Anita verläßt mich Donnerstag um sechs Uhr morgens, als ich noch schlafe. Beim zweiten Sirenengeheul, um acht Uhr, bin ich im Labor. Und dort tritt ein Ereignis ein, dessen Bedeutung ich ahne, ohne seine Tragweite ganz zu erfassen. Ich finde folgende Nachricht auf meinem Schreibtisch:
ACHTUNG. HEUTE FRÜH ZWISCHEN 7.25 UHR UND 7.30 UHR IST DIE ABHÖRANLAGE IN IHREM ZIMMER ÜBERPRÜFT ODER VERÄNDERT WORDEN. VERBRENNEN SIE DIESEN ZETTEL.
DER IGEL
Die Nachricht ist in großen Druckbuchstaben geschrieben, aber ich kann mir sofort denken, wer der Verfasser ist. Ich gebe Burage in unseren Streitereien den Spitznamen »der Igel«. Burages Zimmer in der Baracke der alleinstehenden Frauen liegt meinem Zimmer gegenüber. Da ich an diesem Morgen früher als gewöhnlich fertig war, habe ich meine Wohnung um sieben Uhr zwanzig verlassen. Ich habe mir die Zeit gemerkt, weil ich meiner gewohnten Zeiteinteilung voraus war. Irgend jemand muß das dem Techniker – oder der Technikerin – des Abhördientes sofort, nachdem ich meine Unterkunft verlassen hatte, gemeldet haben. Burage hat von ihrem Fenster aus seine Ankunft beobachtet und aus der Dauer seines Aufenthalts in meinem Zimmer Rückschlüsse auf die Tätigkeit des Technikers und deren Umfang gezogen. Offenbar war es nur eine Kleinigkeit gewesen, denn es dauerte ganze fünf Minuten. Und weil ich dazu aufgefordert werde, will ich mich mit aller gegebenen Vorsicht überzeugen. Was den Schlüssel zu meiner Unterkunft betrifft, ist die Sache klar: Die Reinigungskräfte haben einen zweiten.
Wenn diese Warnung wirklich von Burage stammt, habe ich für den Hergang eine einleuchtende Erklärung. Burage hat einen Schlüssel zu meinem Arbeitszimmer im Labor. Sie ist einige |172|Minuten nach mir in die Cafeteria gekommen und muß offensichtlich eher weggegangen sein, um die Warnung zu schreiben, sie auf meinen Schreibtisch zu legen und die Tür wieder abzuschließen.
Eins wundert mich daran: warum hat sie mir geschrieben, anstatt mit mir zu sprechen? Wegen der Abhöranlage in meinem Arbeitszimmer? Burage schien sich davon niemals einschüchtern zu lassen. Wenn sie Streit mit mir sucht, verhehlt sie in keiner Weise die persönliche Note, die sie in unsere Beziehungen hineingetragen hat. Wenn Burage – vorausgesetzt sie war es – ein Risiko eingegangen ist, um mich zu warnen, so ist das ein begrenztes Risiko. Es vergingen auf jeden Fall nur wenige Minuten zwischen ihrer Ankunft im Labor und meinem Eintreffen; von ihrem Arbeitszimmer aus konnte sie meine Tür beobachten, um sicher zu sein, daß keine dritte Person einen weiteren Schlüssel besitzt, was im übrigen kaum wahrscheinlich ist.
Bleibt der Beweggrund: warum verrät Burage, die sich im Labor wie eine Vertrauensperson der Machthaber von Blueville aufführt, ihre Chefs, um mich zu warnen?
Die leichteste, romantischste und klischeehafteste Antwort ist, daß sie mich liebt. Ich bin nicht so eitel, es wirklich zu glauben. Ich weiß, daß Burage mir ein gewisses Interesse entgegenbringt. Aber ich bin sicher, es ist nicht so stark, daß sie deswegen die Fronten wechselt. Das ist nicht ihre Art. Keineswegs. Ich weiß nicht, wie ich diese Vermutung rechtfertigen soll, doch ich spüre, daß sie mit ihrer ganzen Person hinter den Dingen steht, zu denen sie sich bekennt.
Sollte diese Warnung eine Falle sein? Aber warum sollte mir Burage eine Falle stellen? Seit unserer großen Aussprache ist das Arbeitsteam, im wesentlichen dank Burage, zusammengewachsen, es geht im Labor und mit unserer Forschungsarbeit voran. Und zwischen Burage und mir gibt es mehr als die von mir geschilderte physische Komplizenschaft … Uns verbinden feste Bande der Arbeit.
Mein erster Impuls ist, Burage zu rufen, ihr den Zettel zu zeigen und um eine Erklärung zu bitten. Ich besinne mich eines anderen. Ich muß zwei Dinge überprüfen.
Als ich mittags das Labor verlasse, gehe ich in meine Unterkunft, schließe mein Zimmer ab, ziehe die Vorhänge zu, knie |173|mich neben mein Bett und sehe mir, ohne etwas zu berühren, aus größtmöglicher Nähe das Stück Scheuerleiste an, das ich immer abnehme, wenn ich die Abhöranlage ausschalte. Sie ist mit einem Nylonfaden versiegelt, der sowohl an der abnehmbaren Platte wie auch an der fortlaufenden Scheuerleiste befestigt ist. Zwar könnte ich diese Falle umgehen und den Faden wieder ankleben, nachdem ich die Platte abgenommen habe. Aber vielleicht gibt es neben dieser ersten Falle noch eine zweite. Außerdem bin ich so gut wie sicher, daß künftig die Dauer der Besucher, die ich empfange, registriert wird, und ich werde mich hüten, Mr. Barrows Verdächtigungen in Gewißheit zu verwandeln.
Auf jeden Fall steht eins fest: der anonyme Schreiber hat die Wahrheit gesagt. Der Abhördienst ist wirklich in meinem Zimmer gewesen.
