|274|DREIZEHNTES KAPITEL

An diesem Morgen geht es bei mir im Labor auf Grund unserer Entscheidungen vom Vortag ziemlich hoch her, unauffällig allerdings. Innerhalb des Labors haben wir sozusagen ein zweites Labor geschaffen, dessen Ergebnisse dem ersten verborgen bleiben müssen. Ich bin jedenfalls sehr beschäftigt und in Sorge und kann mit Burage erst Viertel vor zwölf zusammenkommen. Ich sehe an den Schatten unter ihren Augen, daß sie schlecht geschlafen hat, auch sie. Ich bitte sie, Platz zu nehmen.

»Wir haben wenig Zeit«, sage ich, auf meine Uhr blickend. »Fangen Sie an, Burage, ich bin auf das Schlimmste gefaßt.«

»Doktor, würde es Ihnen was ausmachen, sich hinzusetzen, anstatt hinter Ihrem Schreibtisch solche Unruhe zu verbreiten?«

»Wieso verbreite ich Unruhe?« frage ich trocken. »Sie sind ziemlich nervös.«

»Sie machen mich nervös. Ich bitte Sie, setzen Sie sich!«

»Das ist unglaublich«, sage ich scharf. »Ich sehe schon den Augenblick kommen, wo ich mich in meinem eigenen Arbeitszimmer auf Befehl setzen oder erheben muß!«

»Doktor!« sagt Burage aufgebracht.

Wir sehen einander an und sind wegen dieses kindischen Verhaltens verwirrt. Das fängt ja gut an! Wenn es mit solch einem Auftakt losgeht, wie soll es dann enden?

»Also gut«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln, »ich will meinen guten Willen beweisen.«

Ich setze mich, doch wie erwartet, honoriert sie mein Zugeständnis nicht! Statt dessen schweigt sie und blickt gereizt auf meine Finger, mit denen ich auf den Tisch trommle. Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen. Auf meinen Stuhl gelümmelt, die Beine weit von mir gestreckt, sehe ich Burage mit zusammengepreßten Lippen an. Ich bin fest entschlossen zu schweigen.

|275|»Glauben Sie mir meine Aufgabe dadurch zu erleichtern?« fragt sie irritiert.

»Ich habe mich gesetzt. Ich trommle nicht mit den Fingern auf den Tisch. Ich höre Ihnen zu. Was wollen Sie mehr?«

»Daß Sie Ihre überhebliche Haltung aufgeben.«

»Zu Befehl!« sage ich militärisch.

Ich richte mich auf meinem Stuhl auf, drücke die Brust heraus und blicke mit unbewegtem Gesicht und ausdruckslosen Augen vor mich hin.

»Ralph«, wettert sie los, »hören Sie doch auf, den Clown zu spielen!«

Ich will gerade auf den »Clown« zurückkommen, als ich glücklicherweise hochschaue. Ich traue meinen Augen kaum. Sie ist den Tränen nahe.

Ich erhebe mich halb von meinem Stuhl.

»Burage!« sage ich in völlig verändertem Tonfall.

»Bleiben Sie sitzen, Ralph! Und rühren Sie mich nicht an!«

Woher wußte sie, daß ich sie in die Arme nehmen wollte? Ich setze mich wieder hin. Und als wir einander in diesem Augenblick fest ansehen, spüre ich die ganze Kraft der Bindung, die zwischen uns entstanden ist. Ist es denkbar, daß ich sie verlasse, wenn auch um zu fliehen?

»Ist es so schwer zu sagen?«

»Ja, ziemlich.«

Ich bemerke, daß sie bei diesen Worten schluckte.

»Soll ich Ihnen helfen?«

»Ja.«

»Worum geht es?«

»Um Helsingforth.«

»Ach«, sage ich.

So unglaublich es klingen mag, die hatte ich vergessen. Zumindest aus dem Bewußtsein verdrängt.

»Also gut: Helsingforth«, sage ich.

»Das Wir nimmt an, daß sie nach ihrer Rückkehr nicht vergessen wird, was sie mit Ihnen vorhatte.«

»Was sie vorhatte?«

»Sie wissen es genau.«

Natürlich weiß ich es. Obwohl ich alles versucht hatte, um nicht mehr daran zu denken.

»Und?«

|276|»Das Wir meint, daß Sie ihr gefügig sein sollten.«

Ich bin einen Augenblick wie versteinert, dann stehe ich auf. Und da ich nicht weiß, was ich mit meinen Händen anfangen soll, packe ich die Stuhllehne und umklammere sie mit aller Kraft.

»Das Wir kann denken, was es will«, sage ich schließlich mit vor Wut erstickter Stimme. »Aber ich will Ihnen mal eins sagen: ich lasse mich von niemandem verkuppeln. Auch nicht vom Wir

»Doktor, ich bitte Sie, setzen Sie sich!«

»Und ausgerechnet Sie, Burage, übermitteln mir diese Empfehlung?«

»Lassen Sie mich das erklären.«

»Da gibt es nichts zu erklären.«

»Oh, doch. Diese Entscheidung …«

»Diese Entscheidung«, sage ich höhnisch.

