre von Anfang an durch, samt all ihren Bestandteilen, worauf er dem König zwei Lösungen vorschlug, zwischen welchen er ihn zu wählen bat.

Die Analyse war klar, vollständig, methodisch, sie basierte einzig auf den Tatsachen und auf der Vernunft, niemals auf Leidenschaften |158|oder Vorurteilen. Ich weiß nicht, ob Richelieu die Regulae ad directionem ingenii von Descartes gelesen hatte, die 1628, just nach der Einnahme von La Rochelle erschienen waren. Doch auch wenn Richelieu das Werk nicht gelesen hatte, war er Cartesianer, ohne es zu wissen. Was mich anging, wartete ich stets mit größter Neugier auf seine glänzenden Ausführungen. Welche Freude war es, besonders nach den Eseleien und wirren Projekten der anderen, ihm zu lauschen!

An diesem Morgen trat der König undurchdringlichen Gesichts herein, nahm auf der vorm Kamin stehenden Estrade, mit dem Rücken zum Feuer, Platz. Die Königinmutter setzte sich mit einiger Dreistigkeit fast gleichzeitig mit ihm und hielt sich steif auf ihrem Sitz, das Kinn gereckt, die Unterlippe vorgeschoben, den Busen herausgestreckt, und mit einer Miene, sagte Guron, als wolle sie partout nichts von dem hören, was gesagt werden würde.

Kaum saß die Königinmutter zur Rechten des Königs und stand zu seiner Linken Richelieu, änderte Seine Majestät zur allgemeinen Überraschung die gewohnte Tagesordnung, und anstatt es selbst zu tun, bat er Richelieu, den aktuellen Stand unserer Affären in Italien darzulegen.

Das Exposé des Kardinals, nüchtern und gründlich wie stets, machte die Räte starr vor Betrübnis: Die kaiserlichen Österreicher waren mit siebenundzwanzigtausend Mann wortbrüchig ins Veltlin einmarschiert und belagerten Mantua; der unglückliche Herzog von Nevers hatte nicht viel Chancen, ihnen lange standzuhalten. Die Spanier zogen unter Spinola gen Casale, um mit achtzehntausend Mann die Belagerung wiederaufzunehmen und Toiras zur Kapitulation zu zwingen.

Was Richelieu nicht sagte, was ich aber später erfuhr, war, daß der König vor dem Zusammentreten des Rates fünf unserer besten Regimenter in die Alpen entsandt und Reiter zu Toiras geschickt hatte, ihm zu sagen, er solle schnellstens alle notwendigen Vorräte in Casale anhäufen, während er selbst zur gleichen Zeit Kanonen, Pulver und Getreide, kurz alles, was zu den Bedürfnissen einer großen Armee gehörte, nach Embrun in unsere südlichen Alpen befördern ließ.

Richelieu schloß sein Exposé mit den Worten, man könne mit den Habsburgern natürlich noch Frieden machen, allerdings zu »schlechten, erniedrigenden und beschämenden« Bedingungen, |159|indem man ihnen Casale abträte, das aber für uns doch der Schlüssel zu Italien war, und indem man zuließe, daß sie den Herzog von Nevers aus seinem Herzogtum Mantua verjagten – mit anderen Worten, indem man unsere sämtlichen italienischen Verbündeten preisgäbe, einschließlich Lodena, Parma und der Republik Venedig. Wenn man diese Politik nicht wolle, müsse man fünfzigtausend Mann sammeln und gegen die Spanier ziehen.

Der König forderte die Räte auf, ihre Meinungen abzugeben. Nun, nicht alle Feinde Richelieus waren auch Feinde des Krieges gegen Spanien. Die Mehrheit war sogar sehr empfindlich für den Ehrenpunkt, und es kam gar nicht in Frage, unsere Verbündeten im Stich zu lassen. Bérulle und Marillac fühlten sich übertölpelt und isoliert. In ihren Augen war die Befragung des Rates eine leere Zeremonie: Die Entscheidung stand bereits fest. Und weil sie den König nicht anzugreifen wagten, fielen sie – es war unglaublich – wütend über Richelieu her. »Ihr opfert Eurer Größe«, rief Monsieur de Marillac, »den Frieden eines ganzen Staates, das Glück eines ganzen Volkes … Ihr wollt nur die Narretei befriedigen, die Euch treibt, das Haus Österreich kleinzukriegen … Ihr zielt darauf ab, Frankreich mit allen Ländern Europas zu verfeinden …«

Der König, der diese persönlichen Angriffe ungehörig fand und die polemische Wendung, die Marillac der Beratung gab, mißbilligte, erhob sich, forderte Schweigen und sprach mit starker und entschlossener Stimme: »Nicht wir haben den Frieden gebrochen. Gebrochen hat ihn der Spanier. Der Spanier ist in Mantua eingefallen mit fünfundvierzigtausend Mann. Nun! wenn die Spanier den Krieg wollen, sollen sie ihn haben, bis über beide Ohren!«

***

Der arme Kardinal Bérulle starb, wenn ich mich recht entsinne, Anfang Oktober, doch konnte diese Nachricht Marillac nicht besänftigen, im Gegenteil. Es war, als trüge er nun allein die Bürde der göttlichen Botschaft auf seinen Schultern und müsse sie, um seines Seelenheils willen, dem König mitteilen. Er wiederholte sie ihm bis zum Überdruß, wann immer sein Amt ihm zu sprechen erlaubte, und sosehr Seine Majestät ihn für den Fleiß, den Eifer, die Fähigkeiten schätzte, mit denen er dieses |160|Amt ausübte, ließ Sie eine zunehmende Ungeduld erkennen, die Marillac nicht einmal bemerkte, so fest war er überzeugt, der Krieg gegen die Spanier sei das Gottloseste auf der Welt.