Noch nie ist mir ein Nachmittag so lang erschienen, denn ich warte auf die Unterredung, die ich in der Cafeteria für den Abend mit Joan Pierce vereinbart habe. Da bin ich nun. Sie ist entzückt. Sie stürzt sich auf mich wie auf eine Beute. Sie geht daran, mich mit Schnabel und Krallen auszuweiden und meinem Gehirn alle Informationen über Anita und die Welt bis aufs letzte Quentchen zu entreißen, selbst solche, die mir – wer kann es wissen? – gar nicht bewußt sind. Doch mit einer Handbewegung bringe ich sie zum Schweigen. Und ohne ein Wort zu sagen, gebe ich ihr die Warnung, die ich am Morgen erhalten hatte. Sie ist für Joan völlig anonym, da ich zu ihr niemals vom »Igel« gesprochen habe. Sie liest den Zettel, und als sie fertig ist, reiche ich ihr, ebenfalls wortlos eine von Burage unterzeichnete Hausmitteilung, die ich aus dem Labor mitgebracht habe. Zu Joan Pierces zahlreichen Gaben, die sie tatendurstig einsetzt, um ihren Nächsten zu ergründen, gehört die Graphologie. Sie macht sich über die beiden Schriftstücke her und verschlingt sie.
»Aber ganz sicher, das ist dieselbe Person«, sprudelt sie hervor. »Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihre Schrift zu verstellen, und sich darauf beschränkt, große Druckbuchstaben zu verwenden. Aber da die Großbuchstaben ihrer Schreibschrift wie Druckbuchstaben aussehen, ist die Identität sonnenklar. Sehen Sie sich das A von Achtung auf dem Zettel und das A in der Hausmitteilung an: … der Aufmerksamkeit Dr. |174|Martinellis …; es ist das gleiche charakteristische A. Der Querstrich zieht sich weit über den rechten Schenkel des Buchstaben hinaus: ein Zeichen für Energie und Dynamik.« Sie unterbricht sich. »Setzen Sie sich, Ralph. Warum der Igel?«
Ich sage es ihr. Sie lacht, droht mir verschmitzt, macht aber keine andere Bemerkung. Ich berichte ihr von der Falle an meiner Abhöranlage und frage sie, ob ich Burage vertrauen kann.
»Voll und ganz«, sagt sie. Und während mich ihr stechender Blick trifft, fügt sie hinzu: »Sie machen Fortschritte, Ralph. Sie schälen sich endlich aus Ihrem Kokon heraus. Und Sie werden vorsichtig.«
Ich übergehe diese Bemerkung.
»Weshalb kann ich Burage in solchem Maß vertrauen?« frage ich. »Stützen Sie sich dabei lediglich auf eine Schriftanalyse?«
»Nein.«
Das Nein kam schnell und entschieden. Doch mehr sagt Joan Pierce nicht. Sie beginnt sofort, mich auszufragen. Ich klammere meine persönlichen Beziehungen zu meiner nächtlichen Besucherin aus; ansonsten erzähle ich ihr alles über die internationale Lage, wie Anita sie mir schilderte. Joan Pierce hört mit einer Erregung zu, die sie nur mit Mühe unter Kontrolle zu halten vermag. Ihre Augen blitzen, ihr Atem beschleunigt sich, unentwegt ringt sie die auf ihren Knien liegenden Hände. Als ich fertig bin, stellt sie ihre Fragen. Sie spricht abgehackt, schnell, mit innerer Spannung. Und während ich antworte, sind ihre Finger ständig in unwillkürlicher Bewegung, als ob sie jede einzelne meiner Informationen begierig speichern wollten.
Am Ende erhebt sie sich sehr erregt, geht im Zimmer auf und ab und sagt mit verhaltener Leidenschaftlichkeit: »Wunderbar! Das bestätigt alle durchgesickerten Informationen, die wir sammeln konnten!«
Dieses Wir setzt mich in Erstaunen. Pierce streift mich mit einem Seitenblick, während sie auf und ab geht, und ich kann mein Erstaunen vor ihr nicht verbergen. Sie fährt fort: »Ja, das alles bestätigt, was Reginald und ich vermuteten« – eine Bemerkung, die bei mir auf völlige Ungläubigkeit stößt, denn ich weiß genau, daß Joan »den armen Reginald«, wie sie ihn nennt, |175|aus allem heraushält, was sie leidenschaftlich interessiert. Ich bin sicher, mit diesem Wir ist nicht das Ehepaar Pierce gemeint. Sie bleibt stehen und sieht mich an.
»Eine Frage, Ralph.«
»Alle Fragen, die Sie wollen, doch ich bitte Sie, Joan, nicht wie aufgezogen hin und her zu laufen, und verschonen Sie mich auch mit dem Schaukelstuhl!«
Pierce lacht und setzt sich auf einen Stuhl.
»Immer noch so sensibel, Ralph? Wissen Sie, gerade das wollte ich Sie fragen: wie fühlen Sie sich nach Anitas Abreise?«
»Eigentlich ganz gut.«
»Was bedeutet, eigentlich?«
»Im ersten Moment hat mir die Geschichte ganz schön zu schaffen gemacht, das will ich nicht bestreiten. Aber dann habe ich mich befreit gefühlt. Und warum soll ich es Ihnen nicht sagen? Heute abend fühle ich mich bei dem Gedanken, nicht mehr auf sie warten zu müssen, ungeheuer erleichtert.«
Schweigen. Ihr funkelnder, forschender Blick heftet sich auf mein Gesicht.
»Noch eine Frage, Ralph. Hat Anita Sie für immer verlassen?«
»Was mich betrifft, ja.«
»Sie wollen damit sagen, selbst wenn sie in einem Jahr, in zwei Jahren zurückkehren würde …«
»Nein. Ich würde ihre Rückkehr nicht akzeptieren. Sehen Sie, Joan, heute früh habe ich eins begriffen: ich kann Anita nicht mehr achten.«
Eine Pause. Joan fixiert mich mit ihren durchdringenden Augen.
