|244|ZWÖLFTES KAPITEL

Gleich nach unserer Ankunft in Blueville gehe ich zu den Pierces, Dave abzuholen. Er schläft noch, und mir fällt auf, daß Rita, obwohl sie allein ist (Pierce und Johnny sind vor dem Frühstück schwimmen gegangen), keinen Versuch unternimmt, die Abhöranlage auszuschalten und mich zu einem Bericht unter vier Augen zu drängen. Dabei ist nicht zu übersehen, daß sie vor Neugierde vergeht. Ihre Falkenaugen lassen nicht von mir ab, und während ich Dave mit den üblichen Vorkehrungen wecke, umkreist sie mich, schnuppert an mir herum wie ein Jagdhund. Als ich mich dann verabschiede, lächelt und blinzelt sie mir mit geheimem Einverständnis zu. Ich bin beunruhigt. Wenn man schon an meinem Körpergeruch merkt, was für eine Nacht ich verbracht habe, wäre ich wohl gut beraten, mich zu duschen.

Ich nehme sogar ein Bad und schlafe in dem kühl werdenden Wasser beinahe fest ein. Dave erinnert mich daran, daß es in der Cafeteria nach neun kein Frühstück mehr gibt. Wie stets, ist er sehr diskret und taktvoll; er stellt mir keinerlei Fragen, während ich mich rasiere, die Wäsche wechsle und mich anziehe. Durchaus salonfähig, wie ich glaube, begebe ich mich – nachdem ich die Spuren meiner wilden Nacht auf angelsächsische Art mit Wasser und Seife beseitigt habe – auf den Weg zum Schloß. Mit Dave, der mir sehr aufmerksam zuhört, führe ich leise ein Gespräch unter Männern, um ihm zu sagen, daß ich nichts sagen kann, bis auf die Episode mit dem Sturzbach, die ich übertreibe, und die Zuflucht im Wald, die ich beschreibe. Ich hatte befürchtet, daß er schmollen würde, doch keine Spur – die langen, schwarzen Wimpern auf den bleichen Wangen zittern bei meinem Bericht vor Interesse.

In der Cafeteria entscheide ich mich für den Tisch, an dem Rita mit Pierce und Johnny sitzt, und mache einen Bogen um den Tisch von Stien, der mir bei meinem Eintritt einen keineswegs freundlichen Blick zugeworfen hat. Ich habe keine Lust |245|zu sprechen und baue auf Rita, daß sie das Gespräch bestreiten wird. Sie besorgt das großartig, während sie, mit ihren scharfen Augen im Saal herumspähend, die Blicke verscheucht, die an diesem Morgen allzuoft an meiner Person hängenbleiben. Ich selbst schaue nicht von meiner Teetasse hoch, abgesehen von einem kurzen Blick zum Tisch von Burage und Crawford. Wohlgemerkt, zum Tisch, nicht zu Burage selbst, da ich mich noch gut an Helsingforths beunruhigende Frage nach unseren Beziehungen erinnere. In dieser Situation möchte ich gern eine Frau sein, um sehen zu können, ohne hinschauen zu müssen, worauf sich Frauen so vortrefflich verstehen.

Beim Verlassen der Cafeteria laufe ich im Korridor Mr. Barrow über den Weg. Er neigt seinen kahlen, glänzenden Schädel in meine Richtung und sagt mir seltsamerweise als erster guten Tag, obendrein im Tone schmieriger Mitwisserschaft; seine Knopfaugen heften sich wie Saugnäpfe auf mich, als wollten sie alle vorhandenen Informationen aus mir herauspumpen. Ich bemühe mich, meine Augen so ausdruckslos wie möglich erscheinen zu lassen, und teile ihm ganz sachlich pflichtgemäß mit, daß ich auf den Ausflug zu Pferd mit Stien und Jespersen verzichte, da im Labor ein Experiment läuft, das ich überwachen möchte. »Aber wie Sie wünschen, Dr. Martinelli, sagt er mit bedächtigem, salbungsvollem Lächeln, das sich über seine Hängebacken ausbreitet und mich aus unerfindlichen Gründen demütigt. Er fügt mit seiner sanften und gleichzeitig harten Stimme hinzu: »Es versteht sich von selbst, daß die Sonntagsausflüge zu Pferde nicht obligatorisch sind. Schließlich hat man ja das Recht, mal etwas müde zu sein.« Sich in den fetten Hüften wiegend, entfernt er sich nach diesen zweideutigen Worten mit erstaunlicher Beweglichkeit, als ob seine dicken Beine wie Bälle vom Boden abprallten.

Dave wiehert vor Freude wie ein Fohlen, als ich ihm sage, daß ich, abgesehen von ein, zwei Gängen ins Labor und einem Mittagsschlaf, den ganzen Tag mit ihm verbringen werde – im Swimmingpool oder auf dem Tennisplatz? »Du kannst es dir aussuchen. Beides!« sagt er begeistert.

Ich hoffe, daß ich auf dem Tennisplatz mithalten werde; die drei Stunden, die ich gestern und heute früh zu Pferd verbrachte, haben meinem Gesäß ebenso mitgespielt wie die letzte Nacht meinen Schenkeln.

|246|Im Labor, wohin ich nach dem Frühstück gehe, kommt mir Dr. Grabel entgegen, kaum daß ich die Tür aufgemacht habe. Es ist Sonntag, aber angesichts der Bedeutung des Versuchs bin ich nicht erstaunt, ihn hier anzutreffen. Seine stechenden kleinen schwarzen Augen glänzen vor Erregung. Er beugt seine große hagere Gestalt vor, um mir erregt zu sagen: »Ich glaube, wir sind jetzt soweit!«

Für mich eine klare Aussage, wenn auch nur angedeutet – man muß mit der Abhöranlage rechnen. Wortlos gehe ich an Grabel vorbei und erreiche mit langen Schritten den Raum, in dem wir unter doppeltem Verschluß unsere Versuchstiere halten.

Ein Blick genügt. Der infizierte, aber nicht geimpfte Testhund ist tot, während die drei geimpften und infizierten Hunde quicklebendig sind. Und als wir an sie herantreten, überschlagen sie sich vor Dankbarkeit über den Besuch, winseln leise vor Erregung und wedeln heftig mit den Schwänzen. Ich nähere mich den Käfigen und streichle jeden Hund einzeln. Welche unaussprechliche Zärtlichkeit, welche unerklärliche Liebe glänzt in den schönen braunen Augen unserer Opfer, die so vertrauensselig, so offenherzig und den menschlichen Augen so wenig ähnlich sind.

»Haben sie gefressen?« frage ich Grabel.

»Gefressen und getrunken. Ich habe sie an einer Leine laufen lassen. Keinerlei Gleichgewichtsstörung. Alles in Ordnung. Die Tiere sind völlig wohlauf.«

Ich hatte dieses Resultat erwartet und bin überaus glücklich, vielmehr wäre glücklich, wenn mich nicht plötzlich der Gedanke an das Nachfolgende überwältigt hätte. Ich senke die Stimme, obwohl ich von Burage weiß, daß sich im Hundelabor keine Abhöranlage befindet.

»Dr. Grabel, ich denke, ich brauche Sie nicht an die Abmachung zu erinnern: nur Smith, Pierce und Burage werden auf dem laufenden gehalten. Außer ihnen darf niemand von dem Experiment erfahren.«

»Alle Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen«, sagt Grabel. »Wie Sie sehen, sind die Käfige der geimpften Hunde nicht gekennzeichnet.«

Ich schweige, und das nicht ohne Grund. Ich habe immer gewußt, daß der Tag kommen würde, an dem ich mich mit dem Virus der Enzephalitis 16 infizieren und das Serum an mir |247|selbst erproben müßte. Ich weiß auch, daß nach all den Experimenten, die unsere armen Hunde mit dem Leben bezahlt haben, meine Chancen davonzukommen groß sind; vorausgesetzt, bei der Dosierung unterläuft kein Fehler, und der Mensch reagiert auf das Serum genausogut wie ein Hund, was wahrscheinlich, aber nicht erwiesen ist. Kurzum, ich hatte, angesichts dieser Perspektive, einschließlich des Unsicherheitsfaktors, alles schon seit langem erwogen. Doch bisher hatte ich von diesem entscheidenden Experiment, in dem ich für den Erfolg unserer Forschungsarbeit mein Leben riskieren muß, nur eine abstrakte Vorstellung. Seit einigen Minuten ist sie nicht mehr abstrakt. Der gefürchtete Augenblick ist gekommen, ich kann ihn berühren, sehen.

»Machen wir einen weiteren Versuch mit den Hunden?« fragt Grabel, als hätte er mein Schweigen begriffen.

»Nein. Die Zeit drängt. Wir gehen zur nächsten Etappe über«, sage ich tonlos.

Da geschieht etwas völlig Unerwartetes: Grabel lächelt. Dieses Lächeln überrascht mich in zweifacher Hinsicht: es ist der Situation wenig angemessen, und man sieht Grabel nur selten lächeln. Ich muß gestehen, daß mich diese Reaktion in meiner gegenwärtigen Verfassung mehr als schockiert. Schließlich bin ich selbst die »nächste Etappe«. Und nach mir sind es die PMs aus dem Labor: Pierce und Smith. Und auf keinen Fall Dr. Grabel selbst, auf den das Serum keine Wirkung ausüben würde, weil er als A ohnehin immun ist. Grabel kann also völlig ruhig schlafen. Für ihn besteht nicht einmal das Risiko der Ansteckung, das der tägliche Umgang mit den Viren mit sich bringt. Ich verstehe also nicht, worauf dieses Lachen und dieser wissende Ausdruck in seinem Gesicht hinauslaufen.

