Die Antwort von Hilda Helsingforth erhielt ich am 3. April.
Dr. Martinelli,
der Vertrag, den Sie unterschrieben haben, bindet Sie für zwei Jahre an den Helsingforth-Konzern. Er räumt zwar der Firma das Recht ein, Sie jederzeit zu entlassen, nicht aber Ihnen das Recht auf Kündigung – es sei denn, Sie verzichten zugunsten der Firma auf Ihre monatlichen Bezüge, die unsere Buchhaltung für Sie auf einem Sperrkonto führt.
Hilda Helsingforth
Ich stieß fast einen Freudenschrei aus, als ich das las: Meine Kündigung war zurückgewiesen und Hilda Helsingforth von ihrem Piedestal herabgestiegen. Ich hatte keinen allmächtigen sadistischen Gott mehr vor mir, sondern einen raffgierigen Unternehmer, der von Verträgen und Geldangelegenheiten sprach.
Ich begriff meinen Vorteil und nutzte ihn auf der Stelle. Am 4. April schrieb ich an Mr. Barrow folgenden Brief:
Lieber Mr. Barrow,
Mrs. Helsingforth hat recht. Die unbefriedigenden Ergebnisse, die in meinem Laboratorium bisher erzielt wurden, sind auf die Spannungen zurückzuführen, die zwischen mir und den A.s aufgetreten sind.
Was mich betrifft, ich halte meine Kündigung aufrecht; um meine Freiheit wiederzuerlangen, bin ich bereit, auf die Summen zu verzichten, die mir der Helsingforth-Konzern schuldet.
Hochachtungsvoll
Dr. Martinelli
Wie man sieht, brach dieser Brief nicht alle Brücken ab. Ich führte darin nur die A.s ins Feld und sagte kein Wort über die Frauen, die mich im Labor gleichwohl vor ebenso viele Probleme |99|stellten. Diesen Punkt verschwieg ich aus taktischen Gründen: ich wollte nicht mit mehreren Feinden auf einmal kämpfen.
Hilda Helsingforth antwortete am 15. April.
Dr. Martinelli,
ich nehme zur Kenntnis, daß Sie mir zweimal schriftlich Ihre Kündigung angeboten haben. Das gibt mir das Recht, an dem Tag, da ich mich von Ihnen trennen werde, die Entlassungsentschädigung einzubehalten, die in Ihrem Vertrag vorgesehen ist.
Bis dahin bitte ich Sie, die Aufgabe fortzusetzen, für die Sie unter Vertrag genommen worden sind.
Hilda Helsingforth
Ich wartete wieder, bis ich allein zu Hause war, um den Umschlag zu öffnen. Ich fürchtete, mein Schicksal herausgefordert zu haben. Ich stieß einen Seufzer aus und begann zu grinsen. Ja, zu grinsen. Ich fand die Bemühung der Absenderin, im letzten Moment noch ihre kleinen Einschüchterungseffekte ins Spiel zu bringen (»… an dem Tag, da ich mich von Ihnen trennen werde …«), plump, unsicher und wenig überzeugend. Und absolut grotesk war für mich die Vorstellung, daß ich mir um die Entlassungsentschädigung Sorgen machen könnte, wenn man mich eines Tages aus der Schutzzone jagen würde.
Ich glaubte, aus diesem Briefwechsel mit Hilda Helsingforth als Sieger hervorgegangen zu sein. Und das bereitete mir großes Vergnügen, das aber nur von kurzer Dauer war. Die Freude gehört nicht zu den Dingen, die in Blueville gedeihen können. Bei Lichte besehen, hatte dieses briefliche Duell im Grunde nichts geklärt. Im Labor lief alles so schlecht wie vorher. Und die Forschungsarbeit kam nicht voran.
Ich habe fast keine Hoffnung: deshalb habe ich niemandem gesagt, daß Anita für den kommenden Sonnabend ihren Besuch angekündigt hat. Mrs. Pierce hat es trotzdem erraten. Bin ich denn wirklich so ein offenes Buch? Hat sie Anitas (zerknitterten und wieder geglätteten) Brief durch meinen Anzug und die Lederbrieftasche hindurch lesen können?
Wenn Mrs. Pierce über Anitas Besuch Bescheid weiß, sind in Blueville selbstverständlich alle auf dem laufenden, auch die alleinstehenden Frauen und die A.s. Denn Mrs. Pierce ist die |100|einzige Frau eines PMs, der es gelungen ist, gesellschaftliche Kontakte zu den oberen Kasten herzustellen. In ihrer unersättlichen Neugierde hat sie sich weder von dem Schweigen noch von den eisigen Blicken und Abfuhren abschrecken lassen. Mrs. Pierce hat die A.s und die alleinstehenden Frauen mit Liebenswürdigkeiten überhäuft, mit ihren Intuitionen aus der Fassung gebracht und mit ihren Prophezeiungen irritiert.
Ihr Jagdgebiet ist die Cafeteria. Sie setzt sich niemals mit ihrem vollen Tablett zu einem PM, auch nicht zu ihrem Mann. Wir sind ihr schließlich jederzeit sicher, und sie hebt sich diesen Bissen bis zuletzt auf, für den Abend. In der Cafeteria hält sie mit ihrem Vogelkopf und ihren Habichtsaugen links und rechts Ausschau nach potentiellen Opfern, und wenn sie einen freien Platz erspäht hat, stürzt sie unversehens zu einem Tisch der A.s oder der alleinstehenden Frauen. Sie läßt sich dort nieder, ergreift Besitz von ihren Nachbarn und redet wie ein Wasserfall. Weil sie alles über jeden weiß, versteht sie Interesse zu wecken, zu amüsieren und zu beunruhigen.
Auch ihre Talente erregen Bewunderung. Sie hat Ahnung von Graphologie, Physiognomik und Chiromantie. Sie kennt alle Namen und Vornamen, sie weiß über das Alter, die Sorgen, den Geschmack und die Schwächen eines jeden Bescheid. Mit Dr. Grabel spricht sie über seine Sammelleidenschaft, über die sie Gott weiß wie genau unterrichtet ist, obwohl er nicht sehr gesprächig ist. Sie hat sich an Mrs. Barrow herangemacht und sie in einer knappen Woche für sich gewonnen. Mr. Barrow leistete einen Monat lang Widerstand, rutschte ihr zwischen den Fingern hindurch. »Ich krieg’ ihn nicht zu fassen, Ralph, er ist glitschig.« Schließlich fand sie die Stelle, an der er zu packen war: seine unbeschreibliche, hypertrophierte, pathologische Eitelkeit. Ich habe Mrs. Pierce bei ihrem Vorgehen beobachtet: es ist ein einmaliges Schauspiel. Sie trippelt auf ihren Reiherbeinen zu ihm hin, nähert sich ihm mit entzücktem Gesichtsausdruck, und sobald sie nahe genug heran ist, überschüttet sie ihn mit Komplimenten. Das geht ihm runter wie Öl, und wenn es noch so plump ist. Ich nehme sie zur Seite und sage: »Joan, überziehen Sie nicht, Sie teilen die Komplimente ja mit der Schöpfkelle aus.« Sie lacht ihr kurzes scharfes Lachen, das dem Schrei einer Möwe ähnelt. »Nein, Ralph! Nicht mit der Schöpfkelle, sondern mit der Maurerkelle! Für Mr. Barrow immer die Maurerkelle!«
|101|Als ich Mittwoch abend an den Fenstern der Baracke vorbeigehe, in der die Pierces wohnen, klopft jemand von innen an die Scheibe. Ich hebe den Kopf und sehe nichts, aber da ich die Gewohnheiten von Joan Pierce kenne, gehe ich hinein.