»Sie tragen es ihr nach, daß sie ihren Mann ihrer Karriere opfert?«
»Aber nein! Das könnte ich sogar sehr gut verstehen. Nein, was ich an Anita verurteile, ist, daß sie im Dienst einer Tyrannei bleibt, und schlimmer noch: im Dienst einer Tyrannei, deren Ideologie sie nicht einmal billigt. Oh, ich weiß genau, wie sie das rechtfertigt. Wenn sie an Bedfords Seite bleibt, versucht sie, den Schaden in Grenzen zu halten. Aber das ist die Rechtfertigung aller Opportunisten. In Wirklichkeit ist Anita durch und durch zynisch. Sie ist im Begriff, ihre gesamte Lebensauffassung |176|zu verleugnen. Und wofür? Für einen Botschafterposten!«
Pierce richtet sich auf und sieht mich an. »Endlich«, sagt sie, »endlich, Ralph! Die Schuppen fallen Ihnen von den Augen. Endlich sehen Sie die Situation, wie sie ist!«
Ich runzele die Brauen.
»Aber Sie selbst, Joan, haben bisher in unseren Diskussionen Anita immer verteidigt!«
»Gezwungenermaßen! Ich wollte mich doch nicht mit Ihnen überwerfen! Sie mußten selbst die Wahrheit entdecken. Jetzt ist es soweit! Sie sind über den Berg! Sie haben sich von Anita gelöst. Das war ein dunkler Fleck auf Ihrer Weste, lassen Sie sich das gesagt sein. Aber Sie sind ihn losgeworden.« Triumphierend fährt sie fort: »Ich habe immer Vertrauen in Sie gesetzt, Ralph! Ich habe immer gesagt, daß Sie eines Tages zur Vernunft kommen werden. Bravo, Ralph! Endlich werden wir mit Ihnen arbeiten können!«
Erneut fällt mir das Wir auf. Mir fällt ebenso auf, daß Pierce sich diesmal nicht mehr die Mühe macht, es zu verschleiern. Sie beugt sich vor und sagt hastig: »Hören Sie, Ralph, Sie sind seit zwanzig Minuten hier. Deshalb müssen wir dann die Abhöranlage wieder einschalten und noch einmal zwanzig Minuten über dies und jenes sprechen. Das ist lange. Ich laufe trotzdem Gefahr, daß jemand Ihre Ankunft hier bemerkt und dem Abhördienst gemeldet hat. Wenn ja, wird der Leerlauf entdeckt und meine Abhöranlage ebenfalls heimlich versiegelt. – Ralph, die Zeit drängt«, fährt sie fort. »Ich muß Sie um zweierlei bitten: ergreifen Sie von jetzt an keine Initiative, ohne sich mit mir abzusprechen.«
»Was verstehen Sie unter Initiative?«
»Sie dürfen zum Beispiel keine Ablehnung an die Bundesspermabank schreiben.«
»Was denn, Sie wissen davon?«
»Aber sicher.«
»Ich habe zu Ihnen nicht darüber gesprochen.«
»Sie wissen doch, es gibt keine Geheimnisse. Ich habe es von Mutsch erfahren, und die hatte es von Stien.«
Pause.
»Gehört Mutsch zu dem Personenkreis, dem ich vertrauen kann?«
|177|Pierce schüttelt bedächtig den Kopf.
»Persönlich ist Mutsch absolut vertrauenswürdig, Ralph. Nur hat sie sich unglücklicherweise kompromittiert und wird streng überwacht.«
»Sie hat sich kompromittiert?«
Pierce lacht wieder ihr kurzes schrilles Lachen.
»Oh, Ralph, Sie sind nicht dafür geschaffen, unter einer Diktatur zu leben! Erinnern Sie sich, als ich Sie daran hinderte, Ruth Jettison zu widersprechen? Mutsch hat es getan.«
»Aber sicher! Ich erinnere mich. Mutsch war bewundernswert!«
»Mutsch war bewundernswert, aber sie ist in eine Falle gegangen. Ruth Jettisons angebliche Predigt stank nach Provokation. Sie zielte darauf ab, die Opponenten in Blueville zu verleiten, ihr Gesicht zu zeigen.«
Ich bin sprachlos. Ich fühle mich völlig hinter dem Mond. Habe ich bisher wirklich etwas in Blueville begriffen? Anscheinend habe ich nur eine lange Reihe von Fehlern gemacht: in der Beurteilung, in der Interpretation, im Verhalten … Meine Kündigungen, zum Beispiel – auf die ich so stolz war! Die ich für so mutig hielt!
»Inwiefern habe ich falsch gehandelt, als ich der Bundesspermabank eine Absage erteilte?« frage ich.
Pierce lächelt kurz.
»Sie haben nicht falsch gehandelt, sondern unvorsichtig.«
»Wenn man Sie hört, wäre die Unvorsichtigkeit ein Wesenszug meines Charakters«, sage ich leicht pikiert.
»Nicht ganz. Sie sind sogar ziemlich besonnen.«
Danke. Etwas Öl nach all dem Essig.
»Aber?«
»Sie sind zu spontan.«
»Ist das ein Fehler?«
»Hier ist es ein Fehler.«
»Und war meine Ablehnung ein Fehler?«
»Kein Fehler an sich, Ralph. Aber ein taktischer Fehler. Vergessen Sie nicht, kämpfen bedeutet auch, sich bloßzustellen. Deshalb darf man nicht in zweitrangigen Fragen kämpfen – vor allem dann nicht, wenn keine Aussicht auf Sieg besteht.«
Da ich ja »ziemlich besonnen« bin, sinne ich dem nach. Und mir geht ein Licht auf. Sie hat recht. Im Grunde habe ich niemals |178|damit gerechnet, daß Mulberry meine Einwände akzeptieren würde. Stien ebensowenig, das könnte ich beschwören. Wir haben uns beide wie Kinder benommen. Wir haben ein Scheingefecht geliefert, was sinnlos ist, idiotisch!
Ich sehe sie an.
»Von uns dreien war Jespersen also der einzige Realist?«
Pierces Blick verdunkelt sich, sie preßt die Lippen aufeinander, ihre Hände verkrampfen sich.
»Ach, Jespersen!«
Das ist alles, aber es besagt genug. Erstaunt nehme ich diese neue Warnung zur Kenntnis. Joan steht auf.