»… war Gegenstand einer sehr intensiven Diskussion. Sie wurde durch Abstimmung getroffen.«

»Bravo! Und Sie haben selbstverständlich dafür gestimmt!«

»Ja, Ralph«, sagt Burage, meinem Blick standhaltend, »ich habe dafür gestimmt.«

Ich sehe sie an. Diese Antwort ernüchtert mich. Ich beruhige mich allmählich.

»Sind Sie sich darüber im klaren, was das Wir von mir verlangt? Ich soll das sexuelle Spielzeug einer Geisteskranken werden! Denn sie ist geisteskrank, oder wissen Sie das vielleicht nicht?«

»Das Wir weiß es besser als Sie«, sagt Burage barsch. »Das Wir hat eine eingehende Studie von Helsingforths psychologischem Profil angefertigt. Das Wir weiß genau, wie es um sie bestellt ist. Bedford hat Helsingforth in bezug auf Ihre Person freie Hand gegeben, und Helsingforth … (sie zögert und fährt angewidert fort) … wird ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen. Sie verfolgt drei Ziele«, berichtet sie weiter und versucht, so methodisch wie sonst vorzugehen. »Helsingforth will Sie durch Demütigungen für Ihre Kündigung bestrafen; sie will sich Ihrer als eines sexuellen Spielzeugs bedienen; und sie will Sie außerdem benutzen, um Audrey zu quälen.«

»Eine glänzende Analyse!« sage ich sarkastisch. »Und Sie verlangen von mir meine Einwilligung! Sie wissen doch wohl, |277|was mit einem Spielzeug geschieht, dessen man überdrüssig geworden ist.«

Burage sieht mir voll ins Gesicht und sagt mit Nachdruck: »Helsingforth wird Sie sowieso kassieren, ob Sie einverstanden sind oder nicht.«

»Warum dann überhaupt erst einwilligen?«

Diese Logik macht auf Burage keinen Eindruck.

»Sie verstehen das nicht«, sagt sie ruhig. »Es ist lediglich eine Frage der Zeit. Auf Grund der Charakterstudie, die das Wir von Helsingforth machte, ist mit Sicherheit anzunehmen, daß Helsingforth sich unverzüglich (sie betont dieses Wort) rächen wird, wenn Sie ihr ablehnend entgegentreten.«

»Was kann sie machen? Mich entlassen?«

Burage sieht mich kopfschüttelnd an.

»Schlimmeres. Viel Schlimmeres.«

Sie braucht nicht mehr zu sagen. Ich glaube ihr.

»Ich verstehe nicht«, sage ich unwirsch, »was ich an der Situation ändere, wenn ich auf Helsingforths Vorschläge eingehe.«

»Ich habe es ihnen gesagt: Sie gewinnen Zeit.«

»Und welchen Vorteil soll das haben? Einen Monat später stellt sich das Problem auf die gleiche Weise.«

»Einen Monat später! Aber das wäre einfach wunderbar, wenn wir noch einen Monat vor uns hätten!«

»Warum?«

»Um das Problem Ihrer Flucht zu lösen.«

»Ich bin zwar kein Tarzan, aber mir scheint, daß es gar nicht so schwer sein dürfte, aus Blueville zu fliehen«, sage ich nach einer Weile. »Kanada ist so nahe.«

»Täuschen Sie sich nicht. Die Grenze wird streng bewacht. Und in Ihrem Fall gibt es eine zusätzliche Schwierigkeit.«

»Welche?«

»Dave.«

»Oh, immerhin!« sage ich und setze mich wieder. »Sie haben an Dave gedacht!«

»Das Wir kennt Sie, Ralph.«

»Es hat sicher eine eingehende Studie meines psychologischen Profils angefertigt?« sage ich sarkastisch.

»Auf jeden Fall weiß das Wir, was es von Ihnen verlangen kann und was nicht.«

|278|Dieser Satz bringt mich auf, noch bevor ich seine Tragweite begriffen habe. Ich erinnere mich später daran voller Staunen: zuerst der Schock, dann das Begreifen. Logischerweise müßte es umgekehrt sein.

»Oh, sehr gut!« sage ich, die Zähne aufeinanderbeißend. »Welcher Takt! Welche Feinfühligkeit! … Das Wir weiß, was es von mir verlangen kann! Zum Beispiel: daß ich mich vor Helsingforth prostituiere!«

Burage errötet, sie atmet heftig und sagt in einem Ausbruch von Zorn: »Jetzt ist es aber genug, Doktor! Hören Sie mit dieser Komödie auf! Es handelt sich nicht um Prostitution! Helsingforth wird Ihnen kein Geld geben, und es wird Sie nicht zur Verzweiflung treiben, mit einer Frau zu schlafen, die Sie schön finden!«

»Ich finde sie schön?«

»Sie haben es zu Jackie gesagt!«

Schrecklich, sie erzählen sich alles! Das nichtssagendste meiner Worte wird registriert, weitergegeben, mit einem Etikett versehen und zur künftigen Verwendung sorgfältig in eine Schublade gelegt.