Sie ist allein und steht vor dem Fenster. Sie legt einen Finger an den Mund und bedeutet mir mit einer Geste, mich zu setzen, was ich auch tue. Sie hält das Fernglas an die Augen, und ich frage mich, was sie wohl sehen mag, da der Vorhang zugezogen ist, bis ich im Stoff zwei kleine runde Öffnungen erkenne, die nicht vollständig ausgeschnitten sind und die es ihr gestatten, zu sehen, ohne gesehen zu werden. Ich nehme an, sie befestigt die beiden Flicken durch ein Stück Klebestreifen, wenn sie nicht in Aktion ist.
Ich warte gute fünf Minuten, langweile mich aber nicht. Ich liebe Joan Pierce, wie man eine Frau nur lieben kann – ohne sie zu begehren. Denn in dieser Hinsicht bin ich beruhigt, da existiert sie nicht für mich. Sie besitzt keinerlei Charme, keine Figur, keine Sinnlichkeit, nicht einmal Sex. Ihren Körper also ausgeklammert, bringe ich ihr eine starke Zuneigung entgegen und genieße auch die Zuneigung, die sie mir entgegenbringt, und die Art, wie sie auf mich eingeht. Mir gefällt vor allem, daß sie jedesmal, wenn sie mich ruft, etwas Neues zu berichten hat. Bei diesem Einsiedlerdasein in Blueville, wo nichts geschieht – immer nur Arbeit für das Heute und Angst um die Zukunft –, ist eine Neuigkeit unbezahlbar.
Ich warte, und sie läßt mich warten wie eine große Künstlerin, die ihres Publikums sicher ist und sich die Glanzleistung für den richtigen Moment aufspart.
Dann ist es soweit. Ich bin reif. Und sie hat es geschafft. Sie setzt das Fernglas ab, legt erneut den Finger an den Mund, geht in eine Ecke des Zimmers, kniet nieder und macht sich an der Scheuerleiste zu schaffen; ich kann nichts erkennen, weil sie mir den Rücken zukehrt. Als sie endlich fertig ist, sieht sie einem munteren Sperber ähnlich und stößt mehrmals ihren schrillen Lachschrei aus. Sie setzt sich mir gegenüber in einen Schaukelstuhl und beginnt aufgeräumt zu wippen, wovor ich immer Angst habe, denn wenn ich sie länger ansehe, wird mir übel.
»Ralph, Sie können ungehindert sprechen! Ich habe meine Abhöranlage ausgeschaltet. Da am Sonnabend Anita zu Ihnen kommt, sollten Sie ihre Abhöranlage ebenfalls ausfindig machen, |102|vor allem in Ihrem Zimmer. Wozu soll sich Mr. Barrow an euern Spielen weiden!«
Jetzt lacht sie wieder wie eine schreiende Möwe und schaukelt heftig mit dem Stuhl. Ich schlage die Augen nieder und lächle verlegen.
»Hören Sie auf!« schreit sie lachend. »Hören Sie auf, solche jungfräuliche Miene zu machen!«
»Hören Sie lieber auf zu schaukeln, ich ertrage das nicht.«
»Oh, Verzeihung, Ralph, ich hatte es vergessen!«
Sie hört auf. Ich sehe sie an.
»Und woher wissen Sie, daß Anita kommt?«
»Montag, als Sie ihren Brief bekamen.«
»Haben Sie die Schrift auf dem Umschlag erkannt?«
»Aber nein. Sie vergessen, daß Sie Ihre Post im Labor bekommen. Ich habe gesehen, was für ein Gesicht Sie beim Mittagessen machten.«
Ein wenig pikiert sage ich: »Ich wußte nicht, daß man mir alles so vom Gesicht ablesen kann.«
»Man kann es nicht, beruhigen Sie sich, Ralph. Ich bin eine Ausnahme, weil ich den Zusammenhang kenne.«
»Welchen Zusammenhang?«
Sie lacht.
»Muß ich das unbedingt erläutern? Also gut, sagen wir … wachsende Begierde nach der Nähe einer Frau (sehr gut gesagt!) und Befürchtungen wegen Ihrer künftigen Beziehungen zu Anita.«
»Und was hat sich in diesem Zusammenhang verändert?«
»Seit Montag ist die Begierde fieberhaft (Lachen), und Sie haben Phasen der Hoffnung und der Mutlosigkeit durchgemacht. Außerdem reden Sie viel weniger und haben fast aufgehört, sich wegen Dave herumzuquälen.«
»Vielleicht habe ich an eine andere Frau gedacht.«
Mehrere Möwenschreie.
»Aber das haben Sie doch auch, Ralph! Versuchen Sie nicht, mich hinters Licht zu führen, Sie verdammter Heuchler, Sie! Aber die anderen Frauen kommen Ihnen unerreichbar vor, deshalb haben Sie sie in Ihre Träume verbannt …«
Ich schweige. Sie hat das mit Pussy also Gott weiß wie erraten, denn ich zweifle nicht eine Sekunde lang, daß Stien … nein, so etwas macht er nicht.
|103|Ihre Gabe, einen zu durchschauen, verwirrt mich, und noch bevor mir zu Bewußtsein kommt, daß ich mich wie ein Eingeborener benehme, der seinen Zauberer um Rat bittet, frage ich sie:
»Joan, glauben Sie, daß Anita kommen wird?«
Sie hat aufgehört zu lachen und sieht mich voll Güte mit ihren durchdringenden Augen an.
»Sehr wahrscheinlich. Aber Sie dürfen es ihr nicht übelnehmen, wenn sie ihr Versprechen zwei- oder dreimal nicht gehalten hat. Auch nicht, daß sie Sie immer seltener besucht. Nein, Ralph, machen Sie nicht so ein Gesicht. Anita kann nicht machen, was sie will. Und vor allem, sie hat einen Weg eingeschlagen, auf dem Sie ihr nicht folgen können. Sie hat angestrengt gearbeitet, sich ungeheuer viel Mühe gegeben und hat jetzt eine sehr große Karriere vor sich. Die wird sie Ihretwegen nicht sausen lassen.«
»Also wird sie mich sausen lassen«, sagte ich entmutigt.
»Nicht völlig. Sie bleiben hier in Blueville, an Blueville gekettet wie die Frau an den häuslichen Herd. Und Anita ist der große Mann, hin und her getrieben, vom Strudel der Staatsangelegenheiten mitgerissen. Anita denkt an Sie. Aber sie ist nicht hier.«
»Glauben Sie nicht, daß sie öfter kommen würde, wenn sie mich mehr liebte?«
Wieder der Möwenschrei.
»Das, Ralph, ist eine Überlegung, die ich als weibisch bezeichnen würde! Anita hat ihr Leben aufgeteilt. Wie ein Mann: zwei Schubladen. In der größeren ihre Karriere. In der anderen Sie.«
»Reizend.«
»Ach, seien Sie ehrlich, Ralph! Sie sind doch gar nicht so wahnsinnig in Anita verliebt. Ihnen spuken alle möglichen anderen Träume von anderen Personen im Kopf herum …«
Ich werde mir an dieser Stelle wieder meiner widersprüchlichen Empfindungen für Joan bewußt. Ich bewundere sie und fühle mich von ihr herausgefordert. Sie sieht alles, sie weiß alles, und sie ruft es einem weiß Gott ständig in Erinnerung! Es kümmert sie wenig, ob sie jemand auf die Füße tritt, Geheimnisse verletzt oder Schamgefühle beleidigt.
Ich schweige abweisend, doch mein Hochmut läßt sie kalt. Sie amüsiert sich darüber. Sie ist sich der Zuneigung, die sie mir entgegenbringt und die ich erwidere, sicher. Und im Bewußtsein |104|dieser Überlegenheit schießt sie auf ihr Ziel los. Diese Frau ist eine Draufgängerin. Sie macht mich erschauern und beunruhigt mich. Wenn das so weitergeht, werde ich nicht einmal einen Bruchteil meiner Empfindungen für mich behalten können.
Sie lacht.
»Ich möchte Sie daran erinnern, daß Anita großen Gefallen an Ihnen findet.«
Kurzes und schrilles Lachen. Ein ganzer Möwenschwarm, der davonfliegt.