Das ging so weit, daß er Richelieu anbot, sein Amt als Siegelbewahrer niederzulegen. Der Kardinal war baff.

»Was soll das?« fragte er. »Erscheint Euch die Regierung ungerecht?«

»Aber nein, Eminenz! Meinen Rückzug wünsche ich mir seit zwanzig Jahren.«

»Hat dieser Wunsch etwas mit dem Tod des armen Kardinals von Bérulle zu tun?«

»Nein. Mein Ersuchen entspringt einfach dem Wunsch, meinen Abschied zu nehmen.«

»Nun, dann tragt es dem König vor, aber ich bezweifle, daß er es annimmt. Wir stehen vor einem Krieg, zu einem solchen Zeitpunkt kann man nicht ein Ministeramt aufgeben, und schon gar nicht ein Ministeramt von so großer Bedeutung wie das Eure. Daran ist gar nicht zu denken.«

Dieses zumindest unzeitgemäße Ersuchen wurde bald dem ganzen Hof bekannt, und unsere bösen Mäuler wußten sich vor Kommentaren nicht zu lassen. Die einen sagten, Marillac wolle den König allein durch das Gewicht seiner Demission davon abbringen, in den Krieg einzutreten, die anderen, »der Siegelbewahrer hat gut daran getan, zur Tür hinausgehen zu wollen, denn es kommt der Tag, da man ihn aus dem Fenster werfen wird«.

Indessen konnte der König nicht nach Italien aufbrechen, ohne sich mit seinem Bruder geeinigt zu haben, der sich noch immer von unserem schlimmsten Feind, dem Herzog von Lothringen, feiern ließ, was, wie Richelieu gemeint hatte, »ein harter Knochen« war. Wir wären damit nie zu Rande gekommen, hätte nicht Maria von Gonzaga an Gaston geschrieben und ihn gebeten, auf sie zu verzichten, denn eine heimliche Vermählung, die Ludwig XIII. verärgern würde, brächte ihren Vater, der in Mantua von den Kaiserlichen belagert wurde, in große Gefahr, sein Heil hänge ganz vom König von Frankreich ab.

Doch der Verzicht Maria von Gonzagas genügte nicht, die Dinge voranzubringen. Gaston klammerte sich wie toll an seine maßlosen Forderungen nach Ländereien, Titeln und Geldern, womit er bewies, daß das Geld für ihn mehr zählte als |161|Maria. Und als ich die Geschichte Catherine erzählte, sagte sie, das Mädchen tue klug daran, ihn nicht zu heiraten.

Der König, der Paris nicht verlassen wollte, solange Gaston nicht zurückgekehrt war, andererseits auch nicht länger warten wollte, beschloß, zunächst Richelieu mit dem Gros der Truppen nach Italien zu senden, um selbst nachzukommen, sobald er mit seinem Bruder Frieden geschlossen hätte.

Catherine war verzweifelt, als sie aus meinem Mund von diesem Aufbruch hörte. Sie fürchtete, Richelieu werde mich abermals als Dolmetsch mitnehmen wollen nach Italien. Und ihre Befürchtungen wurden ihr zur Gewißheit, als mir am Tag nach dem Königlichen Rat ein reitender Bote meldete, der Kardinal wünsche mich dringend im Palast zu sehen. Catherine schlang mit aller Kraft ihre Arme um mich und sagte unter Tränen, dieses »dringend« heiße doch, daß der Beschluß schon feststehe und daß der Kardinal mich ihr entreißen wolle, um mich in die Kälte der Alpen zu entführen, wo ich mit Sicherheit von einer Kugel niedergestreckt oder zerfetzt oder womöglich sogar von der Pest getötet würde.

»Mein Lieb«, sagte ich, »›dringend‹ aus dem Munde des Kardinals hat nichts weiter zu bedeuten, denn ihm fehlen immer Sekunden an der Minute und Minuten an der Stunde, um seine gewaltige Arbeit zu bewältigen. Was er mir heute mitteilen will, weiß ich wirklich nicht und will es auch noch nicht vermuten. Im übrigen bin ich nicht der einzige Edelmann am Hof, der Italienisch spricht. Marschall von Créqui zum Beispiel, um nur einen zu nennen.«

»Aber er ist alt und krank.«

»Krank ist er nicht mehr. Es geht ihm bestens, und sein Alter hindert ihn nicht, wie immer den Unterröcken nachzulaufen.«

Was keine sehr gewöhnliche Bemerkung von mir war.