»Das bedeutet aber nicht, daß …«

»Ralph, Sie sind ein verdammter Heuchler! Wenn Sie gegen die Vorstellung protestieren, mit Helsingforth zu schlafen, lassen Sie sich von Ihrer Phallokratenarroganz treiben. Sie möchten sich wenigstens die Illusion der Initiative bewahren! Sie fühlen sich in Ihrem männlichen Stolz herausgefordert. Es ist eine Kränkung Ihres machismo, Ihrer männlichen Eitelkeit, sonst nichts.«

»Sie verwechseln die Romane, Burage. Der machismo ist spanisch …«, erwidere ich trocken.

»Das ist dasselbe!« sagt sie, während sie aufsteht und Haar samt Ohrringen wütend schüttelt. »Sie gehören zu diesen Romanen, die immer geil sind! Ein Kater! Jede x-beliebige Katze ist gut genug! Eine streunende Katze wie Bess oder die Tigerin in ihrem Käfig. Es ist Ihnen egal, ob zwischen Ihrer Partnerin und Ihnen groteske Disproportionen bestehen! Selbst einen Berg wie Helsingforth glauben Sie auf der Spitze Ihres Phallus erobern zu können. Sie sind ein Sexist, Doktor! Ein unverbesserlicher Sexist, und Sie werden sich niemals ändern!«

Ich sehe sie an und schweige. Ach, Burage, Burage, wir sind |279|schon wieder in dem alten Fahrwasser! Rassistische Ausfälle gegen meine Abstammung, die doch gerade das ist, was dir gefällt. Verbale Aggression als Ersatz für die Umarmung und dann die unergründliche Böswilligkeit (die ich nicht als typisch weiblich bezeichnen will) deiner Ausfälle. Ist mir die »streunende Katze« gegen meine formelle, schriftliche Ablehnung aufgezwungen worden, ja oder nein? Hat mir Jackie wenigstens die Illusion der Initiative gelassen? Und bin ich etwa aus freien Stücke in die Luxushütte dieses Natternpaares gegangen? Was meine sexistische Arroganz betrifft, oh, glaub das nicht! Das ist nur noch eine Erinnerung! Ich will niemanden »auf der Spitze meines Phallus« (was für ein Ausdruck) erobern. Ich versuche, so gut es geht, mit meinem Status als PM zurechtzukommen. Und mein Gefühl sagt mir, daß er nicht so bald ein Ende haben wird. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin auch nicht auf seine Beendigung erpicht. Mein ganzer Ehrgeiz beschränkt sich darauf, lebend und intakt aus dem verhaßten Matriarchat Bedfords in das liberale Matriarchat des Wir zu gelangen.

Aber wozu soll ich ihr das alles sagen? Sie weiß es ebensogut wie ich. Wir beide wissen immer, was in unseren Worten mitschwingt. Ich ziehe es vor, das Thema zu wechseln.

»Burage«, sage ich nach einer Weile und sehe ihr in die Augen, »Sie sind sich darüber im klaren, was passieren wird, wenn ich mit dem Serum geflohen bin. Es wird eine gerichtliche Untersuchung geben, Verhöre. Sie werden vorgeladen.«

»Nicht nur ich«, sagt Burage ziemlich ruhig, ohne sich jedoch wieder zu setzen. »Pierce, Smith, Grabel. Es ist schwer vorstellbar, daß man uns nicht der Komplizenschaft verdächtigen wird.«

»Ihnen hätte entgangen sein können, daß meine Berichte an Barrow den Stand unserer Forschungsarbeit untertrieben.«

»Und ich sollte Ihre Tests nicht kennen? Ich, die ich für die Hunde verantwortlich bin?«

Ich denke nach.

»Ich könnte vor meiner Flucht einen völlig wahrheitsgetreuen Bericht verfassen, in dem jedoch die Reihenfolge der Experimente gefälscht ist. Und Sie könnten es vielleicht so einrichten, daß Sie Barrow diesen Bericht am Tage meiner Flucht geben. Er wird Ihnen als Alibi dienen. Ihnen und der Gruppe.«

|280|»Ja«, bestätigt sie kopfnickend, »das ist eine Idee.«

Daraufhin sieht sie mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an und schweigt.

»Wann soll ich nach den Plänen des Wir fliehen?« frage ich nach einer Weile.

Ihr Gesichtsausdruck wird hart.

»So schnell wie möglich.«

Ich weiß im Augenblick nicht, was ich von ihrem Gesichtsausdruck halten soll, und da mich das anhaltende Schweigen verlegen macht, glaube ich, mich mit einem Scherz aus der Affäre ziehen zu müssen.

»Na gut, bald werden Sie von einem abstoßenden Kater befreit sein«, sage ich.