Ich schweige. Ich mißtraue meinen Reaktionen, vor allem Grabel gegenüber, zu dem ich jetzt sehr gute Beziehungen habe, nachdem sie vorher so schlecht gewesen waren.

Ich behandle ihn auch aus einem anderen Grund rücksichtsvoll. Burage hat mehrmals durchblicken lassen, daß Grabel Verbindungen zum Wir hat und daß das Wir ihm vorbehaltlos vertraut. Darin liegt für mich übrigens ein unergründliches Geheimnis. Es übersteigt mein Auffassungsvermögen, daß ein A mit einer Anti-Bedford-Bewegung sympathisieren könnte. Würde nicht die Niederlage des Bedfordismus alle Privilegien |248|der A.s beseitigen – ohne daß sie wiederbekämen, was sie verloren haben?

Ich sehe Grabel an und sage süßsauer: »Wissen Sie, diese Perspektive hat für mich nichts Erfreuliches. Die nächste Etappe wird kein Sonntagsausflug sein.«

Grabel nimmt diese versteckte Abfuhr gelassen hin, ich möchte fast sagen: fröhlich.

»Das kann ich mir denken«, sagt er glucksend. Und fügt mit einer für meine Begriffe niederschmetternden Taktlosigkeit hinzu: »Macht nichts. Je eher, desto besser.«

 

Montag früh erwartet mich Burage in meinem Arbeitszimmer mit ernstem Gesicht und vielsagendem Blick.

»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, sagt sie mit klarer Stimme.

»Gute?«

»Gute und schlechte. Zum ersten, Ritas Abhöranlage ist jetzt ebenfalls überprüft worden. Von nun an werden Sie nur noch eine Kontaktperson haben: mich (sie sagt das mit einem Anflug von Genugtuung). Zum zweiten, Rita hatte ein Gespräch mit Stien …«

»Wo, wenn ihre Abhöranlage überprüft worden ist?«

»An einem nicht näher bezeichneten Ort«, sagt Burage kurz angebunden und schüttelt gebieterisch ihre mahagonifarbene Mähne. Gleichzeitig sagen mir ihre blauen Augen, deren Ausdruck so schnell wechselt, daß ich ihre Antwort als Vorsicht, nicht als Mißtrauen werten soll. »Glauben Sie mir«, fährt sie fort, »nicht einmal für Rita war es leicht, die Haut dieses alten Krokodils zu durchdringen. Aber es hat sich gelohnt. Rita hat einen Stien vorgefunden, der sich sehr wohl der Gefahren bewußt ist, die aus seiner Forschungsarbeit für euer Geschlecht erwachsen. Und was man zumindest sagen kann, ist, daß er nichts überstürzen wird.«

»Ich fühle mich unendlich erleichtert.«

»Triumphieren Sie nicht zu schnell«, sagt Burage. »Alles andere ist gar nicht so überwältigend. Mit Jespersen sind wir nicht in Kontakt getreten, nachdem wir unsere Fühler nach ihm ausgestreckt hatten. Er scheint sich der Bedford-Welt mit Haut und Haaren verschrieben zu haben. Überrascht Sie das?«

»Nicht so sehr. Er hat eine sehr orthodoxe Position bezogen, als man uns aufforderte, Sperma zu spenden.«

|249|»Ja, ich erinnere mich. Sie waren damals großzügig in der Einschätzung seiner Haltung. Ich nicht. Jespersen gehört zu den Leuten, die Unterwürfigkeit gegenüber den Behörden mit Pflichtbewußtsein verwechseln.« Kurze Pause. »Statt dessen ist es uns gelungen, einen äußerst wertvollen Kontakt mit jemand aus seinem Labor aufzunehmen«, fährt sie fort.

»Jemand?«

»Sein Geschlecht spielt keine Rolle«, sagt sie hastig. »Doktor, haben Sie die Droge der Ablationisten jemals gekostet?«

»Das Caladium seguinum? Natürlich nicht. Kein Tröpfchen. Es ist eine schleimige grünliche Flüssigkeit, deren Geruch alles andere als verlockend ist.«

»Sie soll auch nicht verlockend schmecken. Aber Jespersens Projekt hat zum Ziel, das zu verändern.«

Ich runzele die Brauen.

»Was zu verändern?«

»Das Aussehen, den Geruch und den Geschmack des Caladium seguinum.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Jespersen daran arbeitet, es annehmbarer zu machen?«

»Mehr als annehmbar: nicht spürbar. Das Projekt Jespersen soll aus dem Caladium seguinum eine Flüssigkeit machen, die wie Wasser farb- und geruchlos ist. Und auch geschmacklos.«

Ich brauche zwei, drei Sekunden, die Tragweite dieses Unterfangens zu begreifen. Und als ich begriffen habe, verschlägt es mir die Sprache.

»Was sagen Sie dazu, Doktor?« fragt Burage und preßt die Lippen zusammen. »Ist das deutlich genug? Die Bedford-Administration ist im Begriff, ein Projekt zu realisieren, mit dem die Nazis liebäugelten: die Männer ohne ihr Wissen zu kastrieren.«

Mir fällt sofort der arme Ricardo ein, und ich erzähle Burage davon.

»Sicher«, sagt sie barsch, »aber in Zukunft wird es nicht einmal nötig sein, die lateinamerikanischen Arbeitskräfte zu belügen. Und glauben Sie, daß Bedford und ihre Clique bei den ausländischen Arbeitern haltmachen werden?«

Ich sage mit einem kleinen Lachen, das mir selbst unglaubwürdig vorkommt: »Ich werde nicht mehr wagen, ein Glas Wasser zu trinken.«

|250|»Ein Glas Wasser!« sagt Burage. »Wenn das Caladium seguinum farb-, geruch- und geschmacklos ist, kann man es jeder beliebigen Nahrung beimischen.«

Ich betrachte meine Hände. Je mehr ich darüber nachdenke, um so deutlicher erkenne ich die Ungeheuerlichkeit des Unterfangens. Ich fand es schon skandalös, daß die Kastration als Strafe für Sexualverbrechen in das kalifornische Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Da handelte es sich noch um eine nach öffentlichen Diskussionen vor aller Welt verkündete Entscheidung. Aber nun dieser heimliche Rückgriff auf die Sterilisierung, der es der Bedford-Administration und möglicherweise den örtlichen Behörden gestattet, in aller Heimlichkeit, ohne Befragung und sogar ohne Wissen der Betroffenen zu beschließen, daß die Zeugungsfunktionen des Mannes unterdrückt werden. Welch schamlose Verletzung der menschlichen Freiheit! Eine gewählte Regierung wagt es, ihre Bürger wie eine Herde Vieh zu behandeln und auf Grund willkürlicher Entscheidungen einige wenige zu Hengsten, die Mehrheit zu Wallachen zu machen. Erneut bestätigen sich meine Befürchtungen. Bedfords männerfeindlicher Sexismus ist eine Art Rassismus, und wie jeder Rassismus wird er, machtpolitisch integriert, zwangsläufig zu einem verbrecherischen Instrument gegen die Menschheit.

»Ein Wissenschaftler, ein renommierter Chemiker gibt sich für solche Pläne her!« sage ich und presse die Hände zusammen. »Wie weit ist Jespersen, wissen Sie das?«

Burage erlaubt sich die Andeutung eines Lächelns, und in ihren blauen Augen flammt es auf.

»Jespersen ist durch eine ganze Reihe unglücklicher Zwischenfälle noch sehr im Rückstand.«

Eine Pause tritt ein.

»Das ist ein sehr gefährliches Spiel«, sage ich.

»Gewiß. Aber den Mut hat euer Geschlecht nicht gepachtet.«

Ich weiß also Bescheid. Die Kontaktperson des Wir in Jespersens Labor ist eine Frau.

Burage sieht auf ihre Uhr.

»Wir sprechen seit zehn Minuten. Das ist zu lange. Ich komme am frühen Nachmittag wieder. Ach ja, Doktor, noch etwas, Sie werden eine gute Laborantin verlieren.«

»Wen?«

|251|»Crawford.«

Ich reiße die Augen auf und sage verärgert: »Was hat sie getan, daß Helsingforth sie entläßt?«

Burages Augen werden noch blauer.

»Sie wird nicht von Helsingforth entlassen. Wir selbst liquidieren sie.«

Ich starre sie sprachlos an.

»Soll das heißen, physisch?«

»Doktor, wofür halten Sie uns? Wir werden uns damit begnügen, am Tag vor einer Durchsuchung einen kompromittierenden Gegenstand in ihrem Zimmer zu verstecken.«

»Wie erfahren Sie den Zeitpunkt der Durchsuchung?«

Burage schweigt.

»Was für einen Gegenstand?«

»Das wissen Sie doch.«

Eigentlich spielt das auch keine Rolle. Ich nehme nicht an dem Mittel Anstoß, sondern an dem Zweck. Crawford ist eine ausgezeichnete Laborantin, und außerdem, ja, außerdem sehe ich sie gerne im Labor. Oh, ich lächle ihr nicht mehr zu! Ich fürchte Burages Zorn zu sehr. Aber ich werde sie vermissen.