»So wie Ihr, Monsieur, es vor Eurer Heirat auch tatet«, sagte Catherine im Ton eines urteilenden Richters. »Und wie Ihr es zweifellos morgen in Italien wieder tun werdet«, setzte sie mit bebender Stimme hinzu. »Gott, wie ich dieses Land hasse! Samt all seinen Bewohnern, Männern wie Frauen! Frauen vor allem! Mit ihren jettschwarzen Augen, ihrem matten Teint, ihren dunklen Haaren! Sagt, was Ihr wollt, aber dieses ganze Schwarz haben sie nicht umsonst! Glutöfen alle! Ausgemachte Huren! Teufelinnen!«

|162|»Madame«, sagte ich, »Ihr geht zu weit! Ihr beschimpft das italienische gentil sesso

»Gentil sesso!« schrie sie. »Immer habt Ihr Euer gentil sesso im Mund! Und traut Euch auch noch, es zu verteidigen!«

Du lieber Gott! dachte ich, kann ich nicht ein Wort sagen, ohne daß es mir im Munde umgedreht wird? Und immer gegen mich? Und wieder ist Catherine völlig besessen von ihrer Eifersucht! Hätte ich von den italienischen Schwestern doch niemals und schon gar nicht so freundlich gesprochen! Ach, Leser! daß wir mit unseren empfindlichen Frauen nie vorsichtig genug sein können! Egal, ob man unschuldig ist oder schuldig, es reicht ein Nichts, ein bloßer Anschein, und sie flammen lichterloh! Es gibt nur noch Verdächtigungen, Indizienjagden, Unterstellungen, und dann die Verhöre, immer dieselben Verhöre. Und das schlimmste ist, daß kein Wort der Vernunft diese Tollheit einzudämmen vermag. Es hätte zum Beispiel nicht das mindeste genützt, Catherine zu sagen, wie sinnlos es sei, sich im voraus durch meine angenommene künftige italienische Untreue schrecken zu lassen, weil es noch gar nicht heraus war, ob Richelieu mich überhaupt mitnehmen wollte.

Nun, das schöne Geschlecht redet doppelt so schnell wie das bärtige, darum meine ich, man sollte einem Sturm nie mit Sturm begegnen. Dabei geht man leicht unter. So hielt ich denn still unter Donner und Blitz. Aber was, Leser, macht die schwere Galeone wie die leichte Fregatte, wenn der Sturm zu groß wird? Sie flieht vor dem Unwetter. Und genau das tat ich mit der Begründung, außer Ludwig dürfe niemand in diesem Reich den Kardinal von Richelieu warten lassen.

***

»Mein Cousin«, sagte Richelieu in seiner raschen, gebieterischen Weise, sowie ich in dem Lehnstuhl saß, den er mir gewiesen hatte, »während ich in den Alpen stark beschäftigt sein werde, erwarten Euch viele Aufgaben in Paris. Deshalb nehme ich Euch nicht mit in die Kälte. Marschall von Créqui und Graf von Sault werden Euch als Dolmetsch ersetzen.«

Gott sei Dank! dachte ich. Also muß ich nicht von einer Kugel erschossen oder zerfetzt werden, nicht an der Pest verderben noch in Höllengluten vergehen.

|163|»Graf von Sault?« fragte ich überrascht.

»Sein Italienisch hat sich bedeutend verbessert, seit er in Susa war und sich durch tägliches Reden mit den Einwohnern geübt hat. Jedenfalls findet Marschall Créqui, der es wissen muß, daß er jetzt sehr gut spricht.«

Ich schmunzelte im stillen. Diesmal war der Kardinal für mein Gefühl entweder schlecht informiert, oder er war, das gentil sesso betreffend, ein wenig naiv: die »Einwohner von Susa«, dank deren Graf von Sault Italienisch gelernt hatte, begrenzten sich bekanntlich auf die zwei Schwestern, die uns Logis boten und sich in seine Gunst teilten, während ich als Opfer meiner Tugend draußen blieb. Aber daß der schöne Graf dabei ihre Sprache lernte, ist der Beweis, daß der tüchtige Mann wirklich keine Mühe scheute, sich zu bilden und seine Kenntnisse zu erweitern.

Ja, nichts geht uns leichter in den Kopf als eine fremde Sprache, die man von Angesicht zu Angesicht lernt, von Mund zu Mund, könnte man sagen, und wenn die Liebe mit im Spiel ist.

»Mein Cousin«, fuhr Richelieu fort, »Ihr kennt, glaube ich, den Domherrn Fogacer.«

»In der Tat, Eminenz. Er war der Kommilitone und Mentor meines Vaters an der Medizinischen Hochschule zu Montpellier, und ich kenne und bewundere ihn von klein auf.«

»Er soll am Hof Auge und Ohr des Apostolischen Nuntius sein.«

»Eminenz, wer weiß das besser als Ihr? Ich bin mir jedoch sicher, daß der Domherr Fogacer dem Nuntius nichts entdeckt, was Ludwig schaden könnte.«

»Seht Ihr ihn oft?«

»Meine Tür steht ihm jederzeit offen, und mein Tisch ist stets für ihn gedeckt.«

»Bedauert, nach Eurer Kenntnis, der Apostolische Nuntius, daß Ludwig gegen die Spanier und die Kaiserlichen einschreitet, um ihre Angriffe auf Mantua und Casale abzuwehren?«

»Ich glaube ziemlich sicher, nein, denn nach dem letzten Königlichen Rat zu Fontainebleau erschien Fogacer mir sehr zufrieden, daß er dem Nuntius die Nachricht von unserem Kriegseintritt überbringen konnte.«