»Was ich im übrigen verstehe«, sagt sie und begutachtet mich mit dem Schnabel und ihren stechenden Augen. »Sie sind ein hübscher Junge, in verkleinerter Ausführung, Ralph. Setzen Sie nicht so eine verschreckte Miene auf, ich bitte Sie! Ich bin keineswegs im Begriff, Ihnen einen Antrag zu machen! Was sollten Sie denn auch mit einem Gerippe wie mir anfangen! Ausgerechnet Sie, dem mollige Frauen gefallen. (Woher weiß sie das?) Und Sie wissen ja auch, daß Sinnlichkeit nicht meine Stärke ist. Nein, nein! (Sie lacht.) Armer Reginald! (Reginald ist ihr Mann.) Ich genieße vor allem mit den Augen, Ralph.«
Mich verwirrt die Selbstverständlichkeit, mit der Joan Pierce über Tabus spricht. Und ich begreife ihren außergewöhnlichen gesellschaftlichen Erfolg in Bluevielle. Sie geht drauflos, sie sagt alles mögliche, sie hat keine Komplexe. Und die Tatsache, daß sie keine hat, kann bewirken, daß man sich selbst davon befreit. Als ich jünger war, machte mir zum Beispiel mein kleiner Wuchs sehr zu schaffen. Und ich bewundere, wie Joan darauf anspielt, ohne mich zu kränken, daß sie sogar darüber witzelt (»meine verkleinerte Ausführung!«), und der Witz, in ein Kompliment verpackt, bei mir ankommt. Mehr oder weniger gut natürlich. Ein kleiner Pfeil, der sich in die Haut bohrt, läßt immer eine Narbe zurück, auch wenn man es im Augenblick wenig spürt. Ich fühle, daß ich es Joan nachtragen werde.
Obendrein bin ich noch der Verlegene, und um es zu verbergen, sage ich: »Was haben Sie gesehen, Joan, als ich hereinkam?«
»Faszinierende Dinge«, sagt sie kurz auflachend. »Wußten Sie, Ralph, daß die Homosexualität unserer Milizionärinnen alle Merkmale einer Institution angenommen hat?«
»Ich habe es vermutet.«
»Und ich bin jetzt dessen sicher. Die armen Milizionärinnen! |105|Aber viel mehr als das interessiert mich die Tatsache, daß sich unter ihnen ein Außenseiter befindet.«
»Ein Außenseiter?«
»Aber ja! Die Selektion ist offenbar nicht streng genug gewesen. Dieses Mädchen benutzt ein Spielzeug, das eine gewisse Sehnsucht nach der männlichen Anatomie verrät.«
»Sie meinen ein elektrisches Massagegerät?«
Mehrere Möwenschreie.
»Aber nein, kein Massagegerät! Größer, viel größer, vollständiger und raffinierter. Aber ich will es Ihnen jetzt nicht beschreiben. Ich hoffe, ich kann es Ihnen eines Tages zeigen. Es ist ganz erstaunlich.«
Sie erstickt fast vor Lachen. Ich unterbreche sie.
»Und wer ist diese Milizionärin? Kenne ich sie?«
»Leider nein, armer Ralph, es ist nicht Pussy. Widersprechen Sie nicht. Ich weiß, Sie haben eine Schwäche für das kleine Mädel, seit Sie ihr den Arm eingerenkt haben. Als Sie an jenem Abend auf der Suche nach Dave bei mir vorbeikamen, wirkten Sie wie betrunken. Aber mein Gott, was soll an einem Ellbogen so faszinierend sein!«
Ihre wohlwollenden Falkenaugen forschen in den meinen, und ich lache jetzt auch. Denn neben ihren wunderbaren Eigenschaften hat Mrs. Pierce den Vorzug einer fröhlichen Natur. Sie entschärft auf diese Weise alle schwerwiegenden Probleme. In Blueville ist das von unschätzbarem Wert.
Ich sage es ihr, worauf sich ihre Miene sofort verdüstert.
»Nein, Ralph, Sie täuschen sich. Meine Fröhlichkeit ist Abwehr. Ich bin genauso beunruhigt wie Sie. Mehr noch sogar, weil ich so viele Dinge ahne. Und Sie kommen mir recht sorglos vor.«
»Ich, sorglos?«
»Oh, ich weiß, Sie machen sich viele Gedanken wegen Dave und auch wegen Anita. Aber glauben Sie mir, Ralph, Sie sollten sich etwas weniger mit Ihrem Privatleben beschäftigen und mehr an die Zukunft der PMs in Blueville denken. Es gibt da einiges, was mir nicht gefällt. Und auch Dinge, die mir Angst einflößen.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel: haben Sie sich nicht gefreut, als Hilda Helsingforth Ihre Kündigung ablehnte? Nun gut, ich kann Sie verstehen. Aber im Grunde heißt das doch, daß Sie ein Gefangener sind. Daß man fest entschlossen ist, Sie physisch daran zu hindern, |106|wegzugehen. Nehmen wir an, Ralph, Sie packen Ihre Koffer und erscheinen morgen mit Dave am Wachtturm – glauben Sie, man würde Sie hinauslassen?«
Ich sehe Joan an, und als sich unsere Blicke begegnen, haben wir beide die eben beschriebene Szene vor Augen, ich sehe sie mit ihren klarsichtigen Augen und bin mir völlig sicher, daß die Milizionärinnen mir verbieten würden, das Tor zu passieren. Mir wird auch klar, daß ich es immer gewußt habe. Wenn man jedoch so lange in Freiheit gelebt hat, braucht man Lehrzeit für die Sklaverei.
Joan ist jedem einzelnen meiner Gedanken gefolgt.
»Wissen Sie«, fährt sie fort, »wie Stien Blueville nennt? Ein Konzentrationslager in Luxusausgabe. Und das ist es auch im Grunde: gutes Essen, geheizter Swimmingpool, Salons, Ausflüge zu Pferde. Aber auch Stacheldrahtzäune, Maschinengewehre auf den Wachttürmen, Ausgangssperre, überall Abhörgeräte, Telefonüberwachung, Briefkontrolle. Nicht zu vergessen: kein Radio, kein Fernsehen. Nur hin und wieder ein paar unvollständige Zeitungen. Ralph, meinen Sie, daß ich meine Nase nur zum Vergnügen überall hineinstecke? Ich will Bescheid wissen, das ist alles. Bescheid zu wissen ist eine Frage des Überlebens, wenn Sie in Einzelhaft gehalten werden.«
Sie hat mit Feuer und Leidenschaft gesprochen. Und ich entdecke eine Joan, die ich nicht kannte: verantwortungsbewußt, umsichtig. Bis dahin bewunderte ich ihre Talente und war von ihrer clownesken, klatschsüchtigen Seite enttäuscht. In Wirklichkeit ist diese Frau ein Felsen. Meine Achtung vor ihr steigt auf schwindelerregende Weise.
»Joan, ich danke Ihnen, daß Sie mir soviel Vertrauen entgegenbringen«, sage ich einen Augenblick später. »Da Sie mir aber das alles erzählen, nehme ich an, daß es einen Grund haben muß. Also schießen Sie los!«
Joan ist eine gute Schauspielerin. Wenn man darauf wartet, daß sie redet, hüllt sie sich in Schweigen. Besser gesagt, sie kostet das Schweigen aus. Man hat sofort den Eindruck, als wäre eine kleine rote Lampe aufgeflammt und finge an zu blinken: Achtung, ich schweige, was ich jetzt sagen werde, ist wichtig.
»Kommen Sie zum Ziel, Ralph«, sagt sie schließlich. »Finden Sie Ihr Serum. Aber schnell, schnell! Sie wissen nicht, wie wichtig das ist.«
|107|»Ich kann es mir vorstellen«, sage ich, ein wenig pikiert.
Sie ist nicht aufzuhalten. Sie geht über meinen Groll hinweg, sie holt aus, zerstört meine Umzäunung, trampelt auf meinem Gelände herum.