Es war ein Fehler, mich in Burages Gegenwart meinen Gedanken hinzugeben, die sie nacheinander von meinem Gesicht ablesen konnte. Schon allein die Art, wie sie ihr flammendes Haar schüttelt, läßt mich das Schlimmste befürchten.

»Haben Sie Einwände, Doktor?«

»Keine«, sage ich feige. »Trotzdem möchte ich wissen, was Crawford getan hat.«

»Oh, nichts!« sagt Burage mit vernichtender Ironie. »Außer daß sie an eine Ihnen bekannte Person einen kleinen Bericht über Sie und mich geschrieben hat.«

Ich sehe sie an. Sie weiß also schon alles über mein Gespräch mit Helsingforth. Jackie, der ich vergangene Nacht alles erzählt habe, hat keine Zeit verloren, sich mit Burage in Verbindung zu setzen.

»Zweifeln Sie daran?« fährt Burage fort. »Genügt Ihnen nicht die Frage, die Helsingforth Ihnen gestellt hat? Brauchen Sie noch mehr Beweise? Ist Ihnen niemals aufgefallen, daß Crawford uns nachspioniert?«

Ich müßte lügen, wenn ich nein sagte. Deshalb schweige ich lieber. Doch mein Schweigen wird mir die Fortsetzung nicht |252|ersparen, im Gegenteil. Burage stürzt sich mit scharfen Krallen auf mich.

»Doktor«, sagt sie, heftig atmend, mit flammendem Blick (ich starre sie in ihrer wundervollen animalischen Entfesselung an, und ein dem Augenblick unangemessenes Begehren meldet sich, ich höre ihr kaum zu und spüre einen verzehrenden Wunsch, sie in die Arme zu nehmen). »Doktor«, sagt Burage mit leiser, erregter Stimme, »Sie haben eine besonders heuchlerische Art zu schweigen! Das erspart Ihnen, die Schuld dieser Hündin einzugestehen! Und mich nach ihrem Beweggrund zu fragen! Denn selbstverständlich sind Sie in dieser Angelegenheit ein Unschuldsengel, Sie haben nichts gesehen und gehört. Sie haben sich damit begnügt, der betreffenden Person von Zeit zu Zeit eines Ihrer verführerischen Lächeln zu schenken.«

»Sie sind ungerecht, Burage«, sage ich, wenig überzeugend, »das Lächeln hat aufgehört.«

»Heiliger Joseph!« zischt Burage und macht einen Schritt nach vorn, als wollte sie sich auf mich stürzen. »Sie strotzen wirklich von Fehlern, Doktor, ganz zu schweigen von Ihrer ›plumpen und unersättlichen Libido‹, um einen Ihrer Freunde zu zitieren.«

»Danke für das Zitat«, sage ich pikiert. »Ich danke Stien und danke auch Rita, daß sie es Ihnen erzählt hat.«

»Danken Sie auch Crawford für die angenehmen kleinen Erlebnisse, die sie Ihnen verschafft hat, wenn Sie an ihrem Arbeitsplatz die Präparate überprüften. Oh, es stimmt, von Ihrer Seite gab es kein Lächeln und keine Blicke mehr! (Sie hat mich also überwacht.) Aber die herzliche Stimme, Doktor, die versteckten Gesten, italienischer Charme aus allen Registern! Und diese Hündin brachte sofort ihre Figur und ihren Busen zur Geltung und ließ sich eine Strähne ihres dreckigen Haars über die Augen fallen, wie in einem billigen Film.«

»Stop«, sage ich mit abwehrender Geste. »Ich gebe zu, Crawford hat mir gefallen! Aber sie hatte kein dreckiges Haar!«

»Was?« zischt Burage in heller Empörung. »Sie wagen es, das zuzugeben? Was für ein widerlicher Zynismus!«

»Burage, Sie müssen sich entscheiden. Wenn ich es abstreite, bin ich ein Heuchler, wenn ich es zugebe, ein Zyniker.«

»Sie sind beides!« sagt sie mit verhaltener Wut. Doch bevor sie diesmal zu Einzelheiten übergeht, unterbreche ich sie.

|253|»Erlauben Sie mir eine Frage, Burage, bevor Sie mich in Stücke reißen. Wenn ich Crawford gefallen habe, so deshalb, weil sie die Männer mag. Und warum sollte man sie in diesem Fall nicht für das Wir gewinnen?«

»Ich habe selbst daran gedacht«, sagt Burage mit ruhigerer Stimme, in der ein Anflug von Bedauern mitschwingt. »Leider gehört Crawford zu den zwiegeteilten Personen, ihr Körper will das eine, ihr Verstand das andere. Crawford ist eine Frömmlerin der LIB und eine engstirnige Bedfordistin. Wenn sie mit Ihnen geschlafen hätte, wäre sie sehr zufrieden gewesen – und hätte Sie trotzdem denunziert.«

Eine nicht zu beweisende Vermutung, die mir bei weiterem Nachdenken einleuchtend erscheint.

»Und was wird jetzt mit ihr geschehen?« frage ich.

»Sie meinen, nachdem man unter ihren Sachen den Superdoll gefunden haben wird? Seien Sie unbesorgt, nichts Schlimmes. Mrs. Barrow wird sie in eine Umerziehungsanstalt bringen lassen. Dort wird man ihr beibringen, daß die Vagina kaum sensibel ist, daß der weibliche Orgasmus zu 100 Prozent von der Klitoris abhängt und der männliche Penis für ihr Lustempfinden völlig überflüssig ist.«

Ich kenne diese Leier schon, aus der gewichtigen Feder von Deborah Grimm. Aber Burages Wandlung setzt mich in Erstaunen. Als ob die zur Sprache gebrachte Entfernung Crawfords sie ruhiger gemacht hätte, habe ich schlagartig einen anderen Menschen vor mir: fröhlich, angeregt, freundlich, spöttisch.

»Und was halten Sie davon, Doktor?«

»Ich? Ich bin doch kein Gynäkologe, zudem ist die Frage sehr umstritten.«

»Aber Sie haben doch wohl eine Meinung dazu?«

»Oh, eine Meinung! Darüber gibt es so viele Meinungen wie Experten. Glauben Sie mir, Burage, die Leute, die vorgeben, im Besitz der vollen Wahrheit über den weiblichen Orgasmus zu sein, sind abgefeimte Schwätzer.«

»Aber Doktor, seien Sie nicht so bescheiden. Sie werden doch irgendeine Meinung zu dem Problem haben! Lassen Sie mich raten! Als Phallokrat, der wenig Reue zeigt, messen Sie dem vaginalen Orgasmus bestimmt große Bedeutung bei.«

»Lesen Sie Kegel«, sage ich, in die Defensive gedrängt.

»Wer ist Kegel?«

|254|»Ein Gynäkologe.«

»Und was hat er gemacht?«

»Er kam auf die Idee, die Inkontinenz seiner Patientinnen durch Übungen zu behandeln, die die Muskulatur rings um die Vagina stärken sollten.«

»Und hatte er Erfolg?«

»Über aller Erwartungen hinaus. Seine Patientinnen wurden nicht nur gesund, sondern stellten bald fest, daß sie viel leichter als zuvor zum Orgasmus kamen. Einige, die frigide gewesen waren, lernten ihn zum erstenmal kennen.«

»Und welche Schlußfolgerung ziehen Sie daraus?«

»Daß ein Muskel des unteren Darmendes, levator ani, beim weiblichen Orgasmus eine große Rolle spielt und daß er durch den Druck und die Reibung des Penis im Innern der Vagina sehr stimuliert wird.«

»Druck und Reibung des Penis! Wie gut Sie das gesagt haben! Sie sind ein Poet, Doktor!« spöttelt sie. Gleichzeitig errötet sie unerklärlicherweise bis über die Ohren und kehrt mir unvermittelt den Rücken zu, während das Haar ihren Hals umspielt. Über die Schulter hinweg sagt sie mir in schroffem, autoritärem Ton: »Ich komme am frühen Nachmittag wieder. Ich habe Ihnen von zwei Sie betreffenden Entscheidungen Mitteilung zu machen.«

 

Beim Mittag stelle ich fest, daß Stien weiter mit mir schmollt. Er würdigt mich nicht einmal eines Blickes, und noch mehr macht es mir zu schaffen, daß ich auch für Mutsch Luft bin. Wer weiß, wie sie meine Abwesenheit am Sonnabend und meine Weigerung, am sonntäglichen Spazierritt teilzunehmen, ausgelegt haben. Als Entschädigung ist Dave neben mir außer sich vor Glück. Verstohlen wirft er mir halb komplizenhafte, halb bewundernde Blicke zu. Offensichtlich ist er zufrieden, einen Vater zu haben, der imstande ist, die Stacheldrahtumzäunung von Blueville zu überwinden und unter geheimnisvollen Bedingungen eine Nacht im Wald zu verbringen.

Ich sehe, ohne den Blick höher als bis zu ihrer Hüfte gleiten zu lassen, Burage vorübergehen. Sie läßt sich mit ihrem Tablett an einem leeren Tisch nieder, wo sie nicht lange allein bliebt, denn unter halbverdeckten Lidern sehe ich einen in eine blaue Hose gezwängten Bauch, den ich als Crawfords Bauch erkenne. |255|Ein kurzer Blick bestätigt die Beobachtung. Obendrein ist dieser weibliche Judas im Begriff, ihrer Kollegin, die sie hat hochgehen lassen, aufs liebenswürdigste zuzulächeln.