Aber ich habe ganz offensichtlich auf die falsche Karte gesetzt. Ihr Gesicht zuckt, als hätte ich sie geohrfeigt. Sie wird blaß. Und staunend sehe ich ihre Lider zittern und Tränen in ihre Augen schießen. Sie dreht sich um und geht wortlos und steif auf die Tür zu.

»Burage!« sage ich und stehe auf.

Sie geht hinaus. Aber sie hat die Tür nicht zugeknallt. Oh, nein, ich kenne doch meine Burage. Auch wenn sie ihrer Gefühle nicht Herr ist, so behält sie doch wenigstens die Kontrolle über ihre Nerven. Die Tür fällt sacht und geräuschlos ins Schloß. So wie man eine Buchseite wendet.

Ich bleibe hinter meinem Schreibtisch stehen, mit leeren, herabhängenden Händen. Ich fühle mich allein.

 

Seit meiner turbulenten Unterhaltung mit Burage am 9. Juni ist fast eine Woche vergangen. Was nicht heißen soll, daß ich nicht mehr mit ihr gesprochen hätte, weit gefehlt. So hat sie mich am Tage nach dem Gewitter unumwunden aufgefordert, ihr den Besuch von Bess und Ricardo in allen Einzelheiten zu schildern. Ich tat es, doch stellte ich mir die Frage, ob es sich von ihrer Seite nicht um masochistische Neugierde handelte. Aber keineswegs, ihre äußerste Aufmerksamkeit beim Zuhören und die in alle Einzelheiten gehenden Fragen, die sie mir anschließend stellte, überzeugten mich davon, daß es sich um eine Befragung handelte und daß alle von mir eingeholten Informationen an das Wir weitergeleitet würden.

Am Freitag, dem 12., fand eine Durchsuchung in der Baracke |281|der alleinstehenden Frauen statt, und Sonnabend früh lag auf meinem Schreibtisch eine lakonische Mitteilung von Barrow, die mich wissen ließ, daß meine Assistentin Crawford, ich zitiere, »zu einem Lehrgang« delegiert worden sei. Ob ich sie zu ersetzen wünsche, fragt Barrow.

In meiner Antwort gehe ich auf das Spiel ein. Ich äußere mein Erstaunen über diesen plötzlichen Weggang und protestiere dagegen, wenn auch mit Maßen, bedauere, daß Crawford mich nicht davon in Kenntnis gesetzt hat, und äußere den Wunsch nach ihrer Rückkehr. Doch angesichts des fortgeschrittenen Stadiums meiner Forschungsarbeit halte ich es nicht für nötig, sie zu ersetzen.

Das aus zwei Gründen, die ich verschweige. Erstens bin ich der Meinung, daß aller Wahrscheinlichkeit nach der heuchlerisch angebotene »Ersatz« nicht gestellt wird. Und außerdem ziehe ich es vor, die Zusammensetzung der Gruppe, in der jetzt einer auf den andern eingespielt ist, nicht durch eine in jeglicher Hinsicht Unbekannte zu verändern. Nach Crawfords Fortgang sind wahrscheinlich keine Bespitzelungen mehr zu befürchten.

Nachdem ich meine Antwort in bürokratische Formulierungen verpackt habe, damit Barrow sie versteht, will ich meinen Brief Burage zeigen und gehe in ihr Büro, da meine Sprechanlage nicht funktioniert. Seit meine Flucht nicht mehr nur eine ferne Möglichkeit, sondern ein vorrangiges Projekt geworden ist, hat Burage bei aller Energie, die sie immer noch besitzt, ihren Frohsinn und ihre Farbe eingebüßt. Und an diesem Morgen bemerke ich, ein wenig erstaunt, auch ein wenig pikiert, daß sie nicht nur etwas Farbe bekommen hat und ihre Augen fröhlich sind, sondern daß ihr ganzes Wesen aufgelebt ist. Voller Bitterkeit sage ich mir, daß die Frauen nicht zu begreifen sind, weil diese Frau, der meine Anwesenheit so am Herzen zu liegen schien, sich schon mit dem Gedanken an mein Verschwinden ausgesöhnt hat. Während sie dann, mit einem verspielten Lächeln um den Mund, meinen Brief liest (ich sehe durchaus ein, daß Crawfords Abgang sie nicht in Trübsinn stürzt), irren meine Blicke in dem kleinen, spartanischen Raum umher, der fast nur ein Verschlag ist. Sie bleiben – genau über ihrem flammenden Haar – an einem knalligen Wandkalender hängen, der schon immer dort hing. Doch heute fällt mir etwas |282|Überraschendes auf. Um das Datum des 28. Juni – ein Sonntag – ist mit Farbstift ein roter Kreis gezogen worden.