»Und was schließt Ihr daraus?«

»Daß der Heilige Vater auf die spanische Scheinheiligkeit |164|nicht hereinfällt. Der sehr katholische König gibt sich als großer Vorkämpfer gegen die Protestanten aus, und in Wahrheit greift er katholische Fürstentümer wie das Mailändische und jetzt das Mantuanische an, um sie zu unterwerfen und zu besetzen. Laut Fogacer beginnt der Papst für seine eigenen Staaten zu fürchten, und er weiß, wenn die Spanier sich erst ihrer bemächtigten, werden sie ihn zum Vasallen machen.«

»Wenn diese Analyse stimmt, mein Cousin«, sagte Richelieu nach kurzer Überlegung, »leistet ein jeder, der Ludwig in seiner antispanischen Politik unterstützt, auch dem Heiligen Vater einen großen Dienst. Ob der Domherr Fogacer unter diesen Bedingungen geneigt wäre, dem König in seinen Vorhaben zu dienen?«

»Sicherlich«, versetzte ich. »Darf ich Fogacer fragen, Eminenz? Und wenn er ja sagt, was soll er tun?«

»Nichts, was mit seiner Robe nicht vereinbar wäre. Es geht darum, im Beichtstuhl diese oder jene bewußte Person anzuhören. Sie haben alle feine Ohren und ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber, weil das Fleisch schwach ist, auch einige Sünden zu beichten.«

»Heißt das, Eminenz, daß ich unseren Domherrn, nachdem er die bestimmten Personen im Beichtstuhl gehört hat, zu Tisch bitten soll? Und nachher alles, was er mir berichtet hat, zu Papier bringen und Ludwig und Euch mitteilen soll?«

»Genau das. Und weil Ihr nicht fragt, mein Cousin, weshalb ich den Domherrn gern als eine Art Relais zwischen Euch und mir wüßte, will ich Euch hierüber aufklären. Ich muß immer befürchten, daß besagte Personen auf dem Weg zu Monsieur de Guron oder zu Euch mal verfolgt und somit überführt werden. Aber wer kann etwas dabei finden, wenn sie in eine Kirche zur Beichte gehen? Die Rapporte, die Ihr mir, sie betreffend, nach Italien senden werdet, unterzeichnet Ihr mit dem Namen eines griechischen Philosophen, jedesmal eines anderen.«

Hierauf erkundigte sich der Kardinal höflich nach dem Ergehen der Frau Herzogin von Orbieu, und ohne meiner Antwort länger als nötig zuzuhören, ließ er mich von einem Musketier zur Tür seines Hauses geleiten. Was nicht nur Höflichkeit war, man gelangte ebenso schwer in sein Haus hinein wie wieder hinaus.

|165|Im Hof des Palais empfing mich das zärtliche Wiehern meiner Accla, die mich witterte, noch ehe sie mich sah. Ich hatte diesmal nur wenige Leute bei mir: Nicolas und vier Schweizer, denn laut einem königlichen Erlaß waren die privaten Eskorten derzeit auf ein Minimum zu beschränken, um die Bewegungen der Regimenter in der Kapitale nicht zu behindern.

Die gute Accla erhielt längst nicht so viele Liebkosungen, wie sie erwartete, so sehr drängte es mich, zu Catherine zu eilen und sie aus ihrer Sorge zu erlösen. Doch anscheinend war ich nicht der einzige, der sich sorgte, denn sobald Nicolas konnte, lenkte er sein Tier an meine Seite.

»Monseigneur, darf ich eine Frage stellen?« begann er mit etwas bebender Stimme.

»Hier?« sagte ich. »Kannst du nicht warten, bis wir zu Hause sind?«

»Monseigneur, die Frage ist für mich wichtig, schließlich ist mein Schicksal an Eures gebunden.«

»Schicksal! was für ein großes Wort!«

»Monseigneur, das Leid unserer Angehörigen wäre groß, wenn wir von einer Kugel getötet würden.«

»Oder an der Pest stürben? Oder eher in glutvollen Armen vergingen?«

»Monseigneur, Ihr höhnt. Aber denkt doch, wie die Frau Herzogin über Euren Tod weinen würde!«

»Oder Henriette über deinen!«

»Monseigneur, Ihr schraubt mich.«

»Ach, nicht doch! Stell deine Frage, Nicolas, aber mach es kurz.«

»Monseigneur, in zwei Worten nur: Gehen wir?«

»Nicolas, deinen zwei Worten fehlt ein drittes: wohin?«

»Ihr wißt schon, wohin. Man schreit es ja auf dem Pont-Neuf aus, Monseigneur, die ganze Stadt weiß es.«

»Und du weißt auch schon, wohin wir gehen?«

»Ja, Monseigneur. Außerdem hörte ich von meinem Bruder, Monsieur de Clérac, daß die Musketiere des Kardinals Order haben, im Quartier zu bleiben, ihre Pferde zu striegeln und neu zu beschlagen.«

»Nun verrate mir doch, Nicolas, woher ein Hauptmann der Königlichen Musketiere weiß, was bei den Musketieren des Kardinals vorgeht?«

|166|»Wir spionieren sie ein bißchen aus, wir sind ja gewissermaßen ihre Rivalen.«