»Man hat nicht den Eindruck! Noch langsamer könnte es in Ihrem Labor gar nicht vorangehen! Krieg zwischen den Kasten! Sie verbringen mehr Zeit mit Auseinandersetzungen als mit Arbeit.«
Ich bin verletzt und wütend. Sie überschreitet wirklich die Grenzen. Mein Privatleben, geschenkt. Aber sie soll wenigstens meine berufliche Tätigkeit aus dem Spiel lassen! Mein Labor geht sie nichts an! Sie soll da nicht herumschnüffeln!
Ich stecke die Hände in die Hosentaschen, runzle die Brauen und sage lauter als vorher: »Hat Ihnen Reginald diese Information über mein Labor geliefert?«
Ich hätte besser geschwiegen, denn ich liefere ihr damit einen casus belli für die Fortsetzung ihrer Invasion.
»Nein, mein Herr!« sagt sie und stößt einen schrillen, triumphierenden Schrei aus. »Reginald sagt mir kein Wort! Reginald ist Dr. Martinelli bedingungslos ergeben! Reginald gehört zu denen, die eher wortlos sterben, als daß sie sprechen!« Sie holt tief Luft. »Aber ich weiß Bescheid. Ich weiß – und es spielt keine Rolle, woher –, daß die Frauen und die A.s aus Ihrem Labor Sie hassen. Und zu Recht! Und daß Sie diesen Haß erwidern! Bravo! Glänzende Arbeit! Hervorragende Bedingungen für die Forschung!«
Nachdem alle meine Stellungen überrannt sind, erkenne ich, daß mir nur ein schwacher Gegenangriff bleibt.
»Sie hätten natürlich die linke Wange hingehalten und aus meinem Labor ein kleines Paradies gemacht.«
»Aber gewiß, Ralph«, sagt sie mit völlig überlegener Ruhe. »Und genau das muß jetzt auch geschehen. Wenigstens wenn Sie ans Ziel kommen wollen. Die Ablehnung Ihrer Kündigung hat Ihnen eine Position der Stärke gegeben. Nutzen Sie das aus, Ralph! Doch vorsichtig! Im Sinne der Versöhnung, der Gerechtigkeit …«
Sie hat recht. Ich war nicht darauf gekommen, mich meiner Position der Stärke zu bedienen, und schon gar nicht, das muß ich eingestehen, in diesem Sinne. Geniale Joan! Ihr Scharfblick hat mich entwaffnet, meine Stimme und meine Gedanken versagen; |108|wozu ich noch fähig bin, ist, die traurigen Überreste meiner Eigenliebe zusammenzusuchen und meinen Rückzug einzuleiten.
Ich lächle schwach, halb gezwungen, halb freundschaftlich, nehme Haltung an und frage: »Herr General, haben Sie noch weitere Anweisungen zu erteilen?«
»Aber ja«, sagt sie in einem überaus sachlichen Ton. »Das alles ist noch gar nichts. Ich will Ihnen etwas Sensationelles zeigen.«
Das ist der von Anfang an sorgfältig vorbereitete große Auftritt. Sie macht mit ihren langen Stelzen ein paar Schritte und holt ihre große schwarze Tasche vom Tisch. Ob sie daraus eine ihrer Puppen hervorholen wird – oder wie ein Zauberkünstler ein Kaninchen – oder einen Taubenschwarm?
Nein. Lediglich eine Zeitschrift, die ihr magerer Arm durch die Luft schwenkt.
»Das hier ist unbezahlbar, Ralph! Das ist eine Nummer von New Era, die man uns vorenthalten hat. Und nicht ohne Grund! Ich habe sie gestern mit einiger Mühe aus Mr. Barrows Papierkorb gerettet. Zum Glück habe ich ein scharfes Auge. Trotzdem war es nicht leicht, ich mußte meine Tasche öffnen, mich heranpirschen, mich bücken – und bei alledem für den großen Mann, der aufgeplustert kreuz und quer durchs Zemmer ging und mir seinen Lebenslauf erzählte, die Maurerkelle schwingen. Hier, lesen Sie, Ralph. Sprechen Sie zu niemandem darüber, und geben Sie mir die Zeitschrift zurück.«
»Aber diese Ausgabe ist vom Donnerstag!«
»Ja, wie Sie sehen, ist sie erst eine knappe Woche alt. Und vor allem glänzt diese Ausgabe durch einen großen Artikel mit der Überschrift Law and Order1. Lesen Sie ihn, dann werden Ihnen einige Lichter mehr über die Welt da draußen aufgehen.«
»Vielen Dank, Joan«, sage ich und versuche, die Zeitschrift so gut wie möglich unter meiner Jacke zu verstecken.
Ich nicke ihr freundlich zu und bin schon an der Tür, als sie mich zurückruft und ihre stechenden Augen auf mich heftet.
»Und noch eins, Ralph. Sehen Sie Mrs. Barrow in der Cafeteria nicht so an. Es könnte eines Tages auffallen.«
|109|New Era, die ich wie ein Dieb unter meiner Jacke trage, wurde kurz nach dem Amtsantritt der Präsidentin Bedford gegründet und steht in dem Ruf, die Ansichten des Weißen Hauses wiederzugeben. Ich warte, bis Dave im Bett ist, schließe die Barackentür ab, ziehe in meinem Zimmer die Vorhänge zu und beginne, Law and Order zu lesen, ein wenig fiebrig und mit dem angenehmen Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Ein langatmiger Artikel, aber von größtem Interesse, zumal er von Deborah Grimm stammt, von der ich bereits den berühmten Satz über den Geschlechtsakt zitierte. Es läßt sich nicht verhehlen, ein aus dieser Feder geflossener umfangreicher Artikel ist schon ein Leckerbissen. Ich bin keineswegs enttäuscht, meine Erwartungen erfüllen sich.
Deborah Grimm legte zunächst dar, mit welcher tiefen Sorge sich die Bedford-Administration die Frage nach der Aufrechterhaltung der Ordnung stellte, als die Epidemie die Reihen der Polizei zu lichten begann; denn durch den täglichen Kontakt mit der Bevölkerung war die Polizei besonders gefährdet. Es wurden zwar unverzüglich weibliche Polizeieinheiten aufgestellt, aber sie waren zahlenmäßig klein und hatten wenig Erfahrung. Man war auf ein sprunghaftes Ansteigen der Kriminalität gefaßt, insbesondere der Raubüberfälle, die die Straßen der großen amerikanischen Städte genauso unsicher gemacht hatten wie bestimmte Londoner Viertel im Mittelalter.
Nichts dergleichen geschah. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß die Zahl der Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Morde in dem Maße sank, in dem die Polizeibestände dahinschmolzen. »In ihren Voraussagen« – ich zitiere Deborah Grimm – »hatte die Administration einen wichtigen Faktor übersehen, nämlich die Laster, von denen die Unterwelt lebte; Spiel, Rauschgift und Prostitution aber waren fast ausschließlich männliche Laster.«
Die Epidemie versetzte den »rackets«, von denen dieses Treiben ausging, einen tödlichen Schlag; denn während sie die männliche Kundschaft allmählich dahinraffte, richtete sie gleichzeitig in den Kreisen der Zuhälter, Rauschgifthändler und Spielhöllenbesitzer Verwüstungen an. Der Kreislauf des organisierten Lasters kam zum Erliegen. In New York hatten die Prostituierten, die in der Stadt und am Hafen ihr Gewerbe |110|zu Tausenden betrieben, fast von einem Tag zum andern »ihre Kuppler und ihre Kunden« verloren.
Es gab jedoch »Schatten auf diesem Bild«. Diejenigen Prostituierten, die nicht Opfer, sondern Komplizen des männlichen Lasters gewesen waren, versuchten, neue »rackets« auf die Beine zu stellen, was ihnen in einem gewissen Maße auch gelang. Unter den Frauen, die »von ihrem Gefährten angesteckt« worden waren, bestand weiterhin eine ziemlich große Nachfrage nach Rauschgift, und die Händler versuchten, neue Kanäle zu finden, über die das Rauschgift vom Fernen Osten in die Vereinigten Staaten gelangte.