Burage hat ihre Augen überall: auf den Schultern, den Schulterblättern, im Nacken und auf der Schädeldecke. Während sie noch, über ihren Schreibtisch gebeugt, die bürokratischen Finessen meines Briefes genießt, fängt sie meine Überraschung und die Richtung meines Blickes auf, dreht sich um und begreift. Sie errötet sofort (kein Wunder bei solchem zarten Teint) und verrät ihre Verlegenheit durch die Anstrengung, sie zu verbergen, kommentiert überstürzt mein Schreiben an Barrow, spricht zu viel und zu schnell und steht schließlich ohne einleuchtenden Grund auf, wodurch sie mir den Kalender verdeckt, was sie wohl auch bezweckte.

Als männliches und infolgedessen untergeordnetes Mitglied des Wir fühle ich mich zu einer gewissen Zurückhaltung genötigt. Ich stelle Burage deshalb keine Frage. Doch frage ich mich selbst: was soll am Sonntag, dem 28. Juni, so Bemerkenswertes geschehen, daß Burage um dieses Datum eigenhändig einen Kreis gezogen hat?

Eine Stunde später gehe ich wieder in Burages Büro, weil ich eine Auskunft brauche. Ich bin so in meine Gedanken vertieft, daß ich erst, als ich schon mitten im Zimmer stehe, merke, daß Burage gar nicht da ist. Ich will mich zurückziehen, zögere aber. Irgend etwas hat sich in dem Zimmer verändert. Der knallige Kalender, der einzige Farbfleck in diesem kargen Raum, ist verschwunden. Und ich brauche nicht lange zu suchen: er liegt auf Burages Schreibtisch. Der rote Kreis um den 28. ist ausradiert worden. Aus der Nähe kann man es sogar noch sehen, Radiergummikrümel, Spuren der Mine.

Gut. Auch danach werde ich nicht fragen. Ich will sogar versuchen, nicht mehr daran zu denken. Letzten Endes ist es nur ein weiteres kleines Geheimnis in der völligen Unfaßbarkeit Bluevilles. Im übrigen ist es Sonnabend, Helsingforth hatte für heute ihre Rückkehr angekündigt. Und dieser Gedanke nimmt mir den Appetit, als ich in Richtung Cafeteria zum Lunch gehe.

Dave ist schon vorausgegangen und hat sich zu seinen kleinen Freunden an den Tisch gesetzt, neben die von ihm bevorzugte Joan Smith, die in der Tat bemerkenswert rund ist.

Während ich mit meinem karg bestückten Tablett in der Hand einen Platz suche, macht mir zu meinem großen Erstaunen |283|Mutsch ein Zeichen, mich an ihren Tisch zu setzen. Ich finde zwischen ihr und Stien einen freien Stuhl, den sie möglicherweise für mich reserviert hatte. Die unerklärliche Verstimmung ist vorbei, ich bin wieder in Gnaden aufgenommen. Mutschs rundes, von weißem Haar gerahmtes Gesicht fließt über vor Herzlichkeit für mich, und selbst Stien läßt ein freundschaftliches Gegrunze in meine Richtung hören, während er sich aufgebracht über das schlechte Wetter beklagt. Wenn man ihn so hört, könnte man fast glauben, daß selbst die Temperatur rassistisch sei. Trotz seiner weißen Mähne hat Stien seinen Hut aufbehalten – wegen des »Luftzugs«, erklärt er – und um seinen Hals den von seiner Frau gestrickten Schal geschlungen, der mir sehr grob gestrickt scheint, aber ausschlaggebend ist ja der Zusammenhang. Und dieser Zusammenhang rührt mich heute besonders. Ich beneide dieses alte Paar, das seit vierzig Jahren fest miteinander verbunden ist. Und als meine Gedanken eine düstere Wendung nehmen, frage ich mich betrübt, was beim Tode des einen aus dem andern werden soll und ob er nach dieser Amputation als halber Mensch wird weiterleben können. An dieser Stelle verwandle ich mich plötzlich in Stien und sehe Mutsch steif und bleich auf ihrem Totenbett liegen, mich daneben auf den Knien, voller Verzweiflung, daß ich eine so gute, so mütterliche Frau verloren habe. Diese Vision schlägt mich so in ihren Bann, daß es mir die Kehle zuschnürt. Ich fahre hoch, als sich eine feste, warme Hand – die der Toten! – auf meine Hand legt und eine Stimme mir ins Ohr flüstert: Hören Sie, Ralph, machen Sie nicht so ein Gesicht, vielleicht kommt heute gar kein Anruf.

Nein, sie irrt sich nicht, ich habe mich selbst belogen, als ich meine Angst ihrem Tod zuschrieb. Ich sehe sie an. Es war eine völlig abwegige Vorstellung: mit mehr als sechzig Jahren ist Mutsch physisch tadellos in Form, ihre Wangen sind frisch, und die Augen leuchten. Die Kehle ist mir zugeschnürt, weil ich Helsingforths Stimme am Telefon erwarte.