»Ein bißchen?«

»Vor allem fürchten wir, sie könnten vor uns in den Kampf ziehen.«

»Du sagst ›wir‹. Noch bist du kein Musketier.«

»Und heilfroh, es noch nicht zu sein, weil ich Euch diene, Monseigneur.«

»Du dienst mir, Nicolas, und hast die Unverfrorenheit, mich nach einem Staatsgeheimnis zu fragen?«

»Staatsgeheimnis!« sagte Nicolas. Und mit einer Naivität, die mich belustigte und rührte, setzte er hinzu: »Soviel verlange ich gar nicht!«

»Nun ja!« sagte ich versöhnlich. »Das Verlangen ist noch kein Vergehen. Warte, bis wir im Hôtel des Bourbons sind. Dann sage ich Madame, wie es damit steht.«

Ich sage wie gewohnt »Hôtel des Bourbons«, aber nur der Abkürzung halber, denn so heißt nicht mein Haus, sondern meine Straße. Das Hôtel selbst wurde nie von einer königlichen Familie bewohnt. Übrigens ist es ein bißchen zu groß für uns, aber weil es unter Franz I. erbaut wurde, hat es mit seinen steinernen Fensterkreuzen eine Eleganz, in die ich ganz verliebt bin, weshalb ich es mit vieler Sorgfalt und viel Geld instand halte.

Um mich gegen nächtliche Überfälle von Verbrechern zu wappnen, habe ich, wie mein Vater, das Haus dazugekauft, das meinem auf der anderen Straßenseite gegenüberliegt, und dort meine Schweizer einquartiert. Wenn mein Tor bei Nacht von verwegenen Strolchen angegriffen würde, sähen sie sich zu ihrem Schaden zwischen zwei Musketenfeuer gestellt. Meine Schweizer haben in der Rue des Bourbons einen guten Ruf, sie sind nicht streitsüchtig, nicht laut, und ihre Erscheinung, ihre Statur und ihr Benehmen beruhigen unsere Nachbarn. Einer, der sein Stadthaus verkaufen wollte, um sich aufs Land zurückzuziehen, hob den Käufern gegenüber hervor, daß die Rue des Bourbons die sicherste Straße von Paris sei, denn schon bei Ansicht meiner Schweizer nähmen die Halunken die Beine in die Hand.

Sowie Catherine das Haustor des Hôtel des Bourbons in den Angeln gehen und die Hufe unserer Pferde im Hof klappern hörte, kam sie auf die Freitreppe gelaufen, und ich, schon abgesessen |167|von meiner Accla, rief ihr auf lateinisch zu: »Maneo1, weil ich nicht wollte, daß das Gesinde es vor ihr höre. Und Catherine, bei den guten Schwestern von Nantes erzogen, verstand mich, ihr schönes Gesicht erblühte in hellster Freude, sie wirbelte die Stufen so geschwind herunter, daß sie die letzte verfehlte und mir in die Arme flog.

Wie seltsam, daß diese Umarmung mir jetzt so deutlich gegenwärtig ist als ein goldener Augenblick meines Lebens! Ich weiß nicht, ob die Macht, die den Himmel regiert, mir eines Tages ihr Paradies öffnen wird und ob ich an jenem ätherischen Ort der ewigen Seligkeit teilhaftig sein werde. Für mich – aber bitte, sagen Sie das nicht meinem Pfarrer – besteht das Paradies aus den Menschen, die ich hier auf Erden liebe.

***

Am achtundzwanzigsten Dezember 1629 verlieh Ludwig vor dem zu diesem Zweck versammelten Großen Rat Richelieu den Titel eines Generalleutnants der Königlichen Armeen, womit er alle Autorität über die Marschälle von Frankreich, also Bassompierre, Schomberg, Créqui und La Force, erhielt, die am nächsten Tag mit ihm nach Italien gingen.

Es war nicht das erstemal, daß Ludwig seine Macht auf Richelieu übertrug. Er hatte es in La Rochelle bereits getan, bevor er, durch das windige und kalte Wetter an der Küste angegriffen, zur Genesung für einige Wochen nach Paris heimkehrte.

Etwas eifersüchtig indessen auf die große Autorität, die er dem Kardinal überließ, konnte er sich die herbe Anmerkung nicht verkneifen: »Ohne mich habt Ihr nicht mehr Autorität denn ein Kochtopf.« Eine Bosheit, über die er den Kardinal aber am folgenden Tag durch liebevolle, von Herzen kommende Worte tröstete.

Tatsächlich wurde Ludwigs pessimistisches Wort gründlich widerlegt. Die Marschälle merkten schnell, daß der Kardinal die Schlachten Henri Quatres besser kannte als sie selbst, daß er viel mit Karten arbeitete (die sie selbst nur selten zu Rate zogen), daß sein Kundschafterdienst hervorragend organisiert war, daß er den Verlauf jeder Unternehmung bis ins letzte |168|durchdachte, aber ebensogut auch in der Hitze des Augenblicks entscheiden konnte.