Die weiblichen Polizeieinheiten traten sofort gegen diese Rauschgiftlieferanten in Aktion. Trotz einer sehr unzulänglichen polizeilichen Ausbildung erzielten sie bei der Bekämpfung der weiblichen Unterwelt, die selbst noch in ihren Anfängen steckte, bedeutende Erfolge. Diese waren zum Teil zurückzuführen »auf eine Eigenschaft, die ihre männlichen Vorgänger nicht immer besessen hatten: die Unbestechlichkeit«1. Aber es ging nicht allein um das Rauschgift. Auch auf anderen Gebieten entfaltete sich die Findigkeit des Lasters. Bekanntlich hatte die Bedford-Administration die Sex-Shops unter Androhung hoher Gefängnisstrafen geschlossen und vor allem die Herstellung und den Verkauf der für Frauen bestimmten erotischen Artikel verboten. Dieses Gesetz wirkte sich ohne Zweifel sehr wohltuend auf die öffentliche Moral aus, doch brachte es eine starke Nachfrage vor allem nach Gegenständen phallischen Charakters mit sich, »und das entgegen der jetzt wissenschaftlich erwiesenen Tatsache2, daß das weibliche Lustempfinden von der Berührung der Klitoris herrührt und nicht von der Einführung des männlichen Gliedes in die Vagina« (sic).
Hier muß man ohne Zweifel – ich zitiere – »bei einem Geschlecht, das dem Symbol seiner Unterdrückung am Ende magischen Wert zuschrieb, verwurzelte Gewohnheiten und jahrtausendealten Aberglauben« in Rechnung stellen.
|111|Wie dem auch sei, es dauerte nicht lange, bis die weibliche Unterwelt in der ungesetzlichen Herstellung phallischer Artikel eine Quelle riesiger Profite entdeckte; die raffiniertesten wurden auf dem Schwarzmarkt bald zu beträchtlichen Preisen gehandelt.
Laut Deborah Grimm fand die Polizei vor kurzem bei der Durchsuchung des Kellers einer kleinen Gummifabrik in einer Schachtel einen gefalteten Gegenstand von geringer Größe. Das Etikett trug die harmlose Bezeichnung Superdoll. Doch wenn Superdoll mit Hilfe einer Luftpumpe aufgeblasen wurde, nahm er das Aussehen und beinahe die Konsistenz eines gutgewachsenen nackten Mannes mit leicht geschwelltem Penis an. Auf dem Rücken dieses Mannes befand sich zwischen den Schulterblättern im Griffbereich der ihn umarmenden Benutzerin eine Tastatur, welche die Steife und die zusätzliche Schwellung des Penis, seine Verwendung als Massagegerät mit zwei Geschwindigkeiten und das ruckweise Ausstoßen einer warmen, klebrigen Flüssigkeit steuerte.
Der Fabrikabgabepreis von Superdoll betrug achthundert Dollar, und die Puppe wurde im Versandhandel mit Kreditmöglichkeiten verkauft. Die Untersuchung ergab, daß sich ein illegaler Händlerring an den normalen Vertrieb von Superdoll angehängt hatte und im Hausverkauf das Stück zu eintausend Dollar anbot. Diese Straßenhändler hatten offensichtlich beim Versandhandel umfangreiche Ankäufe getätigt und Lagerbestände angelegt, denn als die Fabrik geschlossen wurde, blieben die Superdolls auf dem Markt; sie wurden von Tür zu Tür für zweitausend Dollar in bar ohne Garantie für Ersatzteile angeboten.
Die Herstellerin und die Händlerinnen dieses »widerlichen Spielzeugs« (sic) wurden zur Rechenschaft gezogen, nicht aber die Benutzerinnen, deren Namen und Adressen man ja besaß (zumindest von denen, die Superdoll über den Versandhandel gekauft hatten). Der Generalbundesanwalt meinte, in diesen Fällen liege kein Verbrechen, sondern nur eine unmoralische Handlung vor, weil ja ausgeschlossen war, daß »diese Handlung auf gesellschaftlicher Ebene unangenehme Folgen nach sich ziehen könnte«1.
|112|Dagegen zeigte sich der Generalbundesanwalt viel unerbittlicher, wenn es sich um Aktivitäten handelte, die »die Anwesenheit und Beteiligung eines potenten Mannes« einschlossen. Aus dieser Kategorie sind die PMs auszuklammern, die sich auf Grund ihrer wissenschaftlichen oder ökonomischen Bedeutung in Schutzzonen aufhalten und als ungefährlich gelten können, weil sie unter ständiger Überwachung stehen. Die SPMs (self-protected men) verursachen ebensowenig Sorge. Im allgemeinen handelt es sich um Millionäre, die sofort nach der Ausbreitung der Epidemie in ihren Ranches Zuflucht suchten und dort den Selbstschutz organisierten: Sie entließen ihre männlichen Mitarbeiter oder verlangten von ihnen, sich der Kastrationsweihe zu unterziehen.
Übrig blieb eine Kategorie, die die Miliz bald vor ernsthafte Probleme stellte: die Einzelgänger oder »Hirsche« (stags), wie sie dann im Polizeijargon hießen.
An diesem Abend konnte ich Deborah Grimms Aufsatz nicht weiterlesen; in meinem Zimmer ging das Licht aus. Seltsamerweise fühlte ich mich im ersten Augenblick genauso schuldig wie ein pubertierender Knabe, der bei der heimlichen Lektüre eines verbotenen Buches ertappt wird. Ich brauchte eine Weile, um mir darüber klarzuwerden, daß man mich nicht bestrafte, sondern daß es zehn Uhr war, daß ich mich also von der Ausgangssperre hatte überraschen lassen. Ich zog mich aus, das Dunkel des Zimmers wurde trotz der dichten Vorhänge in regelmäßigen Abständen vom Scheinwerfer des Wachtturms zerrissen. Als ich den Pyjama anhatte, schob ich die Zeitschrift unter mein Kissen und machte kurz meine Taschenlampe an (es war meine letzte Batterie, und ich ging sparsam mit ihr um), um den Wecker auf halb sechs zu stellen.
Ich schlief schlecht. Ich hatte Deborah Grimms Artikel mit tiefem Unbehagen gelesen. Der fanatische, repressive Charakter der Gesellschaft, den sie beschrieb, flößte mir Entsetzen ein. Ich fand darin nicht nur bestätigt, daß die PMs tatsächlich Gefangene waren, die durch strenge Kontrolle »unschädlich« gemacht wurden; mir drängte sich auch die Feststellung auf, daß in der Welt draußen der Mann völlig negativ dargestellt wurde und daß die Beziehungen zwischen den Geschlechtern als so verwerflich galten, daß selbst ihr Trugbild für ein Verbrechen gehalten wurde.
|113|Obwohl mich diese Lektüre sehr bedrückte, fragte ich mich insgeheim nach der Identität jener Milizionärin, die Joan Pierce als »Außenseiter« bezeichnet hatte und die ein Spielzeug benutzte, das sich vom Superdoll vermutlich kaum unterschied. Joan hatte bestätigt, daß es sich nicht um Pussy handelte, aber ich stellte mir die Frage, ob ich ihr glauben durfte und ob ihre Behauptung nicht den Zweck hatte, meinen Träumen einen Dämpfer aufzusetzen. Auf keinen Fall hatte sie damit Erfolg, zumindest nicht, was die nächtlichen Träume betraf. Diesmal plagten sie mich bis zum Morgengrauen; furchterregende Situationen (Reverend Ruth Jettison zwang mich, das Caladium seguinum zu trinken) wechselten mit erotischen, in denen bald Anita meine Partnerin war, bald eine Frau, die es zuwege brachte, gleichzeitig Pussy, Jackie und Mrs. Barrow zu ähneln.