Ich lächle Mutsch und gleich darauf auch Stien zu, denn er ist eifersüchtig, der Alte. Es hat ihm keineswegs gefallen, daß sein »Schätzchen«, wie er sie deutsch nennt, ihre Hand auf meine legte. Im übrigen hat sie sie sofort wieder zurückgezogen, und ich selbst schweige nach meinem Lächeln. Die Cafeteria muß mit Abhöranlagen gespickt sein. Wie soll ich übrigens Mutschs |284|Bemerkung auslegen? Ich könnte wetten, daß sie nicht weiß und daß ihr auch niemand vom Wir gesagt hat, wer vergangene Woche während des Lunchs angerufen hat. Wahrscheinlich hat sie mir bei meiner Rückkehr an den Tisch am Gesicht abgelesen, wie stark mich der Anruf aufwühlte, und daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen. Aber warum dann diese hartnäckige Verärgerung während der ganzen Woche? Und warum heute diese Versöhnung?

Als ich die Cafeteria verlasse, begegne ich im Korridor Mr. Barrow. Alle diese Begegnungen an dieser Stelle erfolgen gewiß nicht zufällig. Mr. Barrow verfügt in seinem Büro über einen Monitor, mit dem er die Tür zur Cafeteria überwacht. Jedenfalls kommt er mir aus seiner Höhle auf dicken Kreppsohlen geräuschlos entgegen.

Der Schmierige, Fettige, Ölige, und ausgerechnet heute … Ganz sicher könnte man über Barrow ohne Schwierigkeiten ein Horrorgedicht oder einen Horrorfilm machen. Wenn dieser überdimensionale weiße Blutkörper sich mir nähert, habe ich immer den Eindruck, daß er mich wie ein Phagozyt verschlingen wird. Und während er mir in seiner seltsamen Art auf seinen Pseudofüßen entgegenrudert und sein riesiger, unförmiger Körper den engen Korridor ausfüllt, frage ich mich, ob er nicht durch das Verspritzen seines Zytoplasmas mich einkreisen, in seinem Fett ertränken und verdauen will. Dennoch bleibt er stehen, gut anderthalb Meter von mir entfernt – die prophylaktische Distanz; es hat den Anschein, daß er fürchtet, bei einer weiteren Annäherung vom Bazillus der Männlichkeit infiziert zu werden. Im übrigen ist mir bekannt, welche Angst er vor körperlicher Berührung mit seinesgleichen hat, sogar mit den A.s, die nun wirklich seinesgleichen sind. Als ich ihn so sehe, wie seine blaugrünen Augen mich auffordern, den Abstand zwischen uns nicht zu verkürzen, und seine Hängebacken schon von langatmigen Sätzen aufgebläht sind, muß ich eher an einen Kraken als an eine Amöbe denken. Ich finde es unerträglich, wie mich seine Knopfaugen abtasten, um eine durchlässige Stelle zu finden, aus der sich meine Gedanken heraussaugen ließen. Ich bin wie gelähmt. Ich komme mir vor wie eine Fliege, die sich in klebrigen Fäden verfangen hat.

»Dr. Martinelli«, sagt Mr. Barrow – und wieder zieht mich diese Stimme in die Falle, ich sinke ein wie in Melasse –, »ich |285|habe von Helsingforth einen Anruf bekommen, mit dem sie mich von der Unmöglichkeit in Kenntnis setzt (er schreckt vor keiner Länge zurück), dieses Wochenende in Blueville zu verbringen. Helsingforth ließ mir gegenüber durchblicken«, fährt er mit diesen scheinbar wohlabgewogenen Formulierungen fort, die Hand in Hand mit Schwülstigkeit gehen, »daß sie höchstwahrscheinlich auch in der nächsten Woche nicht kommen kann, da besonders dringende Angelegenheiten sie in Washington zurückhalten, wo sie eine Reihe von Gesprächen mit der Ministerin für Gesundheitswesen, Volksbildung und Soziales zu führen hat.« (Er sagt nicht HEW, denn Abkürzungen liegen ihm nicht; eher neigt er dazu, alles in die Länge zu ziehen.)

Dem fügt Mr. Barrow mit einem Lächeln, das seine Wangen wie Gelatine erzittern läßt, hinzu: »Ich dachte, Sie würden es gern zur Kenntnis nehmen.« Dann schweigt er mit komplizenhaftem Blick. Und während er mich mit seiner ganzen Masse von allen Seiten okkupiert und überschwemmt, wird mir bewußt, daß hinter seiner wichtigtuerischen Miene, mit der er sich an mich wendet, eine mit Unterwürfigkeit und Groll gemischte Haltung verborgen ist. Mr. Barrow kuscht vor dem gegenwärtigen Favoriten, doch wartet er auf dessen Sturz. Vielen Dank, daß Sie mich informiert haben, Mr. Barrow, sage ich. Und ich merke sofort, daß er unzufrieden ist. Sogar »danke schön« pflegt er auf eine bürokratische Art und Weise zu sagen. Und mein viel zu kurzer Satz hat ihn beleidigt.