Dave verläßt mich, um mit seinen kleinen Freunden Tennis zu spielen, vor allem mit Joan Smith, elfeinhalb Jahre alt, die er nach seinen Worten allen anderen vorzieht, weil sie ein Mädchen und »weich« ist. Ich folge diesem vielversprechenden Phallokraten mit den Augen.

Nachdem der letzte karge Bissen hinunter ist, verlasse auch ich die Cafeteria und zwinge mich, Jespersen freundschaftlich zuzuwinken, der gerade schlank und schön hereinkommt, als ich zur Tür gehe; jetzt weiß ich, was sich hinter dieser liebenswürdigen Schale verbirgt. Genau dieselbe Geste – wie doch der Schein trügt! – wiederhole ich einen Augenblick später in Ritas Richtung, die mir strahlend zulächelt, während sie mit einem Tablett in der Hand um eine dunkle, hagere Frau herumtänzelt. Ich stelle mir sofort die Frage, ob nicht sie die Verbindung des Wir zu Jespersens Labor ist.

In dem langen, zum Ausgang führenden Korridor begegne ich zwei Personen. Zunächst sehe ich Mr. Barrow auf seinen dicken Gummibeinen auf mich zuschnellen. Aus zwei Schritt Entfernung neigt er mir seinen glänzenden Schädel entgegen und flüstert mir vertraulich zu, daß heute abend um neun die »Kommission« kommen wird; er hoffe, daß ich ihr einen guten Empfang bereite. Ich versichere es ihm und drehe mich dann um, ihm nachzublicken, bis sein riesiges Gesäß in der Tür der Cafeteria verschwindet. Ich gehe weiter, bleibe aber nicht allein. Am anderen Ende des Korridors taucht Mrs. Barrow auf. Sobald ich sie zu Gesicht bekomme, schlage ich bescheiden die Augen nieder, wie es einem PM eingedenk seiner doppelten Inferiorität zukommt in einer Welt, in der ihn alles, die geringe Sensibilität der Vagina eingeschlossen, daran erinnert, daß er überflüssig ist. Aber gerade als ich meine Lider demütig niederschlage und nur Mrs. Barrows Hüften, die mir angenehm entgegenschaukeln, im Blickfeld habe, geschieht es, daß ich mich unwillkürlich emporrecke, »mich aufplustere«, wie die verhaßte Audrey sagen würde. Nichts zu machen, mein Körper kann nicht lügen. So wenig, daß ich in dem Augenblick, als ich an Mrs. Barrow vorübergehe, hochschaue und mein Gegenüber ansehe. Ich werde dafür großzügig belohnt, denn mich treffen |256|ein Blick und ein Lächeln voll ins Gesicht, beides so eindeutig, das Mrs. Barrow eigentlich hätte darauf verzichten können, obendrein noch meine Hand zu streifen.

Danke, Mrs. Barrow. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die in der Nacht von Blueville von Schiff zu Schiff ausgetauschten Signale ohne Folgen bleiben. Ich bin altmodisch. Ehebruch ist nicht meine Stärke, und im übrigen bin ich so gut wie sicher, daß es sich von Ihrer Seite nur um ein tröstendes Spiel ohne ernsthafte Absichten handelte. Unmittelbar vor dem Blick und dem Lächeln haben Sie den Kopf mit einer gewissen Koketterie nach hinten gewendet, um sich zu vergewissern, daß Sie allein sind. Nichts weiter als ein wenig Mutwillen! Sie haben einen Augenblick lang den Deckel der stickigen Orthodoxie gelüftet. Jetzt fühlen Sie sich wohler, und ich auch, und ich beginne mich zu fragen, bis wohin die Verzweigungen weiblicher Komplizenschaft des Wir reichen und ob Sie nicht einen besonders günstigen Platz einnehmen, um den Igel über den Zeitpunkt der Durchsuchungen in Kenntnis setzen zu können …

Einige Minuten lang ermutige ich Daves Leistungen beim Tennisspiel mit meiner Anwesenheit und meiner Stimme und gehe dann zurück zum Labor. Hier erwartet mich eine unangenehme Überraschung. Ich hatte von Grabel drei Dosen Serum für Smith, Pierce und mich vorbereiten lassen und finde nur noch zwei. Ich rufe Burage über die Sprechanlage. Sie erscheint so schnell, als ob sie vor ihrem Schreibtisch auf meinen Ruf gewartet hätte.

»Burage«, sage ich, »außer mir besitzen Sie als einzige einen Schlüssel zu meinem Büro. Eben habe ich aber festgestellt, daß die dritte Dosis Serum verschwunden ist.«

»Oh, ich bitte Sie!« sagt sie mit erzwungener Fröhlichkeit. »Setzen Sie nicht so eine Polizistenmiene auf, das steht Ihnen nicht. Niemand hat das Serum gestohlen. Ich selbst habe über die dritte Dosis verfügt.«

Ich traue meinen Ohren kaum.

»Sie haben darüber verfügt?«

»Aber ja.«

»Ohne meine Einwilligung? Ohne mich zu fragen? Das ist ja die Höhe! Ich frage mich, wer eigentlich das Labor leitet!«

»Aber Doktor, beruhigen Sie sich! Niemand macht Ihnen die wissenschaftliche Leitung des Labors streitig.«

|257|»Burage, Sie geben mir sofort das Serum zurück.«

»Das ist unmöglich«, sagt sie völlig gelassen. »Es ist schon verwendet worden.«

»Verwendet?« rufe ich aufgebracht. »Und von wem?«

»Ich werde es Ihnen in wenigen Minuten sagen.«

»Aber Sie wissen doch, wie gefährlich es ist! Daß man die Unschädlichkeit dieses Serums noch nicht gewährleisten kann.«

»Die Person, die es verwendet hat, ist völlig im Bilde. Sie hat sich freiwillig als Versuchsobjekt angeboten.«

»Burage, den Namen! Ich verlange auf der Stelle den Namen! Ich meine das ganz ernst! In diesem Labor geschehen hinter meinem Rücken Dinge, die ich nur verabscheuen kann.«

Der Ausdruck in Burages Augen wechselt und wird ernst.

»Doktor, setzen Sie sich. Ich war ohnehin entschlossen, Ihnen alles zu sagen«, fährt sie erregt fort. »Es tut mir leid, daß Sie das Verschwinden der dritten Dosis bemerkten, ehe ich mit Ihnen darüber sprechen konnte. Dieses Verschwinden gehört in der Tat zu einer Reihe von Maßnahmen, die das Wir in bezug auf Ihre Person verfügt hat.«

Ich runzele die Brauen und sage trocken: »Es würde mich interessieren, Ihre Maßnahmen kennenzulernen!«

»Sie betreffen das Labor und auch – (das sagt sie nicht ohne Anstrengung) – Ihr Privatleben.«

»Oh, ausgezeichnet«, sage ich und lege meine Hände flach auf den Tisch. »Das Wir verfügt über mein berufliches und über mein Privatleben! Und es trifft meine Entscheidungen ohne mich: ich werde nicht einmal aufgefordert, an den Diskussionen teilzunehmen, die meine Person betreffen!«

»Männer sind von den Beratungen des Wir ausgeschlossen«, sagt Burage mit monotoner Stimme.

»Das wird ja immer schöner!« sage ich sarkastisch. »Das nennt man, die Demokratie und die Gleichheit der Geschlechter respektieren! Ich glaubte, das Wir wollte, bis auf die Lage der Frau, den Status quo ante wiederherstellen.«

»Nein, Doktor.« Burage sieht mich fest und voller Ernst an. »Das habe ich Ihnen gesagt, als ich Ihrer noch nicht so sicher war. In Wirklichkeit verhält es sich anders. Das Wir will den Sturz des Bedford-Regimes, aber nicht die Beseitigung der Frauenherrschaft.«

|258|Ich reiße die Augen auf.

»Wollen Sie damit sagen, daß auch nach Bedfords Sturz und nach der Machtübernahme durch das Wir die Männer von den leitenden Organen ausgeschlossen bleiben?«

»In einer ersten Phase, ja. – Hören Sie, Doktor, und seien Sie nicht so aufgebracht, ich bitte Sie!« fährt sie drängend fort. »Versuchen Sie doch, uns zu verstehen. Bedford hat LIB durch ihre Maßlosigkeit und den Terror gegen die Männer diskreditiert. Die historische Erfahrung zeigt aber, daß diese Art Terror stets das Gegenteil provoziert. Nach Bedford wird das Pendel aller Wahrscheinlichkeit nach in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen. Das wollen wir verhindern. Wir wollen eine frauenfeindliche Reaktion verhindern, wodurch die Lage der Frau auf den Stand des vorigen Jahrhunderts zurückgeworfen würde. Deshalb organisieren wir uns schon jetzt, um die Frauen nach Bedford an der Macht zu halten.«

Ich sehe sie an.

»Trotzdem, Sie haben mich belogen, Burage«, sage ich mit zugeschnürter Kehle.

Burage reagiert auf eine unerwartete Art. Sie lächelt, nähert sich dem Tisch und legt ihre Hand auf die meine; dann zieht sie sie zurück und sieht mich voller Sympathie an.