Ich fuhr entsetzt hoch, als der Wecker klingelte, und war schweißgebadet. Ich nahm eine Dusche, streifte meinen dicken Morgenmantel über und setzte mich bei aufgezogenen Vorhängen an meinen Tisch. Bevor Dave aufstand, hatte ich eine gute Stunde für mich, um Deborah Grimms ausführlichen Artikel zu lesen.
Wenn es auch unglaubwürdig scheint – meine turbulente Nacht hatte mich trotz alledem gestärkt, an diesem Morgen fühlte ich mich optimistischer. Ich wurde gewahr, daß Deborah Grimms Aufsatz genaugenommen das Eingeständnis einer Niederlage war und daß sich die neuen Tabus tatsächlich nur schwer durchzusetzen vermochten. Diese Feststellung gab mir wieder Mut, und ich fuhr leichteren Herzens in meiner Lektüre fort, wobei ich es sogar fertigbrachte, an einigen Stellen zu lachen. Obwohl bei Deborah Grimm kein Funken Humor zu finden war, wirkte der Gegensatz zwischen ihrem gehobenen, überaus moralisierenden Ton und den Ungeheuerlichkeiten, die sie mit größter Selbstverständlichkeit darlegte, bisweilen komisch. Aber diese Wirkung war nicht ungetrübt. Ich empfand dabei gleichzeitig Empörung und Ekel.
Ich gebe wieder nur eine gedrängte Zusammenfassung von Deborah Grimms Artikel, ausführlich zitiere ich nur die bemerkenswertesten Sätze.
Die »Hirsche« sind junge Männer, die auf Grund der sich ausbreitenden Epidemie ihre Arbeit aufgegeben, die Städte verlassen |114|haben, sich auf dem Lande herumtreiben und von Plünderungen leben, fuhr Deborah Grimm fort. Anfangs neigten sie dazu, Banden zu bilden; weil aber die Mitglieder ohne Vorsichtsmaßnahmen rekrutiert wurden, erkrankten ganze Banden an der Enzephalitis 16 und fielen auseinander. Die Überlebenden zogen die Lehre aus dieser Erfahrung und leben jetzt einzeln. Sie nähern sich nur den Frauen und den Trägern des grünen Abzeichens, »meist um sie zu berauben«1.
Unter diesen Hirschen, die auf dem Lande ein unsicheres Dasein führen, von den Milizionärinnen streng verfolgt, rekrutiert die weibliche Unterwelt die männlichen Prostituierten, die den Appetit ihrer reichen Kundinnen stillen sollen. Die Verfolgung erwies sich von Anfang an als sehr schwierig, weil die Hirsche auf dem Lande über eine große Zahl von Privathäusern verstreut sind, die für jeweils eine Nacht Zimmer an Touristen vermieten. Für diese luxuriösen Zimmer werden so unerschwingliche Preise verlangt, daß eine nicht der Verfolgung ausgesetzte Person sie niemals zahlen würde.
Der Schein ist so perfekt wie trügerisch. Der Hirsch, der eine weiße Jacke mit einem grünen Abzeichen trägt, ist als Barkeeper oder Etagenkellner tätig und weist jegliches Trinkgeld zurück, was immer man von ihm verlangt. Das Verbrechen der Prostitution ist also nicht nachweisbar, zumal der Hirsch, stets sehr gewandt, sich nie aufdrängt. Er beschränkt sich darauf, den Initiativen der Kundinnen keinen Widerstand entgegenzusetzen.
Um diesen Häusern und ihren Inhaberinnen nachgehen zu können, muß man den Kundinnen die Möglichkeit verschaffen, über ihre Beziehungen zu den Hirschen auszusagen. Deshalb hat man beschlossen, ihnen in gewissen Grenzen Straffreiheit zuzusichern. Es handelt sich übrigens in den meisten Fällen um reiche Witwen mittleren Alters.
Nachdem sie »im Verlauf einer langen Erfahrung eingewurzelte heterosexuelle Gewohnheiten« angenommen und das Alter überschritten haben, in dem sie sie hätten normal befriedigen können, fühlen sie sich von ihrer neuen Freiheit und von der Macht berauscht, die ihnen das Geld über den Mann verleiht. In ihrer Jugendzeit sexuell ausgebeutet und später wegen |115|ihres Alters vom Mann verlassen, haben sie jetzt die Gelegenheit, das einst herrschende Geschlecht ihrerseits auszubeuten, und sind »einer wahren sexuellen Sucht« verfallen. Einige von ihnen suchen in einem Monat alle Absteigen eines Bundesstaates auf und schlafen jede Nacht in einer anderen Unterkunft. Es ist also einfach, diese Häuser ausfindig zu machen, indem man ihnen folgt, ohne sie zu verhaften. Wenn dann diese Frauen bei ihrer Verhaftung gewillt sind, mitzuarbeiten und Geständnisse abzulegen, die es ermöglichen, die Zuhälterinnen und die Hirsche zur Verantwortung zu ziehen, können sie mit Nachsicht rechnen. Im allgemeinen werden diese Unglücklichen nach Entrichtung einer hohen Strafe auf ihre Kosten in einer Klinik untergebracht, »wo es appetitlichen, liebenswürdigen Krankenschwestern dank geeigneter Übungen gelingt, ihre Instinkte innerhalb kurzer Zeit umzuerziehen« (sic).
Dagegen werden die Kupplerinnen, die die Hirsche auf den Markt brachten, zu Gefängnisstrafen von zwei bis fünf Jahren verurteilt. Und die Hirsche werden, im Unterschied zu den einstigen weiblichen Prostituierten in der vom Mann beherrschten Zivilisation, mit unerbittlicher Strenge behandelt. Man ist der Ansicht, daß über der auf ökonomischem Gebiet zweifellos existierenden Ausbeutung dieser Männer nicht »die beim Geschlechtsakt effektiv vorhandene oder von ihnen empfundene Vorherrschaft« vergessen werden darf. Deshalb werden sie gewöhnlich zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Ihre Strafe kann jedoch auf ein Jahr reduziert werden, wenn sie in die Kastrationsweihe einwilligen. Aber die Verstocktheit dieser Intakten und »der unheilbare Stolz auf ihr Geschlecht« sind dermaßen groß, daß bisher keiner von ihnen einer vorfristigen Freilassung unter diesen Bedingungen zugestimmt hat.
Die Witwen oder die alleinstehenden Frauen mittleren Alters, von denen die Rede war, haben Ehemänner oder Liebhaber gehabt. Sie können zu ihrer Entschuldigung ins Feld führen, »daß sich bei diesem Zusammenleben Gewohnheiten eingestellt haben«. Aber was soll man von den heranwachsenden Mädchen und ihren Verirrungen sagen? An den High Schools, den Colleges und den Universitäten hat man tägliche Kurse über Sexualerziehung eingeführt. Dort wird die jahrhundertealte historische Unterdrückung der Frau durch den Mann nachgewiesen, die Versklavung der Frau, die sich unweigerlich |116|aus jeder Beziehung zum Mann ergibt, der sadistische, rohe Charakter des Koitus, das für die Partnerin damit verbundene Risiko der Schwangerschaft und der Geschlechtskrankheiten und schließlich seine geringe Bedeutung für das Lustempfinden der Frau, das ja von der Klitoris abhängt. Trotzdem, ungeachtet auch der Tatsache, daß die Teenager überwacht werden und niemals gleichaltrige junge Männer zu Gesicht bekommen, da diese versteckt und gehetzt auf dem Lande leben, sucht ein großer Teil der jungen Mädchen die ihnen vorenthaltenen Kontakte und verschafft sie sich notfalls mit Gewalt.
Hierbei handelt es sich nicht um Hirsche und auch nicht um verschwiegene Häuser auf dem Lande, deren Preise ohnehin für Halbwüchsige unerschwinglich sind. Diese Verbrechen werden täglich in den Städten verübt, »ich möchte fast sagen, vor unseren Augen«.