Niemals jedoch ist ein Dank aufrichtiger ausgesprochen worden. Helsingforths »dringende Angelegenheiten« geben mir einen Aufschub von acht, vielleicht sogar von vierzehn Tagen. In solchen Situationen bekommen die Stunden, die vergehen, einen greifbaren Wert. Die gleiche Empfindung hatte ich vor zwei Jahren, als eine durchaus harmlose Operation, der ich mich unterziehen sollte, um drei Wochen verschoben wurde: ich kostete jeden Tag dieses unverhofften Aufschubs aus. Ich sage mir auch, daß Helsingforths Abwesenheit uns für unsere Pläne »Zeit gewinnen« läßt, ohne Gefahr für mich und ohne Demütigung. Beides wird auf mich früh genug zukommen.

Am Sonntag nehme ich an dem Ausflug zu Pferd mit Jess und Stien teil, ein wenig, um mich nach einer fieberhaften Woche im Labor zu entspannen, mehr aber noch, um Jackie wiederzusehen. |286|Enttäuschung. Ich sehe sie, elegant und martialisch, vor dem Wachtturm, wo sie die Ausgabe der Einlaßmarken durch den Posten und die Übernahme von drei PMs durch zwei berittene Milizionärinnen überwacht, denen sie kurze, deutlich artikulierte Anweisungen erteilt. Mit erhobenem Kinn, das Käppi über dem Ohr und die Arme in die Hüften gestemmt, herrscht sie ihre Untergebenen an. Ich höre nicht, was sie sagt, doch bewundere ich von weitem ihre Silhouette. Und ich bin enttäuscht: sie wird nicht kommen, weil sie ihre Vollmachten an andere delegiert. Und außerdem fällt kein Blick in meine Richtung. Kein einziger. Nicht der geringste. Vergessen die Zuflucht des Kriegers, ad acta gelegt die Nacht im Wald. Ach, wie flatterhaft, diese weiblichen Soldaten! Ich komme mir wie ein verschmähtes Mädchen vor.

Mit dem Serum verläuft alles wie vorgesehen, trotz einiger kleiner Schwankungen. Unser neues, aus älteren Viruskulturen gewonnenes Präparat wird erfolgreich an den Hunden erprobt. Und am 18. fasse ich den Entschluß, mich zu impfen, ohne Burage davon in Kenntnis zu setzen. Ich verspüre einige Störungen, die aber geringfügig und in keinerlei Hinsicht mit der beunruhigenden Reaktion Grabels vergleichbar sind. Am 19. impfen sich dann Smith und Pierce. Burage erfährt von Pierce, daß ich am Vortag einen Selbstversuch gemacht habe, und ich bekomme einen ernsthaften Verweis. Ich verteidige mich. Was sollten wir machen? Erneut Grabel impfen? Wo hätte die Beweiskraft des Experiments gelegen, solange er durch die erste Impfung immun war? In Wirklichkeit ist Grabel jetzt aus dem Rennen. Er kann nicht einmal den Virus auf sich übertragen, um den Effekt der ersten Impfung zu prüfen: wir haben auf dieses Präparat wegen seiner Gefährlichkeit verzichtet. Es erweist sich, daß es völlig verkehrt von mir war, ihr das zu sagen, denn drei Tage später, am 22., erfahre ich von Pierce, daß er auf Anordnung des Wir mit vollem Erfolg an sich selbst eine Virusübertragung vorgenommen hat. Daß er selbst mir das mitteilt, nicht Burage, ist verdammt geschickt in die Wege geleitet. Denn ich kann ja nicht über einen Mann herfallen, der eben sein Leben riskierte, um die Wirksamkeit unseres zweiten Serums auszuprobieren.

Aber ich rufe Burage auf der Stelle und mache ihr lebhafte Vorwürfe. Burage setzt mich in Erstaunen. Sie sprüht vor guter |287|Laune und Energie. Sie weist meine Vorwürfe mit größter Ungezwungenheit zurück und geht aufgeräumt zum Gegenangriff über.

»Doktor, Sie haben für einen illegalen Kämpfer einen schweren Fehler, Sie sind von Natur aus undiszipliniert. Sie halten sich nicht an die Anweisungen, Sie machen alles por la libre (nach Gutdünken).«

Dieser Ausdruck bringt mich in Wut, denn er ist spanisch, und ich frage mich, warum ich außer meinen sogenannten italienischen Fehlern auch noch die den Spaniern zugeschriebenen auf mich nehmen soll.

»Das hätten Sie nicht sagen sollen«, entgegne ich pikiert. »Bisher habe ich es niemals abgelehnt, den Anweisungen des Wir zu gehorchen.«

»Ausgenommen das Serum. Und was den Rest betrifft (Burage lächelt herausfordernd), welche Engelsgeduld und Überzeugungskraft waren da nötig!«

»Sie erwarten doch nicht etwa von einem Wissenschaftler, daß er gehorchen soll, ohne zu wissen, worum es geht!«

Burage schüttelt ihr mahagonifarbenes Haar.