»Entschuldigen Sie, Ralph. Ich habe es eilig.«
»Aber Sie wollten mir zwei Dinge sagen. Und haben mir nur das eine gesagt.«
Sie sieht mich lächelnd an, und ich denke: Unglaublich, aber es hat den Anschein, als holte ich mir von ihr Instruktionen. Gehöre ich vielleicht schon zu den Wir?
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, was länger dauert, kommen Sie nicht hierher, Ralph. Übermitteln Sie es dem Igel.«
Ich traue meinen Ohren nicht und frage: »Burage?«
»Lassen Sie ihr den Spitznamen, denn nur wir drei kennen ihn.«
»Und die Abhöranlage in meinem Arbeitszimmer im Labor?«
Sie lächelt.
»Sie können es ruhig glauben, die hat es nie gegeben.«
Am Freitag früh acht Uhr finde ich Dr. Mulberrys Antwort auf meinem Schreibtisch. So, wie ich sie erwartet hatte. Nichtsdestoweniger enthält sie eine erstaunliche Präzisierung, die mich schockiert hätte, wenn es mir nicht gelungen wäre, sogar in Blueville einige Überreste meines Humors zu bewahren.
Lieber Dr. Martinelli,
ich kann Sie von den moralischen Skrupeln, die Sie zum Ausdruck bringen, leicht befreien: die Kommission, die wir nach Blueville schicken werden, besteht aus einem Chauffeur und einer Assistentin. Sie werden nur mit letzterer zu tun haben. Also weder Selbstmanipulation noch Homosexualität.
|179|Ich bin sicher, daß Sie keine neuen Einwände gegen eine Sache erheben werden, die von jedem Bürger als eine absolut vordringliche patriotische Pflicht empfunden werden sollte.
Ich erwarte von Ihnen eine Antwort, die Ihre Einwilligung bestätigt.
Aufrichtig Ihr … und so weiter
Wahrscheinlich ist es besser, darüber zu lachen, als sich gedemütigt zu fühlen. Aber was soll man von der »Assistentin« halten, die mit mir eine so intime und so kurze Beziehung haben wird? Handelt es sich um eine Krankenschwester? Hat sie eine Schnellausbildung erhalten? Hat sie sich für diese außergewöhnliche Aufgabe freiwillig zur Verfügung gestellt? Oder ist sie ebenfalls gezwungen worden, sich im Namen einer »absolut vordringlichen patriotischen Pflicht« dafür herzugeben?
Ich bitte Burage in mein Arbeitszimmer, auch wenn ich von vornherein weiß, was sie mir raten wird. Aber ich will das Gespräch nutzen, ihr ein paar kurze Fragen zu stellen.
Sie reagiert sofort auf meine über die Sprechanlage erfolgte Aufforderung, obwohl sie in der Rangordnung in zweifacher Hinsicht über mir steht: infolge des Status, den die Frauen der neuen Ära einnehmen, sowie auf Grund unserer neuen Beziehungen innerhalb des Wir.
Sie macht nicht den Eindruck, als pochte sie darauf. Sie tritt ein, angenehm klein, rundlich und bescheiden, schließt geräuschlos die Tür hinter sich und erwartet, eine als Vorwand dienende Akte unter dem Arm, meine »Instruktionen«.
Ich gebe ihr Mulberrys Brief. Während sie ihn liest, fällt ihr eine Strähne ins Gesicht, die ich am liebsten berühren möchte. Ich sehe Burage mit neuen Augen an. Ich bemerke keulenförmige Ohrringe, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Burage hat das gleiche mahagonifarbene dichte Haar wie Anita, aber sie ähnelt meiner ehemaligen Frau überhaupt nicht. Sie hat keine grünen, sondern blaue Augen. Ihre Nase ist nicht spitz, sondern rund. Das Kinn ist ebenfalls rund, aber energisch. Ich fürchte, bisher zu große Aufmerksamkeit auf ihre hübschen Züge und nicht genügend auf ihren Gesichtsausdruck verwendet zu haben. Im Lichte des Wir bemühe ich mich heute zum ersten Mal, Burage zu »sehen« und nicht nur ihre körperlichen Reize wahrzunehmen. Was mich an diesem Gesicht überrascht, ist nicht nur die Intelligenz. Die Stirn, die Backenknochen, die Linie ihres |180|Kinns, der Augenausdruck, die Form der Lippen – so füllig und verlockend sie auch sein mögen –, das alles strahlt eine unleugbare Kraft aus. Gut. Es ist an der Zeit, daß ich die Vorurteile unserer Kultur überwinde und Weiblichkeit künftig mit Kraft in Verbindung bringe.
Burage gibt mir den Brief zurück und sagt kühl: »Die Tatsache, daß sie eine Assistentin vorgesehen haben, beweist, daß sie auch bei anderen PMs schon auf Einwände wie bei Ihnen gestoßen sind.«
»Kennen Sie Stiens Einwand?«
»Sicher. Und ich kenne auch Mulberrys Antwort. Stien hat sie gestern bekommen. Ungefähr so: Lieber Prof. Stienemeier, nach Meinung der Rabbiner, die wir konsultierten, beziehen Sie sich auf den Buchstaben von Kapitel 38 des ersten Buches Mose und lassen seinen Geist außer acht. Onans Sünde ist die gewollte Unfruchtbarkeit. Der von unseren Einrichtungen vorgesehene Eingriff vervielfacht dagegen Ihre Fruchtbarkeit, und da Sie verheiratet sind, kann die Manipulation von Ihrer Frau vorgenommen werden. Die Assistentin hätte dann lediglich das Sperma in Reagenzgläser zu füllen …«
Schweigen. Ich glaube, man könnte das alles in einem anderen Ton sagen, möglicherweise mit einem kleinen Lächeln. Schließlich ist das Absurde nicht zwangsläufig kafkaesk: es kann auch komisch sein. Denn immerhin, die Konsultation der Rabbiner! … Aber nein, mit ihrer Akte unter dem Arm, die Hände in Hüfthöhe verschränkt, sieht Burage durch mich hindurch, ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen. Ihre Kälte greift nach und nach auf mich über. Mit gerunzelten Brauen frage ich:
»Und jetzt?«
»Und jetzt beantworten Sie den Ruf des Vaterlandes mit Ja.«
Sie sagt das, ohne mit der Wimper zu zucken, anscheinend ohne die Ironie der Formulierung zu begreifen.