»Hier ein Fall«, fuhr Deborah Grimm fort, »der leider keine Ausnahme ist, den ich aber wegen seiner soziologischen Bedeutung ausführlich zitieren will. Mr. B., ein pensionierter Geistlicher, ist fünfundsiebzig Jahre alt und wohnt in Dallas. Weil sein Wagen eine Panne hatte, ging er zu Fuß nach Hause und wurde von zwei Teenagern überfallen. Mit der Pistole in der Hand zwangen ihn die jungen Mädchen, die Schwestern waren, in ein Auto zu steigen, und brachten ihn in ein abgelegenes Haus am Stadtrand, das einer Tante gehörte, die verreist war. Was dann geschah, schildert B. in Beantwortung der Fragen, die seine Verteidigerin ihm stellt.
Verteidigung von B.: Wollen Sie bitte sagen, was geschah, nachdem Sie von Maggie und Betsie in dieses Haus gebracht worden waren?
B.: Muß ich auf diese Frage unbedingt antworten?
Richterin: Sie müssen. Vergessen Sie nicht, daß Sie als Komplize und nicht als Zeuge vor Gericht stehen … In Ihrem eigenen Interesse müssen Sie der Justiz bei der Aufdeckung der Wahrheit in dieser traurigen Affäre helfen.
B.: Ich will es versuchen, Euer Ehren. Pause. Maggie und Betsie haben mich in das Zimmer geführt, mich mit ihren Waffen bedroht und mir befohlen, mich auszuziehen.
Richterin: Haben Sie das getan?
B.: Ich hatte keine andere Wahl.
|117|Richterin: Antworten Sie mit Ja oder Nein.
B.: Ja.
Verteidigung von B.: Was haben die Mädchen dann gemacht?
B.: Sie haben mich ans Bett gefesselt.
Verteidigung von B.: Lagen Sie auf dem Bauch oder auf dem Rücken?
B.: Auf dem Rücken.
Verteidigung: Waren Ihre Beine und Arme gefesselt?
B.: Ja.
Verteidigung: Was geschah dann?
B.: Sie haben mich mißbraucht.
Richterin: Sprechen Sie lauter.
B.: Sie haben mich mißbraucht.
Verteidigung: Wie?
B.: Maggi hat eine Erektion herbeigeführt und sich auf mich gesetzt, das Gesicht mir zugewandt.
Verteidigung: Und dann?
B.: Dann hat Betsie mir ins Gesicht geschlagen und mich beschimpft.
Verteidigung: Warum?
B.: Sie wollte nicht verstehen, daß ich zu einer sofortigen zweiten Erektion außerstande war.
Verteidigung von B.: Was haben Sie getan?
B.: Ich habe versucht, ihr zu erklären, daß das in meinem Alter unmöglich ist.
Verteidigung von B.: Hat sie Ihre Erklärung akzeptiert?
B.: Nein. Sie war sehr naiv.
Richterin: Was verstehen Sie darunter?
B.: Betsie glaubte, ein Mann könne die Erektion willkürlich herbeiführen.
Verteidigung von B.: Was geschah dann?
B.: Betsie ist einkaufen gegangen. Und weil mir die Nase blutete, hat Maggie sich um mich gekümmert und mich getröstet. Sie hat mir auch die Fesseln gelockert. Dann ist Betsie mit Lebensmitteln und einem Hundehalsband zurückgekommen.
Verteidigung: Was geschah dann?
B.: Sie hat mir das Halsband angelegt, meine Fesseln gelöst und mich in die Küche geführt, wobei sie in der einen Hand die Leine und in der anderen die Pistole hielt. In der Küche |118|hat sie mir befohlen, mich der Länge nach unter den Tisch zu legen.
Verteidigung von B.: Und dann?
B.: Sie haben gegessen.
Verteidigung von B.: Waren sie angezogen?
B.: Nein. Beide waren nackt.
Verteidigung von B.: Haben sie Ihnen etwas zu essen gegeben?
B.: Nein, Betsie war dagegen. Plötzlich hat mir Betsie unter dem Tisch einen Fußtritt versetzt und mich drohend gefragt, ob ich jetzt zu einer Erektion bereit sei. Ich habe ihr erneut erklärt, daß ich dazu außerstande sei, weil ich geschlagen und gedemütigt worden war und außerdem Hunger hätte.
Verteidigung von B.: Was ist dann passiert?
B.: Die beiden Mädchen haben sich gestritten. Betsie wollte mich »windelweich schlagen, bis ich kapiere«. Aber Maggie war dagegen. Sie behauptete, mit Freundlichkeit wäre mehr zu erreichen. Zum Glück hat sie sich durchgesetzt.
Verteidigung von B.: Was geschah danach?
B.: Die beiden Mädchen ließen mich am Tisch Platz nehmen und gaben mir zu essen und zu trinken.
Verteidigung von B.: Was bekamen Sie zu trinken?
B.: Whisky.
Verteidigung von B.: Wieviel haben Sie getrunken?
B.: Ich fürchte, mehr als mir guttat. Meine Nerven hatten gelitten.
Richterin: Wieviel?
B.: Eine halbe Flasche.
Verteidigung: Was geschah dann?
B.: Nachdem ich getrunken hatte, forderte Betsie mich auf, sie zu liebkosen.
Richterin: Wo geschah das?
B.: Wie ich schon sagte, in der Küche. Betsie zog mich an der Leine in ihre Beine. Sie fuchtelte mit der Pistole herum.
Verteidigung von B.: Was taten Sie?
B.: Ich gehorchte.
Verteidigung von B.: Und dann?
B.: Nach einer Weile merkte Betsie, daß ich eine Erektion hatte. Ich mußte mich setzen, und sie setzte sich auf mich.
Richterin: War sie Jungfrau?
B.: Ich kann es nicht sagen. Ich war etwas betrunken.
|119|Verteidigung von Betsie: Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Erektion völlig spontan erfolgte.
Verteidigung von B.: Einspruch, Euer Ehren. B. war an einer Leine und wurde mit einer Pistole bedroht. Man hatte ihn geschlagen, beschimpft und zum Trinken gezwungen.
Richterin: Einspruch abgelehnt.
Verteidigung von Betsie: Ich möchte die Geschworenen darauf aufmerksam machen, daß laut Eingeständnis des Angeklagten keine Manipulation von seiten Betsies vorlag und daß B.s Erektion eine Folge der schamlosen Zärtlichkeiten war, die er an der Person einer Minderjährigen praktizierte.
Verteidigung von B.: Er handelte auf Befehl und wurde mit einer Waffe bedroht.
Verteidigung von Betsie: War B. diese Bedrohung gegenwärtig, als er seine Erektion hatte? Ich sage nein.
Verteidigung von B.: Ich sage ja. Alles spielte sich in einer Atmosphäre des Terrors und der Bedrohung nach vorausgegangener Entführung ab. Ein Fall technischer Vergewaltigung.
Verteidigung von Betsie: Ich bestreite, daß technische Vergewaltigung bei einem Intakten überhaupt möglich ist. Die Erektion an sich ist schon ein Phänomen der Aggression.
Veteidigung von B.: Vergessen Sie nicht, daß dieser Intakte mit einer Hundeleine an einen Küchenstuhl gebunden war und mit einer Pistole bedroht wurde.
Verteidigung von Betsie: Das gehört ohne Zweifel zur Inszenierung des erotischen Spiels und schien B. durchaus nicht zu mißfallen, denn es hat die lokale Aggression des Phallus nicht verhindert. Außerdem ist B. vierzehn Tage in diesem Haus geblieben, von den beiden Schwestern angeblich gewaltsam festgehalten. Aber wer soll glauben, daß ein so kräftiger Mann wie B. niemals Gelegenheit zur Flucht gefunden hätte?
Verteidigung von B.: Er war ständig angebunden.