»Das stimmt«, sagt sie mit einem fast zärtlichen Lächeln. »Doch diese Lüge war nicht persönlich gemeint, Ralph, sie betraf nicht unsere Beziehungen. Sie erfolgte auf Grund einer allgemeinen Anordnung des Wir. Wir sollen gegenüber neuen Kontakten sehr beruhigend, sehr konservativ auftreten.«

Ich überlege: eine frauenfeindliche Reaktion nach Bedford ist wahrscheinlich. Aber ich bin nicht so sicher, ob die Diktatur der Frauen das beste Mittel ist, diese Gefahr auszuschließen. Ich neige dazu, die Zukunft darüber entscheiden zu lassen. Aber ich mache mir keine übertriebenen Hoffnungen. In meinen Augen ist es schon viel, daß es in der LIB Frauen gibt, die den Haß auf die Zweierbeziehung, auf den Mann und die Kinder ablehnen und die mit aller Kraft dafür kämpfen, den bedfordistischen Fanatismus zu zerstören.

»Nun, Doktor, wie denken Sie darüber?«

Ich sehe Burage an. Ich will meine Gedanken weder verbergen noch zu unvermittelt formulieren. Schließlich verdanke ich dem Wir zuviel, nicht zuletzt die Aussicht zu überleben.

|259|»Also, ich glaube, daß das Wir für die Zukunft eine Lösung ins Auge faßt, der es an Gleichgewicht mangelt, doch ich überbewerte das nicht. Am Ende wird alles ins Lot kommen. Entscheidend ist, daß ihr keinen Haß gegenüber dem männlichen Partner empfindet.«

Burage lacht.

»Ralph, Ihre Antwort trägt alle Merkmale italienischer Finesse.«

»Und Ihre Bemerkung ist von einem gewissen Rassismus getönt«, sage ich trocken.

Ich bin weit davon entfernt, mich meiner italienischen Vorfahren zu schämen, aber ich mag es nicht, wenn man sie ständig ausbuddelt, um sie für meine Fehler oder Vorzüge verantwortlich zu machen.

Die Sprechanlage blinkt auf, ich drücke auf die Taste. Es ist Grabel. Er erinnert mich daran, daß ich mir die Hunde ansehen wollte. Da ich weiß, daß Burage unsere Gespräche aus Vorsicht gerne in Etappen führt, erhebe ich mich unverzüglich und verabrede mich mit ihr für eine halbe Stunde später.

Grabel ist im Nebenraum gerade dabei, einen der drei geimpften Hunde an der Leine zu führen, um seinen Gang zu beobachten. Da ich ihn seit gestern nicht gesehen habe, frage ich ihn, wie es ihm geht, und zu meinem großen Erstaunen antwortet er in aller Ausführlichkeit auf diese harmlose Frage.

»Gar nicht so schlecht. Ich habe ziemlich starke Kopfschmerzen und kleine Schwindelanfälle, aber das ist nichts Ernstes; seit heute früh hatte ich zweimal Sprachstörungen.«

Ich bin erstaunt über sein Bedürfnis, mir zu erzählen, daß er Sprachstörungen hatte. Ich sehe ihn an. Sein langes, messerscharfes Gesicht ist nicht anders als sonst: ohne Falten und bleich. Dagegen fällt eine Spannung in seinen Augen und eine gewisse Nervosität um seine schmalen Lippen auf. Ich neige dazu, beides der Überlastung zuzuschreiben. Grabel leistet im Labor die Arbeit von zwei.

»Vielleicht sollten Sie sich etwas ausruhen?«

»Oh, nein!« sagt er. »Die Untätigkeit würde meine kleinen Ängste nur verstärken. Ich will lieber noch arbeiten.«

Er lachte bei den »kleinen Ängsten« kurz auf, als ob sie selbstverständlich wären, und ich frage mich, um was für Ängste es sich handeln könnte und warum er sie so abtut. Ist es für |260|einen A normal, in »Ängsten« zu leben? Oder lebt Grabel in einem halb depressiven Zustand, dem er sich anpaßt, auch wenn er ihn beschwerlich findet? Ich bin erstaunt: Grabel war sonst weitaus beweglicher und dynamischer als alle anderen A.s, die mit uns im Labor arbeiten.

 

Nachdem ich mich überzeugt habe, daß es den drei Hunden gutgeht, verlasse ich Grabel und begebe mich in mein Arbeitszimmer. Ich brauche Burage erst gar nicht zu rufen, sie sitzt schon da und sieht mich nicht ohne Unruhe an.

»Sind Sie böse, Doktor?«

»Weil Sie mir die eigentlichen Ziele des Wir verheimlicht haben?«

»Nein, wegen der vielen kleinen Boshaftigkeiten, die ich Ihnen gesagt habe.«

»Welche?«

»Alle.«

»Man kann nicht gerade sagen, daß Sie auf meine Empfindlichkeiten große Rücksicht nehmen.«

»Oh, Sie geben zu, daß Sie empfindlich sind!«

»Ja. Sie können diesen Fehler auch noch auf Ihre Liste setzen.«

»Entschuldigen Sie, Doktor. Ich werde rückfällig. Ich bin sonst nicht so kratzbürstig.« Sie setzt sich an die andere Seite meines Schreibtisches und wirft ihr mahagonifarbenes Haar zurück. »Sie müssen wissen, es ist schwer, gleichzeitig so weit voneinander entfernt zu leben und so nah …« Sie beendet den Satz nicht.

»Auch für mich ist das nicht sehr angenehm.«

Sie richtet sich auf ihrem Stuhl auf, in ihren blauen Augen beginnt es gefährlich zu leuchten.

»Für Sie ist es nicht dasselbe! Sie kommen auf Ihre Kosten! Zum Beispiel in einer kleinen Hütte im Wald.«

»Von wem haben Sie diese Information?«

»Also ist es wahr?« fragt Burage mit geweiteten Pupillen. »Ja.«

»Die Information habe ich von Rita. Aber es war nur eine Vermutung. ›Ich habe den Eindruck, daß unser kleiner Hengst eine ziemlich bewegte Nacht in seiner Hütte verbracht hat‹, sagte Rita.«

|261|»Danke für den kleinen Hengst. Vielen Dank insbesondere für das ›klein‹. Sie sind in der Wiedergabe verletzender Bemerkungen einfach genial.«

»Bestätigen Sie die bewegte Nacht?«

»Danke auch für die Falle, die Sie mir gestellt haben. Ich nahm Ihre Gewissensbisse für bare Münze.«

»Eigentlich sind Sie der Ehemann aller Frauen, Doktor«, sagt sie zischend.

»Das stimmt überhaupt nicht«, sage ich. »Ich bin kein Don Juan. Ich habe Eileen niemals betrogen …«

Da ich von Anita nicht das gleiche sagen kann, schweige ich. Burage spürt sofort, daß ich etwas verschweige, ich sehe es an ihrem zornigen Blick. Und mir wird schlagartig bewußt, worauf ich mich einlasse: nämlich mein Privatleben vor einer Frau zu rechtfertigen, die weder meine Verlobte noch meine Ehefrau ist! Wieder einmal habe ich mich verschaukeln lassen. Burage hat meine Vorwürfe ignoriert, und es ist ihr gelungen, mir ihre aufzuzwingen und mich in die Defensive zu treiben. Ich erhebe mich mißgestimmt, kehre ihr den Rücken zu und blicke aus dem Fenster.

Es gibt wenig Erfreuliches zu sehen. Baracken, Stacheldraht, einen Wachtturm. Die ehemals grüne Wiese zwischen den Baracken ist niedergetrampelt und hat sich durch Schnee und andauernden Regen in einen schlammigen Weg verwandelt. Grauer Himmel, tiefhängende Wolken, feuchtwarme Luft. Man hat den Eindruck, inmitten grauweißer Watte zu leben.

Ich drehe mich um.

»Burage, ich bitte Sie, lassen wir das Thema fallen.«

Brennender Blick.

»Wie einfach für Sie! Zumal Sie heute abend auch noch Besuch bekommen«

»Was für Besuch?«

»Den größten Mund der Vereinigten Staaten!«

Ich fahre hoch.

»Wann haben Sie das erfahren?«

»Heute morgen.«

Sie hat es also vor mir gewußt! Und von wem? Von einer Telefonistin? Aber kennt die Telefonistin den Zeitpunkt der Durchsuchung? Das glaube ich nicht. Alles scheint auf Mrs. Barrow als Antenne des Wir in der Verwaltung von Blueville hinzudeuten.

|262|Ich schaue auf meine Uhr.

»Schon fünf Minuten, Burage. Wollen wir nicht zu den ernsthaften Dingen übergehen?«

Sie zuckt bei »ernsthaft« zusammen, doch sie sagt nichts. An ihren Atemzügen, an ihren gesenkten Augen und an der Versteifung ihres Nackens kann ich erkennen, daß sie versucht, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Ich schweige.

Als sie hochblickt, sehen ihre blauen Augen beunruhigt aus.

»Doktor«, sagt sie nach einer Weile, »die Entscheidungen, die das Wir in bezug auf Ihre Person getroffen hat, werden Ihnen nicht gefallen.«

»Gut, ich will versuchen, mich zu beherrschen.«

Sie sieht mich zweifelnd an.

»Jedenfalls bin ich hier, um den Schock abzufangen«, sagt sie mit einem etwas gezwungenen Lächeln.

»Ist es so schlimm?«

»Es ist überhaupt nicht schlimm. Aber es wird Ihnen schwerfallen, diese Verfügungen zu akzeptieren.«

Schweigen.

»Soll ich anfangen?« sagt sie, sichtlich verlegen.

»Aber ja doch«, antworte ich ungeduldig.