Immer wieder habe ich gesagt, daß Richelieu, der mittellose Nachgeborene, niemals die Soutane gewählt hätte, sondern den Küraß, wäre es nicht um den Erhalt eines Bistums gegangen, das seiner Familie sonst verfallen wäre. Mit welchem Stolz hatte er besagten Küraß während der Belagerung von La Rochelle getragen und mit welch sichtlicher Befriedigung trug er ihn auch am neunundzwanzigsten Dezember 1629, als er in aller Frühe an der Spitze von zweiundzwanzigtausend Mann Paris verließ. Ich sah ihn auf seiner schönen rotbraunen Stute, mit wehendem Helmbusch, in weißen Stiefeln, ein rostrotes Gewand mit Goldstickerei unterm schimmernden Küraß.

Ich wußte, daß es bei dem Marschtempo der Infanterie über anderthalb Monate dauern würde, bis die Armee Briançon erreicht hätte, daß aber die Kurierreiter des Kabinetts doppelt so schnell waren, vor allem sicherer als die Post, und so erwartete ich Nachrichten nicht vor anderthalb Monaten. Tatsächlich traf wenig später ein mit Wachs gesiegelter Umschlag ein, doch der war fliederfarben und obendrein parfümiert. Teufel! dachte ich, sollte der Kardinal sich dem Geschmack unserer Gecken anbequemt haben?

Das Geheimnis klärte sich auf, sowie ich das Siegel des Schreibens erbrach, das gleich zwei Briefe enthielt: einen an mich von Graf von Sault und einen zweiten von Richelieu an den König, offensichtlich aber vom Grafen nach Diktat geschrieben.

Hier nun der an mich adressierte Brief des Grafen von Sault. So ernst Richelieu dem König die vorgefundene Situation in dem seinen schilderte, so launig und fröhlich schrieb mir der Graf. Wie hätte ich es auch anders erwarten können von einem Edelmann, der nichts so sehr wünschte, als sein Italienisch in Susa in guter Gesellschaft zu vervollkommnen. Ach, Leser! Es gab mir doch einen kleinen Stich, daß ich nicht an des Grafen Stelle war! Wie sauer einem die Tugend werden kann, sogar in Gedanken!

Hier also der Brief des Grafen, auf dessen Orthographie ich um der Leserlichkeit willen verzichte:

 

Mein lieber Herzog, kaum hatten wir in Kälte und Schnee den Montgenèvre-Paß überquert, als Charpentier und die beiden anderen Sekretäre Seiner Eminenz eines schönen, wenn auch |169|eisigen Morgens niesend, hustend und fiebrig erwachten, so daß dem Herrn Kardinal keine andere Wahl blieb, als seinen Brief an den König mir zu diktieren. Nun fand er bei der Durchsicht meines Schreibens aber »meine Schrift unleserlich, meine Orthographie unsicher, meine Syntax fehlerhaft« (Ihr wißt, wie verschwenderisch der Kardinal loben kann …), und so bat er mich, dieses Schreiben an Euch zu senden, damit Ihr es noch einmal abschreibt, ehe Ihr es Seiner Majestät überstellt. Ich bitte Euch tausendmal um Vergebung für dieses Pensum, für das ich voll verantwortlich bin. Leider, mein Lieber, sind wir gar nicht in Susa. Ich schreibe Euch von Chiomonte, wo ich seitens der Bewohner die schönsten Elogen über Euch höre: über Eure Eleganz, Eure Freigebigkeit und die estrema gentilezza d’animo1, mit welcher Ihr in Eurer Karosse einen Bauern nach Susa mitnahmt, der nach zehn Jahren seine Hacke von einem ungetreuen Vetter zurückholen wollte. Kurzum, ich höre so wunderbare Dinge über Euch, daß ich mich gefaßt mache, Euch in fünfzig Jahren – falls ich das erlebe – hier, zum Kirchenheiligen verwandelt, in den Fenstern der chiesa communale zu erblicken. In dieser frommen Hoffnung umarme ich Euch von Herzen.

 

Graf von Sault

 

Und nun der vom Kardinal an Seine Majestät gerichtete Brief:

 

Sire, entgegen all unseren Vereinbarungen und in erneutem Bruch seiner Verpflichtungen verbietet uns der Herzog von Savoyen, durch sein Landesgebiet zu ziehen, um Casale Beistand zu leisten. Mehr noch, wie ich höre, ließ der Herzog von allen seinen Gütern Heu und Lebensmittel abtransportieren, damit unsere Armee sich nicht im Land verproviantieren könne. Angesichts dieses neuen Verrats halte ich es für das beste, anzugreifen und Savoyen künftig als Feindesland zu betrachten. Sire, ich erwarte Eure Befehle als Euer wie immer demütiger, treuer und ehrerbietiger Diener.

 

Richelieu

 

Ludwig wurde tiefrot, als er die verdrießlichen Nachrichten über den Herzog von Savoyen las, den er so lange mit seltener Milde in Anbetracht ihrer familiären Bande behandelt hatte. Der |170|Sohn des Herzogs war bekanntlich mit der Schwester des Königs verheiratet. Doch die Familienbande hielten seinem Zorn nicht länger stand. »Meiner Treu!« sagte er, »wenn er Krieg will, soll er ihn haben!« Diesmal setzte er nicht hinzu »bis über beide Ohren«, doch ich würde wetten, daß er es dachte.