Verteidigung von Betsie: Ach was! Wenn seine Erektionen ausgeblieben wären, hätten die Mädchen ihn sicher bald laufenlassen.
Genug der Auszüge aus diesem skandalösen Prozeß, fährt Deborah Grimm fort. Bemerkenswert ist immerhin, daß die Geschworenen |120|sich weigerten, die Anklage gegen die beiden Schwestern wegen Entführung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung aufrechtzuerhalten. Trotzdem wurden sie wegen unmoralischen Verhaltens zu einem Jahr Jugendhaft verurteilt. Mr. B. bekam fünf Jahre Gefängnis.
Ich hege an der Gerechtigkeit des Urteils, das über diese Jammergestalt gefällt wurde, keinen Zweifel, fährt Deborah Grimm fort. Dagegen erscheint mir die Bestrafung der Teenager unangemessen. Hier wurde ein viel zu strenger Maßstab angelegt. Greisenentführungen und -vergewaltigungen, »zumeist verbunden mit der Verstümmelung der Opfer«, nehmen im Dschungel der großen Städte immer mehr zu. Solche Gewalttätigkeiten sind vom gesellschaftlichen Standpunkt aus sicher verwerflich. Bei den Teenagern sind sie aber offensichtlich auch auf die Erziehung zurückzuführen, die wir ihnen angedeihen ließen. »Auf Grund einer Reaktion, die in ihrem Anliegen gesund, wenn auch in ihren Äußerungen roh ist«, schreiben sie ihren Partnern die Schuld zu und bringen ihre Reue dadurch zum Ausdruck, daß sie die Verführung vernichten, der sie nachgegeben haben. Diese jungen Mädchen sind also nicht durch und durch schlecht und müßten eher umerzogen als in repressiven Gewahrsam genommen werden. Und ich darf sagen, daß man sich heute darauf orientiert, ihre Verirrungen in diesem Sinne zu ahnden.
Ein ganz anderes Problem stellen die Intakten im Greisenalter dar, die zunehmend Opfer von Überfällen werden. Aus Gründen ihrer Sicherheit und ohne deshalb in die ablationistische Weihe einzuwilligen, haben sie um die Erlaubnis nachgesucht, das grüne Abzeichen mit dem goldenen Buchstaben der A.s öffentlich tragen zu dürfen. Jene aber haben sich energisch widersetzt. Der Generalsekretär der Bundesvereinigung der A.s (BVA) machte darauf aufmerksam, daß die Greise nicht die völlige Immunität der Ablationisten besäßen, auch wenn sie auf Grund der verlangsamten Spermatogenese der Epidemie bemerkenswerte Widerstandskraft entgegensetzten. Folglich stellten sie eine Infektionsgefahr dar, vor der die anderen Intakten weiterhin gewarnt werden müßten. Die Lösung liege auf der Hand, erklärte der Generalsekretär der BVA: die Vereinigung stehe jedem Intakten offen, der sich unabhängig von seinem Alter der ablationistischen Weihe unterziehen und alle |121|sich daraus ergebenden sozialen, moralischen und prophylaktischen Vorteile in Anspruch nehmen möchte.
Dieser Appell fand nur geringes Echo. Schätzungen zufolge willigten kaum zehn Prozent der amerikanischen Intakten über 75 Jahre ein, sich den A.s anzuschließen. Die Umfrage eines Psychologen der Harvard-Universität hat ergeben, daß der Mannesstolz bei diesen alten Phallokraten offenbar tief verwurzelt ist und daß sie sich sogar glücklich schätzen, eine wie auch immer verläßliche Potenz zu besitzen, auf die ein großer Teil der jüngeren Männer aus freien Stücken verzichtet hat. »Wenn ich schon sterben muß, dann lieber als Intakter«, sagte ein neunundachtzigjähriger Farbiger in einem Interview. »Ihnen ist bekannt, daß Sie ohne das grüne Abzeichen der A.s als Einwohner einer großen Stadt Gefahr laufen, entführt, vergewaltigt und ermordet zu werden?« fragte die Interviewerin. »Besser so sterben als anders«, antwortete der Mann mit obszönem Lächeln.
Hier handelt es sich offensichtlich um ein sehr primitives männliches Individuum. Die Interviewerinnen kamen aber zu dem Schluß, daß die weißen Greise mit höherer Bildung unterschwellig die gleichen Beweggründe hatten: in allen Fällen »handelte es sich um Sexualstolz, um heimliche Aggressionen und Herrschaftsansprüche gegenüber unserem Geschlecht.«
Die Greise stellen in der Tat eine größere Gefahr als die »Hirsche« dar, meint Deborah Grimm zum Schluß, denn letztere führen auf dem Lande in entlegenen Winkeln ein unsicheres Dasein und kommen nur mit einer Handvoll reicher Privilegierter in Berührung. Es stellt sich also die Frage, ob man »im Namen einer überholten Auffassung von individueller Freiheit« weiterhin zuläßt, daß die heranwachsende Stadtbevölkerung den Intakten im Greisenalter ausgeliefert bleibt, oder ob man sich im Interesse der Allgemeinheit entschließen wird, ihnen gegenüber Zwang anzuwenden und sie durch ein Dekret zu verpflichten, in die Reihen der Ablationisten einzutreten.
Als ich meine Lektüre beendet hatte, merkte ich, daß mir noch viel Zeit blieb, bis Dave aufstehen würde. Ich las den Artikel noch einmal von Anfang bis Ende. Aber auch das genügte mir nicht. Ich las einige Abschnitte ein drittes Mal, vor allem das |122|Verhör B.s und die Erläuterung des »gerechten« Urteils, das ihm fünf Jahre Gefängnis eintrug. Dann suchte ich den Abschnitt heraus, in dem Deborah Grimm die Unterweisungen beschreibt, mit denen die jungen Mädchen tagtäglich in den schulischen Einrichtungen so großzügig bedacht werden. Schließlich war ich wieder beim letzten Absatz, der gegen die »überholte Auffassung von individueller Freiheit« zu Felde zieht.
Joan Pierce hatte im Grunde genommen recht. Ich war sehr sorglos gewesen, als ich mich von meinen kleinen persönlichen Sorgen ausfüllen ließ. Ich hatte in Blueville in einem Zustand egoistischer Kurzsichtigkeit gelebt und kaum über den Stacheldrahtzaun hinausgeblickt. Joan Pierce hatte mir prophezeit, mir würden durch Deborah Grimms Artikel Lichter aufgehen. Lichter! Es wäre besser, von Blitzen zu sprechen! Und was ich undeutlich erkannte, erschreckte mich fast mehr als das, was ich geahnt hatte.
Wenn ich mir vorstelle, daß mich die Ablehnung meiner Kündigung eine Woche zuvor fast beruhigt hatte! Wie leichtfertig hatte ich mich in Hoffnung gewiegt! Wie schnell hatte ich mich darin gefügt, keine Zeitungen und Informationen mehr zu bekommen und wie ein Kind in Unwissenheit gehalten zu werden, keinen Einfluß auf mein Leben nehmen zu können, mich in meiner Kurzsichtigkeit auf Dave zurückzuziehen, auf Anita, auf meinen kleinen Freundeskreis in Blueville, auf meine Träume und meine Frustrationen.
Jetzt war ich wach geworden, und das Erwachen war niederschmetternd. Im Vergleich zu der Finsternis draußen war Blueville fast eine Oase. Das Atmen fiel hier schwer, gewiß, aber man lebte. Man wurde rund um die Uhr bespitzelt, aber man lief nicht Gefahr, beim Verlassen des Hauses überfallen zu werden. Man wurde auch nicht zur Strafe dafür, daß man entführt worden war, ins Gefängnis geworfen. Der Begriff »geschützter Mann« klang weniger ironisch, wenn man wußte, was außerhalb der Schutzzone vor sich ging. Für die Intakten war nicht innerhalb der Stacheldrahtumzäunung die Hölle, wie ich geglaubt und wie selbst Stien angenommen hatte, sondern draußen.