»Und Stien?«
»Rita wird ihm nahelegen, ja zu sagen.«
»Rita?«
»So nennen wir unsere gemeinsame Freundin.«
Ich blicke sie an: also gehöre ich endgültig dem Wir an. Sehe ich mich deshalb plötzlich diesem Eisblock gegenüber? Will sie mir ein für allemal zu verstehen geben, daß ich mich ihr unterzuordnen habe?
|181|»Burage, ich möchte Ihnen einige Fragen stellen«, sage ich etwas später.
Sie schaut auf ihre Uhr und sagt kurz angebunden: »Ich habe fünf Minuten Zeit. Dann müssen wir unbedingt über diese Akte sprechen.«
»Ich will mich kurz fassen. Wohin führt die Abhöranlage meines Arbeitszimmers?«
»In mein Arbeitszimmer.«
Ich lege eine kurze Pause ein, um meine Fassung wiederzugewinnen.
»Sie können also das Tonband löschen?«
»Wann ich will und wo ich will.«
»Zweite Frage: Wie kommt es, daß Sie das Vertrauen Barrows und seiner Leute haben?«
»Ich bin seit langem in der LIB aktiv.«
Ich fahre hoch.
»Sie sind auch …?«
»Haben Sie sich das nicht denken können?«
»Um die Wahrheit zu sagen, ja.« Nach kurzem Schweigen fahre ich fort: »Ich bin vielleicht ein Idiot, aber ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Es ist ganz einfach: ich bin zwar lib, aber ich lehne den antimännlichen Sexismus, den Krieg zwischen den Geschlechtern und das Verbot der Zweierbeziehung strikt ab.«
»Aber das ist ja die Haltung Anitas!«
Burage runzelt die Brauen, ihre blauen Augen schleudern Blitze, und sie sagt mit abgrundtiefer Verachtung: »Da ist ein großer Unterschied. Ich bekämpfe Bedford, Ihre ehemalige Frau dient ihr.«
»Ja, ich weiß. Das ist mir klargeworden«, füge ich nach einer Weile hinzu.
»Ziemlich spät«, sagt Burage, fast schneidend.
»Es stimmt. Wie Rita sagte, fiel es mir schwer, mich aus meinem Kokon herauszuschälen.«
Ich erlaube mir zu lächeln, finde aber kein Echo. Sie fährt fort:
»Damit Ihnen alles klar wird, Doktor, möchte ich präzisieren: ich bin lib, aber ich bin gegen LIB Bedfordscher Prägung, und ich bin entschieden gegen die Diktatur Bedfords.«
»Wie Sie wissen, bin ich der gleichen Meinung.«
|182|»Das freut mich«, sagt sie kalt. »Das wird vieles erleichtern.«
Nach einer Pause frage ich: »Sind Sie bereit, über das Wir zu sprechen?«
»Warum? Sie kennen doch unser Ziel.«
»Ich möchte über Personen sprechen.«
»In Blueville werden Sie nur mit Rita und mir zu tun haben«, sagt sie kurz angebunden.
Ich sehe sie an. Also sind die einzelnen Zellen der illegalen Bewegung streng voneinander isoliert. Die Zerschlagung einer Zelle soll nicht die Zerschlagung aller anderen nach sich ziehen.
»Sind Sie von uns dreien der Chef?« frage ich.
»Ja. Aber Sie werden immer das Recht haben, Ihren Standpunkt darzulegen.«
Wie ich bereits spüre, ein völlig theoretisches Recht.
»Noch eine Frage, Burage. Nehmen wir an, Bedford wird neutralisiert. Was ist letztlich das Ziel der Bewegung?«
»Den Status quo ante wiederherzustellen, allerdings nicht in bezug auf die Lage der Frau.«
»Warum ein so bescheidenes Ziel?«
»Um die breitestmögliche Basis zu haben.«
»Und ist sie breit?«
»Sie wächst täglich. Selbst im Kongreß.«
Daraus ließe sich Hoffnung schöpfen. Die Fügsamkeit der »Witwen« im Kongreß ist also nicht mehr so vorbehaltlos, wie sie war. Aber was kann der Kongreß in Wirklichkeit ausrichten? Den Präsidenten unter Anklage stellen? Sicher, das hat es in unserer Geschichte schon gegeben. Ist es andererseits denkbar, daß ein diktatorischer Präsident sich aburteilen läßt, ohne Gewalt gegen seine Richter anzuwenden?
»Höchstens noch eine Minute«, sagt Burage.
Burage treibt mich zur Eile. Und immer noch hat sie die Akte unterm Arm, ist kalt und unpersönlich. Eine perfekte Angestellte, die mir ihre Anweisungen diktiert.
»Eine letzte Frage, Burage. Wird Ihr Verhalten mir gegenüber in Zukunft genauso sein wie heute?«
»Ja.«
Ein Blick ins Leere, neutraler Tonfall, Zurückhaltung.
»Also keine Streitereien mehr?«
Ich lächle.
»Es wird mir leid tun darum.«
Mein Lächeln bleibt unbeantwortet. Ich frage etwas linkisch: »Und weshalb keine Streitereien mehr?«
Ihre Augen bekommen einen Ausdruck, den ich nicht zu definieren vermag.
»Die Streitereien sind künftig überflüssig, Doktor, da ich jetzt Vertrauen zu Ihnen habe und meine Empfindungen offen zeigen kann.«
»Ihre Empfindungen für mich?« frage ich erstaunt.
»Aber ich bitte Sie«, sagt sie trocken. »Keine Heuchelei. Tun Sie nicht so, als wären sie Ihnen verborgen geblieben.«
Mir verschlägt es die Sprache.
»Muß ich deutlicher werden?« fragt sie aggressiv.
Ich habe keine Lust zu sprechen, aber auch wenn ich sie hätte, sie läßt mich nicht zu Worte kommen.