In den langen Wochen, die ich auf Nachrichten von Richelieu wartete, empfing ich mehrmals Fogacer zum Mittagessen, und er gab mir die im Beichtstuhl gehörten Berichte weiter. Es war erschreckend, was in gewissen Kreisen des Hofes und der Stadt über den König und über Richelieu geredet wurde. Exakt wiederholte ich all diese niederträchtigen Reden dem König. Nur einmal, ein einziges Mal, erlaubte ich mir, nicht ohne Scham und Unbehagen, ein Wort zu ändern, weil es den Toren, der es gesprochen, in große Gefahr gebracht hätte.

Dieser Tor war mein Halbbruder, der Herzog von Guise. Der Leser erinnert sich vielleicht, daß dieser als junger Mann, zum Abscheu und Schrecken des Gesindes, in seinem Pariser Hôtel einen Löwen aufzog, um mangels Geist und Wissen wenigstens Mut zu zeigen. Wirklich bestaunte der Hof ein, zwei Tage lang diese bravura, dann war man es satt und zog über den Gernegroß her. Und wie zu erwarten, ging die Zähmung des Raubtiers schief. Denn als der Löwe seine Geschäfte wie gewohnt auf den Teppichen des vornehmen Hauses machte, wurde er eines Tages von einem Diener hart angefahren und sogar mit einem Scheuerbesen bedroht. Der Löwe, so groß wie sein Herr, ließ sich die Frechheit nicht bieten, sprang und zerfleischte dem Mann die Kehle. Alles schrie nach dem Herzog, der aber bei seinem Kartenspiel um so wenig nicht gestört werden wollte. Er befahl seinen Soldaten, das Tier zu erschießen und nebst dem Diener im Garten zu verscharren.

Doch zurück zu unseren Hammeln. Wie sich herausstellte, hatten kurz vor Richelieus Aufbruch zum zweiten Italienfeldzug Bassompierre und der Marschall Louis de Marillac (der Bruder des Siegelbewahrers) den Herzog von Guise in seinem Hôtel besucht. Das Gespräch drehte sich um Richelieu und geriet derart in Hitze, daß unser Trio, weil es die Ungnade des Kardinals glühend wünschte, diese schon für gewiß nahm und phantasierte, was dann mit ihm geschehen solle. »Hier«, sagte Fogacer, »zögerte die Lauscherin ein wenig, mir das Nachfolgende zu enthüllen. Erst auf meine dringliche Frage gab sie an, |171|daß Marschall von Marillac für seinen Tod plädiert habe, Bassompierre für Kerker und der Herzog von Guise ebenfalls für den Tod, den schimpflichsten Tod selbstverständlich.«

Ich war über diese unglaublichen Reden außer mir. Doch obwohl ich den Herzog nicht eben schätzte, waren wir Söhne derselben Mutter. Und würde er so hart bestraft, wie seine Bosheit es verdiente, fiele seine Ungnade auf meine liebe Patin zurück, die verwitwete Herzogin von Guise, die ich bekanntlich sehr liebte und die seit einiger Zeit so krank war, daß sie das Bett nicht mehr verließ.

Ich eröffnete mich hierüber Fogacer, und er meinte: »Mein Freund, es schadet weder dem Kardinal noch dem Herzog von Guise, wenn Ihr seine Wortwahl ein wenig korrigiert und ihn statt des Todes zum Beispiel die Verbannung wählen laßt, eine immerhin mildere Strafe. Zudem klingt es besser im Ohr: Marillac für Tod, Bassompierre für Kerker, der Herzog für Verbannung. Der größte Herr wählt das kleinste Übel.«

Ich dankte Fogacer und trug dem König die Version vor, die nach Fogacer »besser im Ohr klang«. Trotzdem wurde das königliche Antlitz bei Anhörung meiner Enthüllung zu Stein. »Was für elende Tröpfe!« sagte er. »Sie reden, wie wenn es schneit, und glauben, daß es keine Konsequenzen hat. Sie täuschen sich.«

Die Wochen vergingen, ein ganzer Monat, und erst gegen Ende März 1630 erreichte den König wieder ein Brief des Kardinals. Ich mußte ihn vor dem Großen Rat verlesen.

Der Inhalt dieses Briefes war folgender: Am fünfzehnten März, noch von Chiomonte aus, das der Leser schon kennt, und wäre es nur durch die spaßige Prophezeiung des Grafen von Sault, mich eines Tages in den Fenstern der Dorfkirche verewigt zu sehen, hatte Richelieu ein Ultimatum nach Susa gesandt und für die königliche Armee freie Bewegung auf den Straßen des Herzogtums verlangt. Die Antwort, die er erhielt, war ganz nach der Art des Herzogs von Savoyen: vage, ausweichend, aufschiebend. Also beschloß der Kardinal anzugreifen. Er marschierte ohne jeden Schußwechsel in Susa ein, der Herzog von Savoyen hatte sich nach Turin aufgemacht. Der Kardinal verfolgte ihn auf seinem Weg nach Turin, doch ohne an eine Belagerung zu denken, und als er mehrere Meilen vor der Stadt in einem Dorf namens Rivoli Rast hielt, erfuhr er, daß |172|an tausend savoyardische Soldaten sich nach Pinerolo geflüchtet hatten, einer kleinen, befestigten Stadt. Er schickte Marschall von Créqui mit siebentausend Mann zur Erkundung des Ortes. Doch als sie anlangten, stand der leer. Aus Furcht vor der Überzahl waren die savoyardischen Truppen ohne Gegenwehr entwichen. Créqui besichtigte die Feste Pinerolo mit dem Blick des Soldaten, war von seiner Eroberung entzückt und schickte sogleich einen Reiter mit einem Brief zum Kardinal. Den machte Créquis Schilderung derart neugierig, daß er mit verhängten Zügeln herbeieilte. Und kaum angelangt und ebenfalls auf dem Gipfel der Begeisterung, schrieb er an den König und pries die – kampflose – Einnahme von Pinerolo als einen »großen Sieg«. Allerdings war der hohe strategische Wert dieser Feste unstreitig.