Eine Pause, dann fährt sie mit dumpfer, ein wenig zitternder Stimme fort.

»Also gut, es wurden zwei Entscheidungen getroffen: die eine betrifft das Serum, die andere Ihr Privatleben.«

»Das sagten Sie schon.«

»Mit welcher soll ich anfangen?«

»Mit dem Serum.«

Es ist ihr gelungen, ihre Verlegenheit und ihre Bewegung unter Kontrolle zu bekommen und ihr Gesicht undurchdringlich erscheinen zu lassen. Aber das kaum merkliche, mir so vertraute Zittern der Ohrringe ist geblieben.

»Was das Serum anbelangt, wurden zwei Entscheidungen getroffen«, sagt sie in ihrer methodischen Art. »Ad eins: Das Wir will nicht, daß Sie es als erster erproben. Ad zwei: Auch wenn das Serum sich als unschädlich erweist, verbietet Ihnen das Wir, den Virus der Enzephalitis 16 auf sich selbst zu übertragen.«

»Aber das ist ja unglaublich!« sage ich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe, und stehe auf. »Sind Sie sich |263|darüber im klaren, was das Wir von mir verlangt? Eine schamlose Verletzung der Regeln der medizinischen Ethik! Ich als Verantwortlicher für die Forschungsarbeit soll anderen das Risiko überlassen, die Ergebnisse zu testen!«

»Setzen Sie sich, Doktor«, sagt Burage, »und hören Sie mir zu. Das Wir weiß sehr wohl, daß es von Ihnen eine Verletzung der herkömmlichen Regeln der medizinischen Ethik verlangt. Aber die Situation ist nun einmal nicht herkömmlich. Ihre Forschungsarbeit wird von einer Regierung subventioniert, die keinerlei Interesse an einem erfolgreichen Verlauf hat und für die diese Subvention – die sie im übrigen zu streichen beabsichtigt – bisher ein Alibi darstellte. Unter diesen Bedingungen, glaubt das Wir, bleibt uns die Chance, das Serum eines Tages industriell herstellen zu lassen, nur dann erhalten, wenn wir es heimlich aus Blueville herausschmuggeln und nach Kanada schaffen. Sie allein können das machen.«

»Das kann jeder x-beliebige machen! Pierce! Smith! Grabel!«

»Irrtum! Alle drei sind völlig unbekannt. Und wer hätte Vertrauen zu einem Serum, das von einem unbekannten Mediziner angeboten wird, der ohne Paß nach Kanada kommt? In Ihrem Fall genügt schon Ihr Name, um alle Türen zu öffnen. Der Martinelli-Bericht ist in alle Weltsprachen übersetzt worden, und Sie sind nicht nur unter den Spezialisten bekannt, sondern in der Öffentlichkeit. Eine Pressekonferenz mit Ihnen im kanadischen Fernsehen wird ein enormes Echo in Kanada, in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt haben.«

»Mag sein. Ihr Drehbuch läßt sich sehr gut verteidigen. Aber erwarten Sie von mir, daß ich meine Mitarbeiter bitte, für mich die Risiken des Serums zu übernehmen? Und schlimmer noch: das Risiko der ersten Virusübertragung?«

»Sie gehen ganz andere Risiken ein, wenn Sie fliehen!«

»Ach, weil es so beschlossen worden ist! Unwiderruflich! Ich fliehe! Sagen Sie, Burage, gibt es noch eine Entscheidung, eine einzige, die zu treffen das Wir mir selbst gestattet?«

»Hören Sie, Ralph, stecken Sie Ihre Eigenliebe zurück und seien Sie ein wenig realistisch. Wenn das Serum an den Männern erprobt sein wird, was bleibt Ihnen dann anderes übrig, als zu fliehen? Wollen Sie zu der guten, menschlichen, entzückenden Helsingforth gehen und sagen: Hier ist das Serum, |264|laß es jetzt herstellen? Sie haben doch Phantasie genug, um sich auszumalen, welche Entscheidung sie treffen wird: keine andere, als das Serum irgendwo sicherzustellen und Verhandlungen mit Bedford aufzunehmen, um sich die Vernichtung des Serums sehr teuer bezahlen zu lassen. Dazu wird Ihr Serum dienen! Kleingeld für ein großes Geschäft. Sie selbst wird man auf diese oder jene Weise zum Schweigen bringen. Zum Beispiel wird man Sie beschuldigen, Audrey vergewaltigt zu haben.«

»Helsingsforth kann auch beschließen, das Serum im Ausland herstellen zu lassen.«

»Vorausgesetzt, sie wagt, Bedford die Stirn zu bieten, aber für das Wir ist das keine positive Lösung.«

»Was verstehen Sie unter einer positiven Lösung?«

Burage rückt näher an mich heran, beugt sich vor, legt ihre beiden Hände auf eine Hand von mir und sagt leidenschaftlich: »Ralph, über eins müssen Sie Klarheit gewinnen: Ihr Serum ist ein Politikum. Es soll zu Bedfords Sturz führen. Sie werden von Kanada aus, das unser Verbündeter ist, zuschlagen.«

»Ich werde zuschlagen?«

»Ja. Im Fernsehen. Sie brauchen nur die Wahrheit zu sagen. Das wird genügen. Ihre Enthüllungen werden dem Kongreß der Vereinigten Staaten die Gelegenheit geben, auf die er wartet, um die Präsidentin unter Anklage zu stellen …«

Sie zieht ihre Hände zurück. Ich sehe sie an und lasse eine Weile vergehen, ehe ich spreche.

»Wenn ich recht verstehe«, sage ich langsam, »soll ich bei der Erprobung des Serums kein Risiko eingehen, weil das Wir mich für einen anderen Kampf vorgesehen hat.«

»Ja, so ist es. Sie haben die Situation völlig erfaßt.«

Ich schweige. Burage bleibt stehen, mit geröteten Wangen und innerlich erregt.

»Aber wie soll ich meine Mitarbeiter bitten, die Verantwortung an meiner Stelle zu übernehmen?« frage ich nach einer Weile.

»Sie brauchen niemand zu bitten, Doktor, wir haben es für Sie getan und sind auf Bereitwilligkeit gestoßen.«

Ich explodiere.

»Was? Hinter meinem Rücken?«

»Nicht so laut, Doktor, Crawford ist noch nicht weg.«

|265|»Aber das ist entwürdigend! Sie schalten mich einfach aus!«

Burage bedeutet mir mehrmals mit der Hand, leise zu sein.

Das Signal der Sprechanlage leuchtet auf. Die Gewohnheit ist stärker als meine Entrüstung: ich drücke auf die Taste.

»Dr. Martinelli?« sagt die Stimme von Pierce.

»Ja?«

»Könnten Sie bitte kommen? Wir sind beunruhigt. Dr. Grabel hat einen Schwächeanfall.«

Burage wird blaß, preßt ihre Hände an die Wangen.

»Das Serum!« sagt sie kaum hörbar.

»Was?« frage ich verblüfft. »Was sagen Sie da?«

»Dr. Grabel hat sich heute früh geimpft.«

»Sie sind verrückt!« rufe ich aus und stehe auf. »Verrückt oder blöd, eins von beiden. Wozu soll sich Dr. Grabel geimpft haben? Welchen Sinn hätte das? Dr. Grabel ist ein A!«

»Dr. Grabel ist kein A«, sagt Burage leise und schwer atmend. »Das Wir hatte ihm gefälschte Papiere eines A.s ausgestellt, bevor er seine Anwartschaft für Blueville anmeldete.«

 

Zu meiner großen Erleichterung sehe ich auf den ersten Blick, daß Grabel nur eine leichte Ohnmacht hat. Pierce hat sich täuschen lassen, weil er ein Virologe ohne große klinische Erfahrung ist. Nichts deutet hier auch nur entfernt auf das coma carotis oder gar auf das Anfangsstadium der tiefen Erstarrung hin, durch welche die Enzephalitis 16 gekennzeichnet ist. Das Gesicht ist nicht leblos. Die Lider zucken, die Lippen bewegen sich, der Körper vibriert, der Kopf dreht sich abwechselnd nach rechts und nach links. Im übrigen hat Grabel nicht jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren, denn er verharrt sitzend – richtiger wäre zu sagen: zusammengesackt – auf einem Stuhl.

»Ist er hingefallen?« frage ich.

»Nein«, sagt Pierce, »er klagte über Schwindelanfälle und Sehstörungen, dann hat er sich hingesetzt und das Bewußtsein verloren.«

»Helfen Sie mir«, sage ich, »wir wollen ihn auf den Boden legen.«

Nachdem Grabel völlig ausgestreckt daliegt, lockere ich seinen Kragen und seine Krawatte und massiere mit der Handfläche seine Brust. Dann reicht mir jemand ein Fläschchen Alkohol, |266|ich gieße mir großzügig einen Teil des Inhalts in die hohle Hand und setze die Massage fort. Grabel öffnet die Augen und sagt mit schwacher, abwesender Stimme: danke.

»Er kommt wieder zu sich«, sagt eine weibliche Stimme hinter meinem Rücken.

Ich sehe Pierce an, und gerade, als ich eine Bemerkung über das Serum machen will, gewahre ich Crawford. Mir fällt noch zur rechten Zeit ein, daß wir »in ihrem Revier« sind, sie selbst hat mir eben das Alkoholfläschchen gereicht.

»Ich werde Sie ablösen«, sagt Pierce.