»Also gut, Doktor, ich begehre Sie«, sagt sie mit äußerster Kälte.
Ich bin völlig sprachlos. Es fehlt nicht viel, daß ich rot werde. Und ich schlage tatsächlich die Augen nieder, so unglaublich es mir selbst erscheint.
Burage zeigt eine unerwartete Reaktion. Sie lacht.
»Sie sind komisch, Doktor! Aus Ihrem persönlichen Kokon mögen Sie wohl herausgekommen sein, aber Sie stecken noch in Ihrem Phallokraten-Kokon! Geben Sie ruhig zu, Sie finden es beinahe anstößig, wenn eine Frau die Initiative ergreift und zu einem Mann sagt, daß sie ihn begehrt. Wenn es nach Ihnen ginge, möchten Sie wenigstens dieses männliche Vorrecht behalten.«
»Um die Wahrheit zu sagen, nein, ich war nur überrascht. Sie müssen verstehen, es ist das erste Mal. Aber es ist wirklich sehr angenehm, so etwas zu hören. Vor allem, wenn das Ganze auf Gegenseitigkeit beruht.«
Burages Augen werden vor Zorn ganz dunkel, und sie sagt mit vernichtender Ironie: »Oh, Sie begehren mich auch!«
»Das wissen Sie doch.«
Erneutes Auflachen, diesmal allerdings fast höhnisch.
»Aber bei Ihnen ist das ganz etwas anderes, Doktor. Sie sind wie ein Hengst in einer Koppel. Sie begehren alle Stuten, die |184|mit Ihnen zusammengesperrt sind! Mrs. Barrow! Crawford! Pussy! Mich!«
Man kann nicht gerade sagen, daß meine Würde heute geschont wird. Für Dr. Mulberry bin ich ein Stier in einer Besamungsstation und für Burage ein Hengst auf der Weide. Ein Tag der animalischen Vergleiche!
Ich will im übrigen nichts abstreiten. Offensichtlich wird in Blueville der geringste meiner Blicke belauert, aufgefangen, ausgewertet und von »Rita« und dem »Igel« kommentiert. Das ist der Preis, den puritanische Gesellschaften zahlen müssen: man ist nur noch mit Sex beschäftigt.
»Sie wissen genau, daß man sehr eklektisch wird, wenn man nur in Gedanken polygam ist«, sage ich. »Trotzdem möchte ich eine Bemerkung machen.«
Das spöttische Lachen ist vorbei. Burages Gesicht wird wieder ernst, und sie sieht mich an, scheinbar ruhig. Aus einem kaum merklichen Zittern ihrer Ohrringe glaube ich jedoch schließen zu können, daß sie ahnt, was ich sagen werde.
»Burage«, sage ich, »wenn der Hengst, von dem Sie sprechen, aus der Koppel herauskönnte, weiß ich genau, welche Wahl er treffen würde.«
Sie zuckt mit keiner Wimper und sagt kalt: »Die alte Leier aus der Kiste sexistischer Verführung?«
»Keineswegs.«
Schweigen. Wortlos sieht sie mich an. Dann wechselt ihr Blick. Ich fühle, daß sie mir glaubt und daß sie von einer Gefühlsaufwallung überwältigt wird. Doch das dauert nur den Bruchteil einer Sekunde: ihr Gesicht wird wieder starr, und sie stößt die Worte mit einem Nachdruck hervor, der mich in Erstaunen versetzt.
»Hören Sie, Doktor, und nehmen Sie es so, wie es gemeint ist. Solange wir beide uns innerhalb der Umzäunung von Blueville befinden, spielt sich nichts ab. Verstehen Sie, nichts! Weder ein Kuß noch eine Berührung der Hände, nicht der geringste Annäherungsversuch, kein Blick.« Und sie fügt hinzu: »Im Moment haben wir unsere Arbeit zu tun, sonst nichts.«
Am Morgen des 3. Juni wählt Burage einen ruhigen Augenblick, um mir ihre Anweisungen zu geben. Sie hat sich den alle vierzehn Tage fälligen Bericht über unsere Forschungsarbeit |185|angehört, den ich auf Band gesprochen und ihr gegeben habe. Sie findet ihn zu optimistisch, nicht an sich, sondern aus taktischen Gründen. In dem Bericht an Mr. Barrow soll ich unsere tatsächlichen Fortschritte untertreiben. Ich halte ihr entgegen, daß ich nicht der einzige bin, der in der Lage ist, unsere Arbeitsergebnisse einzuschätzen. Auch Dr. Grabel …
Burage unterbricht mich.
»Kein Risiko. Dr. Grabel wird schweigen.«
Ich sehe sie an. Gehört Dr. Grabel zum Wir? Dabei ist er ein A! Kaum zu fassen.
»Wenn ich meinen Bericht völlig verändern soll, möchte ich wenigstens wissen, welchen taktischen Grund Sie haben«, fahre ich fort.
»Also gut. Wir wissen nicht, wie Helsingforth reagiert, wenn das Serum erst entwickelt ist. Das wird sie vor Probleme stellen. Nach allem muß man sagen, daß das Serum nicht so ganz in Bedfords Konzept paßt. Wir möchten gegenüber Bedford einen gewissen Vorsprung haben, um nicht von ihren Maßnahmen überrascht zu werden.«
Da fällt mir ein, was Anita mir verraten hatte: daß Barrow ihr für Bedford immer die Arbeitsberichte Stiens und Jespersens als geheime Verschlußsache mitgegeben hat. Niemals meine Berichte.
Ich sage das Burage. Sie scheint darüber erstaunt zu sein. Weniger über das geringe Interesse des Weißen Hauses an meinen Forschungen – denn das war zu vermuten – als über das lebhafte Interesse für die »Projekte« meiner Kollegen.
Burage holt tief Luft.
»Doktor, Sie müssen unbedingt erfahren, woran Stien arbeitet.«
Ich verberge nicht meinen Unwillen.
»Sie berühren da ein sehr heikles Problem. Stien und ich haben uns zur Geheimhaltung verpflichtet.«
»Wem haben Sie das versprochen?«
»Helsingforth.«
»Und Sie fühlen sich an dieses Versprechen gebunden?« fragt Burage verächtlich.