***

»Monsieur, nur ein Wort, bitte.«

»Schöne Leserin, ich höre.«

»Mir scheint, Sie verfallen hier in eine Unart, die mich bei den Historikern oft ärgert. Sie sprechen in belehrendem Ton vom hohen strategischen Wert einer Festung, erklären aber nicht, weshalb. Man fragt sich, ob sie es selber wissen.«

»Schöne Leserin, verleumden Sie die Historiker nicht! Natürlich wissen sie es, nur erscheint ihnen dieser strategische Wert wohl zu offensichtlich, um einer Erklärung zu bedürfen.«

»Und Ihnen, Monsieur, ist Ihnen der von Pinerolo offensichtlich?«

»Zweifellos! Und weil ich, liebe Freundin, mir Ihre Geneigtheit erhalten möchte, will ich versuchen, ihn ohne Gelehrsamkeit zu erklären. Doch erlauben Sie mir zuerst einen kleinen Rückgriff. Bisher gingen wir davon aus, daß für den König von Frankreich Casale der Schlüssel zu Italien sei, jene Stadt, die Toiras seit mehreren Monaten hartnäckig gegen eine mächtige, von Spinola befehligte spanische Armee verteidigte. Nun, genau besehen, hat aber Casale, wenngleich eine viel größere Stadt als Pinerolo, lange nicht denselben strategischen Wert!«

»Wie das?«

»Zum ersten liegt Casale viel zu weit von der französischen Grenze entfernt: Um von Briançon Hilfe nach Casale zu bringen, |173|sind fünfundvierzig Meilen zurückzulegen. Hingegen sind es von Briançon nach Pinerolo nur fünfzehn Meilen.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, Monsieur, ist der Schlüssel zu Italien dem Tor Frankreichs bedeutend näher gerückt.«

»Ihr Wort, Madame, trifft den Nagel auf den Kopf. Bedenken Sie nur, liebe Freundin, wie unvergleichlich diese fünfzehn kleinen Meilen, die Briançon von Pinerolo trennen, die Nachrichtenübermittlung, die Versorgungstransporte und notfalls die Verstärkung erleichtern. Dagegen liegt Casale gefährlich weit von Frankreich und dazu noch zwischen zwei feindlichen Städten, Turin, das dem Herzog von Savoyen, unserem jetzt erklärten Feind, gehört, und Mailand, wo die Spanier sitzen.«

»Nur sagten Sie doch aber, daß Casale viel größer ist als Pinerolo.«

»Liebe Freundin, der strategische Wert einer Festung hat nichts mit ihrer Größe zu tun, vielmehr damit, wie schwer sie zu erobern ist. Und Pinerolo, das die Franzosen Pignerol nennen, hat eine ausgezeichnete Lage auf einem hohen Hügel, mit weiter Sicht auf das Umland, so daß jede feindliche Annäherung beizeiten zu beobachten ist. Den Donjon umschließt ein Kastell, das wiederum von Türmen mit Schießscharten verteidigt wird. Der König und der Kardinal haben diese ursprüngliche Anlage aber noch verstärkt, um sie uneinnehmbar zu machen. Sie umgaben das Kastell nicht mit einer, sondern mit zwei aufeinanderfolgenden Mauern, aber nicht etwa rund, sondern rechtwinklig verlaufenden Mauern, die beide Zinnen und Wachttürme tragen. Überdies wurden diese Mauern nicht lotrecht gebaut, sondern schräg, so daß das Untere mehr einwärts liegt als das Obere und es nahezu unmöglich ist, Sturmleitern anzustellen: Sie fänden keinen ausreichenden Stand.

Ein Torgebäude bewacht den Zugang zu den beiden Mauerzügen. Man tritt über eine Brücke ein, die auf Säulen steht und von viereckigen Türmen bewacht wird.«

»Monsieur, eine letzte Frage. Da wir Pinerolo oder Pignerol nun haben – geben wir Casale auf?«

»Aber nein! Wenn wir Casale aufgäben, würden die spanischen Truppen, die es belagern, sofort gegen Mantua, unseren Freund und Verbündeten, ziehen, den schon die kaiserlichen Österreicher bedrohen.«

»Also ist der Krieg noch nicht zu Ende?«

|174|»Sagen Sie nicht, der Krieg, Madame, sagen Sie, die Kriege: nämlich einerseits der, den König und Kardinal gegen die Spanier und die Kaiserlichen führen, und andererseits der Krieg der Königin, der Königinmutter, Gastons, Marillacs, der Frömmler und der Großen gegen den König und seinen Minister. Und dieser letzte Krieg, Madame, wird in jenem Jahr 1630 deutlich erbitterter und grausamer.«