Ich stehe auf und sehe Crawford an.

»Ist das bei Ihnen passiert?«

»Ja«, sagt sie und bringt sofort ihre Figur und ihren Busen zur Geltung, wie Burage es so gut beobachtet hat. Seltsam! Ich muß bisher die Wirkung gespürt haben, die dieser Kniff auf mich hatte, habe ihn aber, genaugenommen, nicht registriert.

Jetzt bin ich Grabels wegen völlig beruhigt und habe noch einmal – das letzte Mal – eine günstige Gelegenheit, Crawford anzusehen. Verleumdung, Burage, ihr Haar ist nicht schmutzig. Aber es stimmt, daß sie es nach Belieben als herausfordernden Vorhang vor ihren schönen schwarzen Augen benutzt. Wie schade, daß dieses Mädchen verloren sein soll.

»Wie ist das passiert, Crawford?«

»Dr. Pierce hat es Ihnen doch schon gesagt«, fährt eine schroffe Stimme dazwischen.

Ich brauche den Kopf nicht einmal zu wenden. Ich erkenne die Tatze an ihrem Hieb. Das ist meine Löwin mit der wallenden Mähne.

Aber Crawford läßt sich kein Zipfelchen ihrer Rolle stehlen. Von Kopf bis Fuß in Bewegung, erzählt sie mir, was ich schon von Dr. Pierce erfahren habe – nur weitschweifiger.

Burage unterbricht ein zweites Mal.

»Dr. Grabel ist wieder völlig zu sich gekommen.«

Ich drehe mich um.

»Er hat auch wieder Farbe«, sagt Pierce.

Pierce selbst ist völlig farblos. Sein Haar ist von fadem Blond, seine Augen sind verwaschen, seine Wimpern weiß. Und während er sich über den Kranken beugt, bildet sein rundes, weiches, ausdrucksloses Gesicht einen frappierenden Kontrast zum langgezogenen Kopf Grabels.

|267|Dieser zuckt unaufhörlich mit den Lidern, dann gelingt es ihm, mich ins Blickfeld zu bekommen, und er sagt mit schwacher, tonloser Stimme: »Vielleicht muß die Dosis überprüft werden.«

Burage weist mit ihren Augen auf Crawford und richtet an mich eine dringende Aufforderung. Hastig sage ich:

»Nicht sprechen, ruhen Sie sich aus. Crawford, würden Sie mein Stethoskop holen?«

»Ja, Doktor«, sagt sie eifrig.

Sie geht hinaus. Burage folgt ihr auf dem Fuße, um offensichtlich zu vermeiden, daß sie sich allein in meinem Arbeitszimmer aufhält; Pierce schließt sorgfältig hinter beiden die Tür.

»Ich habe Crawford nicht gesehen«, sagt Grabel mit einer an Festigkeit gewinnenden Stimme.

Die Apathie weicht nach und nach von Grabel, und sein Bewußtsein erobert von Sekunde zu Sekunde umfassendere Zonen seines Gehirns. Ich sehe ihn mit wissendem Blick an, doch mache ich keine Bemerkung. Ich weiß nicht, ob die Abhöranlage dieses Raumes in Burages Zimmer führt.

Vibrierend und wogend kommt Crawford mit dem Stethoskop zurück und berührt meine Hand, als sie es mir gibt. Ich halte die Augen wie eine Jungfrau gesenkt. Ich setze ein Knie auf die Erde. Während ich in dieser Position Grabels Herz abhorche, kommt Burage wieder herein, mit einer Tasse Kaffee in der Hand.

Ich spiele die Komödie mit.

»Hatten Sie schon einmal eine solche Ohnmacht, Grabel?« frage ich als Mediziner.

Grabels Augen lächeln.

»Es kam hin und wieder vor.«

»Sie müssen auf sich aufpassen«, fahre ich im Sprechstundenjargon fort. »Keine Überanstrengung. Gehen Sie früh schlafen. Verschaffen Sie sich Bewegung.« Mit einem Lächeln füge ich hinzu: »Und nicht soviel Kaffee!«

Dieser kleine ärztliche Ratschlag entspannt die Atmosphäre. Pierce und ich helfen Grabel, sich auf den Stuhl zu setzen. Seine kleinen schwarzen Augen leuchten vor Dankbarkeit, und er trinkt in kleinen Schlucken den Kaffee, den Burage ihm verabreicht.

Die Entscheidungen des Wir über mein Privatleben erfahre |268|ich nicht mehr an diesem Nachmittag, denn ich halte es für notwendig, in meinem Arbeitszimmer sofort mit Pierce und Smith ein Gespräch zu führen, an dem später auch Grabel teilnimmt, der wieder völlig auf dem Posten ist, wie mir scheint. Burage ist nicht dabei, aber sicher sitzt sie in ihrem kleinen Zimmer an der Abhöranlage.

Bemerkenswerterweise unterbleibt während unserer Unterhaltung jegliche Anspielung auf die Tatsache, daß Dr. Grabel kein A ist. Ich möchte Pierce und Smith gegenüber nicht eingestehen, daß ich es nicht wußte und nicht von der Impfung informiert worden war, die er als erster an sich vornahm.

Ich gebe der Besprechung eine rein technische Wendung. Das Serum wurde auf der Grundlage von Absonderungen gewonnen, die durch Lagerung abgeschwächt waren, und es ist schwierig, nach einem einzigen an einem Menschen vollzogenen Experiment zu wissen, ob die Abschwächung nicht ausreichend oder die Dosis quantitativ zu stark war oder ob man dem Präparat nicht antiseptische Mittel beigeben müßte. Für die Lösung, auf die wir uns einigen, gibt es keine festen Werte. Wir tappen tatsächlich im dunkeln und entschließen uns, auf Nummer Sicher zu gehen, so alarmierend erschien uns Grabels heftige Reaktion. Wir wollen ein neues Serum auf der Grundlage älterer Kulturen vorbereiten und an den Hunden gleichermaßen seine Unschädlichkeit und Wirksamkeit erproben.

Im Verlauf unserer kleinen Besprechung beobachte ich Smith aufmerksamer, als ich es bisher getan hatte. Daß Grabel der Bewegung des Wir angehörte, vermutete ich seit langem. Bei Pierce nahm ich an, daß er zwangsläufig unter dem Einfluß der starken Persönlichkeit seiner Frau stand. Doch von Smith hätte ich niemals irgendeine Komplizenschaft mit einer Anti-Bedford-Bewegung erwartet. Diese Komplizenschaft existiert jedoch, weil er sowohl über Grabels Impfung wie über seine gefälschte Identität im Bilde ist.

Eben das setzt mich in Erstaunen. Angefangen beim Namen, ist Smith ein perfekter Durchschnittstyp. Obgleich er vor nützlichen Eigenschaften strotzt, ohne die keine Gesellschaft länger als acht Tage funktionieren könnte, ist er unscheinbar, schüchtern und von einer Bedeutungslosigkeit, die sich in seinem Äußeren widerspiegelt. Er hat eins jener Gesichter, die man unweigerlich vergißt, auch wenn man sie hundertmal gesehen |269|hat. Darüber hinaus gehört er zu den Junggesellen, die sich nach und nach in ihre Einsamkeit versponnen haben. Er spricht kaum, lacht wenig, treibt keinerlei Sport und errötet, wenn Burage das Wort an ihn richtet. Burage behauptet, er habe nicht geheiratet, weil er nie den Mut gefunden hat, einer Frau den Hof zu machen. Und das ist das Paradoxe. Plötzlich läßt er sich auf die Gefahren eines illegalen Komplotts ein: er, der Alleinstehende, ist gewillt, dafür zu kämpfen, daß die Beziehung zwischen Mann und Frau wieder möglich wird.

Nach Beendigung der Besprechung lasse ich Smith und Pierce gehen, halte aber Grabel zurück und sage zu ihm: »Danke. Sie haben sich an meiner Stelle gefährdet.«

Er lächelt, und sein langes, strenges Gesicht hellt sich auf.

»Sie brauchen mir nicht zu danken. Wie Sie wissen, hatte das Wir mich ursprünglich mit dem Ziel angeworben, Sie hinauszudrängen.«

Ich nicke bejahend, obwohl mich dieses »Sie hinauszudrängen« in Erstaunen setzt. Ich wußte nicht, daß meine Kaltstellung so konkret geplant gewesen war.

Grabel fährt zusammenfassend fort: »Als das Wir den Entschluß faßte, sich mit Ihnen zu verständigen, war es notwendig, daß auch ich mich nützlich mache.«

»Aber Sie waren im Labor doch sehr nützlich und sind es noch!«

»Nicht mehr als Smith oder Pierce«, sagt Grabel mit einer Bescheidenheit, die mir echt erscheint. Er fügt hinzu: »Auf jeden Fall war ich dank der Tatsache, daß ich offiziell ein A war, nach Meinung des Wir geradezu prädestiniert, das Serum ohne Wissen Barrows zu testen.«

Ich sehe ihn fragend an.

»Prädestiniert? Das verstehe ich nicht.«

»Nun ja, wenn das Experiment schiefgegangen wäre, hätte man die Ursache meines Todes und folglich das Experiment selbst leichter geheimhalten können. Niemand hätte einen A verdächtigt, das Serum gegen die Enzephalitis 16 erprobt zu haben.«

Mich verblüfft sowohl diese Verschlagenheit des Wir als auch der ruhige Mut von Grabel, der bereit war, »nützlich« zu sein, auch nach seinem Tode.