»Seit ich zu euch gehöre, nicht mehr. Aber Stien kennt eure Ziele nicht. Er wird meine Neugierde nicht verstehen. Vielleicht erscheint sie ihm sogar verdächtig.«
|186|»Wäre er fähig, Sie zu denunzieren, falls er nicht mitspielt?«
»Oh, nein! Das brächte er nicht fertig!«
»Also los, Doktor, wir können keine Zeit mit Skrupeln verlieren.«
Burage macht den Eindruck, als ob sie Wort halten will. Während sie spricht, wahrt sie einen riesigen Abstand zwischen uns, in ihren beiden Eigenschaften: als vorbildliche Angestellte und als politischer Chef. Mir kommt es vor, als hätte ich es mit einer Puppe zu tun, die sich hinter einem Schaufenster von einem halben Zoll Dicke befindet. Nur daß man eine Schaufensterpuppe nicht atmen sieht. Und Burage atmet, was angesichts der Fülle ihres Busens nicht zu übersehen ist. Ein anderes vertrautes Anzeichen: das kaum merkliche Zittern ihrer Ohrringe. Burage, deine Ohrringe sind in mein Lager übergewechselt. Sie verraten dich zu meinen Gunsten. Das heißt »zu meinen Gunsten« ist etwas übertrieben. Aber es ist trotzdem angenehm, unter der Asche dieses Vulkans ein inneres Feuer schwelen zu sehen.
Stien, mit dem ich mich am selben Tag nach dem Lunch bei Pierce verabredet habe, ist auf Anhieb mißtrauisch. Obwohl die Sonne scheint, wenn auch nur blaß, hat er in Johnnys Zimmer, in dem uns Pierce empfängt, seinen altmodischen schwarzen Mantel (er ist sehr lang und stammt vermutlich aus dem zweiten Weltkrieg) an – und seinen durchlöcherten Tirolerhut von verblichenem Grün, unter dem seine langen weißen Strähnen hervorgucken, aufbehalten. Obendrein in einen von Mutsch gestrickten dicken roten Wollschal gemummt, finde ich ihn in Joan Pierces Schaukelstuhl sitzen oder vielmehr liegen. Er schaukelt wütend auf und nieder und schimpft gleichzeitig auf die Grippe, die ihn gepackt hat, und auf die Wirkungslosigkeit meiner Therapie. Mit seinem tief ins Gesicht gezogenen Hut und seinem Schal, der sogar die Ohren noch bedeckt, sieht er aus wie eine große Schildkröte, die mit ihrem runzligen Kopf und ihren mißtrauischen kleinen Augen aus ihrem Panzer herauslugt und bereit ist, das alles beim geringsten Anzeichen einer Gefahr einzuziehen.
Sicher, ich treffe jede erdenkliche Vorsichtsmaßregel. Ich leite mein Ersuchen mit einer ausgeklügelten captatio benevolentiae ein. Es handele sich von meiner Seite nicht um billige |187|Neugierde. Schon gar nicht um persönliche Neugierde. (Pierce wirft mir einen beunruhigten Blick zu: sie findet, daß ich zuviel sage.) Aber wenn man letzten Endes unter solchen Bedingungen lebt wie wir (»konzentrationslagerähnlich«, wie er selbst sagte) und jeglicher Informationsmöglichkeit beraubt ist, gewinnt jede Information, über die einer von uns verfügt und die er an den anderen weitergeben kann, unschätzbaren Wert … und so weiter.
Stien läßt mich reden, ohne piep zu sagen; aus seinen von den faltigen Lidern halb verdeckten kleinen blauen Augen wirft er abwechselnd auf Joan Pierce und mich kurze, wütende Blicke. Er schaukelt pausenlos, was mein Unbehagen erhöht, und das weiß er, denn er kennt meine Idiosynkrasien. Je länger ich spreche, um so mehr kriecht er in seinen Wollschal und seinen Hut hinein, zieht seine Schultern hoch und zieht sich von Kopf bis Fuß in sich zusammen. Seine wachen Augen belauern mich ohne den geringsten Schimmer von Sympathie. Je weiter ich mich vorwage, um so mehr fühle ich, daß ich einer Niederlage entgegengehe.
»Bist du fertig?« fragt Stien und hält den Schaukelstuhl an. »Ja.«
»Dann hör zu.«
Er niest nach diesen Worten, zieht ein Taschentuch hervor und fällt zwischen zwei Niesern über die Ärzte her: eine Kaste überheblicher Nichtskönner, die sich anmaßen, Herzen zu verpflanzen, aber nicht einmal imstande sind, einer Grippe vorzubeugen oder sie zu heilen.
Er schneuzt sich abermals herausfordernd laut und verächtlich, spuckt aus, wischt sich den Mund und läßt einen Vortrag vom Stapel, der einer pauschalen Anklage gegen mich gleichkommt: gegen meine moralische Einstellung, mein Wesen, meine Haltung, meine Unbesonnenheit, meine »grobschlächtige und unersättliche Libido«, meine angeborene Unvorsichtigkeit, meine erneut unter Beweis gestellte Unfähigkeit, ein Geheimnis zu wahren, alles in allem, gegen meine »unverbesserliche Verantwortungslosigkeit«.
Obwohl ich an diese Art Rhetorik gewöhnt bin und bei Stien stets einen Prozentsatz chronischer Erregbarkeit und Komödienspielerei in Rechnung stelle, finde ich diesmal, daß er zu weit geht, vor allem in Joans Gegenwart, die vor Staunen völlig |188|verstummt ist. Ich suche schon nach einer saftigen Antwort, als Stien mit einer unerwarteten Heftigkeit sich plötzlich erhebt und brüllt: »Hier hast du meine Antwort: nein! nein! und nochmals nein!«
Nach dieser Absage, die beim letzten Nein ihre volle Lautstärke erreichte, lächelt und zwinkert er mir völlig unvermutet zu; dann begibt er sich eilig zu der kleinen Schreibmaschine, an der Joan gerade für ihren Mann schreibt, setzt sich hin, tippt sorgfältig ein paar Wörter auf dasselbe Blatt, steht auf, kehrt uns den Rücken und geht hinaus, ohne uns eines Blickes zu würdigen, ohne eine Entschuldigung für Joan, der er eben die Seite verdorben hat. Die Tür fällt ins Schloß, und wir sehen ihn am Fenster vorübergehen, mit dem tief in die Stirn gezogenen Hut und bis an die Augen in den roten Wollschal gemummt.
Pierce tänzelt auf ihren langen Beinen zur Schreibmaschine, und ich folge ihr.
»Joan«, sage ich, »wenn Sie eine Schere haben, würden Sie wohl …«
Ich fordere sie durch ein Zeichen auf, die Zeile abzuschneiden, die Stien geschrieben hat. Sie tut es wortlos. Obwohl der Text für sie unverständlich ist – es handelt sich um einen sehr knappen Hinweis auf eine Nummer einer biologischen Monatszeitschrift –, will ich ihn ihr nicht laut erklären: ich will Stiens Vorsichtsmaßregeln respektieren, auch wenn ich sie übertrieben finde. Vielleicht wird er wegen des Auftritts, den Mutsch mit Ruth Jettison hatte, viel strenger als die andern überwacht. Jedenfalls traut er nicht einmal der ausgeschalteten Abhöranlage von Pierce.
Ich bin sicher, die Zeitschrift in der wissenschaftlichen Bibliothek des Schlosses zu finden, und an diesem Nachmittag warte ich zum erstenmal ungeduldig auf das Ende meiner Arbeitszeit im Labor, um mich in die Bibliothek stürzen zu können.
Für Periodika werden keine Bestellzettel ausgefüllt: man kann sie je nach Wunsch an Ort und Stelle lesen oder mit nach Hause nehmen, wenn man an ihrem Platz eine grüne Karte mit dem Namen des Lesers und dem Datum der Ausleihe zurückläßt. Ich entscheide mich verständlicherweise für die erste Methode; mühelos finde ich die angegebene Quelle und lese den betreffenden Aufsatz stehend an einem Pult, ohne mir Notizen |189|zu machen. Ich habe es geahnt: es handelt sich um einen von Stien selbst zwei Jahre zuvor geschriebenen Artikel. Er ist sehr kurz: an die zehn Seiten, aber für uns – in der Lage, in der sich Blueville und das Land befinden – von atemberaubendem Interesse. Ich verschlinge alles in einem Zuge, dann lese ich es noch einmal langsam und präge mir die Einzelheiten ein, um sicherzugehen, am nächsten Morgen nichts auszulassen, wenn ich Burage Bericht erstatte.
Als ich die Bibliothek verlasse, hängt sich Mr. Barrow an mich. »Hängt sich« ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn dazu bräuchte man eine Hand, Klauen oder eine Pranke. Mr. Barrow aber scheint solche Extremitäten nicht zu besitzen. Seine Arme sind funktionslos: er rührt einen nie an. Schlaff und schwammig saugt er einen auf, wie ein Saugnapf. Man bleibt an seinem salbungsvollen Blick, an seinen dicken fleischigen Lippen und an seiner rüsselförmigen Nase kleben. Seine ölige und zugleich metallische Stimme haftet einem an der Haut wie Melasse. Sein dicker, völlig kahler Schädel glänzt, als hätte er ihn mit Wachs eingerieben. Wie eine gallertartige Masse versperrt er mir in dem zur Cafeteria führenden Korridor den Weg. Ich könnte vielleicht versuchen, durch diese Qualle hindurchzugehen, doch in welchem Zustand würde ich auf der anderen Seite herauskommen? Ich bleibe wie vor einer riesigen Öllache in einer Autowerkstatt stehen. Ganz offensichtlich hat mir Mr. Barrow etwas zu sagen. Und tatsächlich murmelt er unvermittelt und verschämt:
»Doktor Martinelli, ohne Zweifel werden Sie nicht vergessen haben, daß heute abend die Kommission von Dr. Mulberry nach Blueville kommt. Ich habe ihn gebeten, seine Ankunft etwas später als ursprünglich vorgesehen festzusetzen, um für seine Aktivitäten im Lager die größtmögliche Diskretion zu gewährleisten. Aus diesem Grunde habe ich auch entschieden, daß der Eingriff bei jedem zu Hause erfolgt und daß Sie als letzter behandelt werden (wie mir dieser Euphemismus gefällt!), um neun Uhr in Ihrer Unterkunft. Wenn ich mich recht erinnere (er hat vor allem das Gedächtnis seiner Abhöranlage, denn ich habe ihm nie dergleichen erzählt), ist Dave dann im Bett. Ich trage größte Sorge«, fährt er mit verstörtem Gesichtsausdruck fort, »daß alles so unauffällig wie möglich vor sich geht. Und ich verlasse mich darauf (das mit autoritärem Ausdruck), |190|daß der Kommission ein guter Empfang bereitet wird, denn (an dieser Stelle läßt er seine Stimme anschwellen) sie erfüllt eine sehr delikate Aufgabe in patriotischem Sinne, wofür wir ihr Achtung schulden.«
»Aber gewiß, Mr. Barrow«, sage ich im besten bluevilleschen Tonfall.
Mr. Barrow läßt es dabei bewenden. Er hat alles gesagt, mit allen bürokratischen Zungenschlägen, die die Situation erfordert. Er braucht sich im übrigen nicht von mir zu verabschieden, sondern mir nur den Weg freizugeben, was er in dem engen Gang auch tut, indem er seinen Wanst einzieht, damit nichts von mir mit ihm in Berührung kommt. Ich mache mich im Vorbeigehen so dünn wie möglich. Mir liegt nichts daran, daß er durch meine Unachtsamkeit platzt und vor meinen Augen wie Schleim auf dem Boden zerfließt. Ich habe es geschafft und bin an ihm vorbeigekommen. Erleichtert gehe ich weiter. Seltsam. Schon vom reinen Zuhören komme ich mir klebrig vor.