Das Schweigen zieht sich in die Länge, ich sehe Grabel an. |270|Ich würde ihm gern die Hand drücken, doch ich befürchte, eine zwischen uns so ungewohnte Geste könnte etwas Theatralisches an sich haben. Schließlich klopfe ich ihm leicht auf die Schulter und sage: »Ich war sehr erleichtert, als Sie die Augen aufschlugen.«

»Und ich erst!« sagt er mit einem leisen Lachen.

Ich muß auch lachen. Nie hätte ich Grabel Humor zugetraut. Und während wir einander lachend ansehen, erfaßt uns beide eine unerwartete Welle herzlicher Freundschaft.

Sobald Grabel gegangen ist, spüre ich die ganze Last meiner Müdigkeit und auch die Leere in meinem Magen und blicke auf die Uhr. Es ist Zeit, in die Cafeteria zu gehen. Nach sieben gibt es nichts mehr zu essen. Ich verschließe mein Arbeitszimmer und gehe bei Burage vorbei, um ihr meinen Schlüssel zu geben. Sie hat einen zweiten, doch besteht sie meiner Ansicht nach zu Recht darauf, abends beide Schlüssel in ihrem Gewahrsam zu haben. Sie verläßt das Labor immer als letzte, und bevor sie geht, spannt sie einen Nylonfaden ins Schloß, um nachzuprüfen, ob meine Tür während meiner Abwesenheit nicht geöffnet worden ist. Jeden Morgen öffnet sie dann um sieben Uhr den beiden Reinigungsfrauen die Tür und bleibt so lange, bis sie gegangen sind.

»Guten Abend, Burage«, sage ich und lege den Schlüssel auf ihre Handfläche. »Fortsetzung morgen!«

»Bis morgen«, sagt sie verwirrt.

Ich nehme an, sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, um mir heute die Entscheidungen des Wir betreffs meines Privatlebens mitzuteilen, und ist nun sehr enttäuscht, morgen noch einmal anfangen zu müssen.

Nachdem das karge Abendbrot beendet ist und Dave im Bett liegt, lausche ich, ob der Lieferwagen von Bess zu hören ist. Als er vorfährt, stürze ich hinaus, um ihr nahezulegen, nicht soviel Krach zu machen. Die Mühe ist jedoch vergeblich. Von Diskretion keine Spur.

Seltsam, wie in Blueville alles zur Routine wird. Nachdem Ricardo seinen Platz in der Küche vor einem Glas Bourbon eingenommen hat, zucke ich nicht einmal mit der Wimper, als Bess mir verkündet – und sie sagt es mir jedesmal –, sie werde mir »eine Fahrkarte erster Klasse in das Paradies kaufen«. Ich muß sagen, daß meine Vorstellung vom Paradies weniger intensiv |271|und nicht so kurz ist. Dennoch schätze ich die guten Momente des Lebens nicht gering, auch wenn sie noch so unbedeutend sind. Dazu beglückwünscht mich Bess hinterher denn auch.

»Du bist wenigstens ein richtiger Mann«, sagt sie und lacht mich an mit ihrem gesunden, breiten, aufsehenerregenden Mund. »Du machst keine Scherereien. Aber diese alte Krabbe! Sobald er mich sieht, zieht er eine Fresse! Als ob ich ihn beleidigen würde! Habe ich etwa die Spermabanken erfunden? Wo doch bei mir das Zeug bis jetzt geradezu vergeudet worden ist! (Sie lacht.) Ich hätte nie ans Sparen gedacht! Eine Schnapsidee, diese Banken! Na ja, aber ich will nichts gesagt haben. Wo ich doch im Dienst der Wissenschaft mein Brot verdiene. Genau! Das müßte er doch verstehen, der Alte. Von Kollege zu Kollege! Seine Frau auch! Und was die Höhe ist, sie macht alles selber, wo das meine Arbeit ist! Und nicht genug, daß sie mich beleidigen muß, ist sie noch wütend auf mich! Weil ich den Pimmel ihres Mannes sehe. Aber ich muß ihn doch sehen, um einzusammeln, was er gespart hat! Aber nein, von dir abgesehen, keine Achtung! Der große Schwede, na mit dem ist es noch schlimmer! Doc, unvorstellbar, dieser Kerl! Verachtung bis zum Geht-nicht-mehr! Kein einziges Wort! Ich bin für ihn sozusagen gar nicht da! Und wenn ich anfange, ein toter Mann! Das braucht eine irre Zeit!«

Als wir zu Ricardo in die Küche kommen, hat er vor seinem leeren Glas beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und heult.

»Jesus Maria!« sagt Bess. »Wer hat mir einen solchen Chauffeur aufgehalst! Kaum bin ich fünf Minuten weg, plärrt er schon!«

»Nicht deswegen, Miss Bess«, sagt Ricardo, während ihm die Tränen die Wangen hinunterlaufen, »aber ich habe den Doktor gehört. Da hab ich mich erinnert.«

»Was mußtest du auch horchen, du Lümmel«, sagt Bess, während sie sich neben ihn setzt und ihren Arm um seine Schultern legt. »Geben Sie ihm noch einen, Doc, und vergessen Sie mich nicht. Dieser arme Kleine«, sagt sie, während sie Ricardos Taschentuch aus seiner Hosentasche holt und ihm die Augen wischt. »Er kommt nicht drüber hinweg. Es ist ja auch hart für ihn, daß er einen Weichen hat!«

Sie lacht, und Ricardo sagt würdevoll:

|272|»Darüber soll man sich nicht lustig machen, Señor«, sagt er und wendet sich an mich, als ob ich eher in der Lage wäre, ihn zu verstehen, »wenn ich mit meiner Frau in Puerto Rico schlief, hab ich es so genossen, daß ich das ganze Haus geweckt hab! Und die Nachbarinnen, die rüttelten dann ihre Männer und sagten: ›Hörst du? Das ist Ricardo! Und du, du schläfst, du Lahmarsch!‹ Und weil es um die Ehre ging, fingen sie auch an! Und ich, Señor«, sagt Ricardo abschließend voller Stolz, »ich hatte allen einen guten Dienst erwiesen.«

Die Tränen laufen über seine Wangen.

»Denk nicht mehr dran, laß es«, sagt Bess und zieht seinen Kopf an ihre Schulter. »Wenn die Epidemie zu Ende ist, wird man dir vielleicht die Dinger von einem Unfalltoten ranmachen können. Das ist doch möglich, nicht wahr, Doc?«

»Im Prinzip steht dem nichts im Wege.«

»Eier von einem Gringo!« sagt Ricardo verächtlich. »Und was soll ich damit?«

»Du kleiner Tölpel«, sagt Bess und gibt ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Der Doc ist auch ein Gringo.«

»Der Doc ist kein Gringo: er heißt Martinelli«, sagt Ricardo, während er mir unter Tränen kindlich und charmant wie mit geheimem Einverständnis zulächelt.

»Los, trink«, sagt Bess, während sie Ricardo das Glas an die Lippen führt.

Er trinkt. Er trinkt in kleinen Schlucken gierig und in einem Zug, als ob er aus der Flasche saugte. Als das Glas leer ist und kaum daß Bess es auf den Tisch zurückgestellt hat, schließt er die Augen und schläft wie ein Säugling auf der Stelle ein.

»Da haben wir’s!« sagt sie. »Jetzt kann ich mich auf dem Rückweg auch noch ans Steuer setzen! Das soll ein Chauffeur sein«, fährt sie fort und richtet die Schulter auf, an der Ricardos Kopf bewegungslos ruht.

»Nächste Woche brauchst du nicht auf mich zu warten, Doc, ich komme nicht!« sagt sie dann. »Und die Woche drauf, weißt du, wann ich da antanze? Sonntag! Nicht zu fassen! Ich hab’s auf meiner Anweisung gelesen, schwarz auf weiß! Die lassen mich sonntags arbeiten! Am Tag des Herrn! Eine Schande! Auch wenn es jetzt die Wissenschaft ist! Aber trotzdem! Wissenschaft hin, Wissenschaft her, du kannst mir nichts weismachen, ein bißchen Sünde ist beim Sex immer dabei! Und sonntags |273|gab’s das bei mir nie! Nein, ich bete nicht, ich schlafe! Das ist meine Art, den Sabbat einzuhalten!«

Daraufhin trinkt sie, stellt das Glas vorsichtig hin und betrachtet über ihre Schulter Ricardos Kopf.

»Das ist ’ne Last, dieser kleine Kerl«, sagt sie ohne Bitterkeit. »Ein Ballast, den ich schleppe. Mit seinen Tränen macht er mich fix und fertig, und meistens muß ich seinen Job mit übernehmen. Aber ich hätte niemals das Herz, ihn zu denunzieren. Niemals. Er würde seine Stelle verlieren. Und was würde dann aus seiner Frau und seinen Gören in Puerto Rico werden? Abgesehen davon, daß ich auch mit ihm selber Mitleid habe. Man muß das verstehen, Doc, was hat ein armer Mensch wie Ricardo, der wirklich arm ist, was hat der schon vom Leben außer seinem Dingsda?«

Nach diesen Worten neigt sie ihr vulgäres, zu stark geschminktes Gesicht zur Seite und sieht Ricardo an. Sie sieht ihn mit Nachsicht und Zärtlichkeit an, während sie ihm mit der Rechten leicht die Wange tätschelt.