»Lassen wir Ihre verdammte Wissenschaft beiseite! Es geht um einen Kampf, nicht um Forschungsarbeit. Man kann nicht nur ständig erklären. Das müßten Sie begreifen. Statt dessen verlangen Sie ein Privileg!«

»Was für ein Privileg?«

»In jedem Augenblick das Warum eines Befehls zu verstehen. Wenn alle Kämpfer einer illegalen Armee dieselben Forderungen wie Sie stellten, wäre der Kampf unmöglich.«

»Dann danke ich Ihnen, daß Sie sich so geduldig gezeigt haben«, sage ich, nicht gerade freundlich.

»Danken Sie mir nicht, das wird aufhören. Ab jetzt werde ich Ihnen die Befehle des Wir ohne ein Wort der Erklärung übermitteln.«

Ich sehe sie mit gemischten Gefühlen an.

»Ich vermute, das Ganze ist lediglich ein langes Vorwort zu einer neuen Forderung.«

»Genau.« Sie sieht mich halb amüsiert, halb unverfroren an und sagt: »Das Wir erteilt Ihnen den Befehl, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen.«

»Burage!«

|288|Ich mache mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung und denke im selben Augenblick: sie wird sagen, eine italienische Geste. Ich lege meine Hände auf den Schreibtisch zurück, doch unglücklicherweise zu kräftig, viel zu kräftig, und sie knallen auf die Platte. Theater! lese ich in ihren Augen.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst!«

»Das ist sehr ernst«, sagt Burage. »Sie nehmen ja wohl nicht an, daß es von mir ausgeht. Oder daß ich mich damit vergnüge, Ihnen Streiche zu spielen. Ich habe ohnehin nur noch wenig Zeit, mich Ihrer Gesellschaft zu erfreuen.«

Sie hat das in einem so ironischen Ton gesagt, daß ich auf meinem Stuhl wie festgenagelt sitze. Im Handumdrehen erfüllen mich Zweifel und Bitterkeit. Ich vergesse darüber auf der Stelle diese dumme Geschichte mit dem Schnurrbart. Ich denke nur noch an Burage. Sicher ist die Bindung zwischen uns nicht so stark, wie ich glaubte, wenn sie unsere Trennung so leichtnimmt.

 

Gewiß, ich wußte es schon vorher, doch seit ich in Blueville bin, weiß ich es besser. Der Mensch macht den Fehler, die Hälfte seines Lebens damit zu vertun, daß er in Hoffnung oder in Furcht vor dem kommenden Tag lebt. Ohne jeden Aufschub wird er von Termin zu Termin gestoßen, und durch das unaufhörliche Warten verliert er seine Fähigkeit, die Gegenwart zu genießen.

Ich habe mir oft folgendes ausgemalt: Wenn die Vorstellung von der Zukunft in einer bestimmten Zone des Gehirns lokalisiert wäre, könnte die Neurochirurgie vielleicht versuchen, die Gehirnströme in dieser Zone abzuschwächen. Dann würden die täglichen Ängste, einschließlich der größten Angst – der vor unserem Ende –, nachlassen.

Seit ich in Blueville bin, habe ich buchstäblich nur gewartet: nach meinen Kündigungsschreiben auf die Antworten; während unendlich langer Wochen auf Anitas Besuch; solange ich hier bin, auf den Erfolg unserer Forschungsarbeit; seit drei Wochen auf einen zweiten Anruf von Helsingforth; und parallel dazu auf den Tag meiner Flucht.

Wenn diesbezüglich wenigstens die Initiative von mir ausginge, dann wäre ich von den Vorbereitungen in Anspruch genommen. Aber nein, ich muß, unwissend und passiv, ein Unternehmen |289|abwarten, dessen Einzelheiten, einschließlich des Termins, vom Wir geplant werden. Kaum ein Flüchtling war jemals weniger heldenhaft und tatenloser. Mir scheint, daß ich nicht mehr Entscheidungsgewalt habe als ein Paket, das über die Grenze geschmuggelt werden soll. Der einzige Unterschied – und nicht einmal zu meinen Gunsten – besteht darin, daß ein Paket keine Angstzustände kennt.

Burage bringt mich aus der Fassung. Sie erteilt mir bezüglich des Serums bestimmte Anweisungen, denen ich entnehmen muß, daß der Tag meiner Flucht näher rückt. Doch seltsamerweise steigert sich ihre gute Laune in dem Maße, wie wir uns diesem Termin nähern, als ob sie nach meinem Verschwinden aus Blueville statt Verdächtigungen, Verhören und womöglich Folterungen eine Folge ununterbrochener Freuden erwartete. Und gleichzeitig kenne ich sie nicht wieder: die ernsthafte, umsichtige, verantwortungsbewußte Burage, die unübertreffliche Laborantin, die praktische Intelligenz, an der ich die Methode schätze, diese unermüdliche Arbeiterin, die als erste kommt und als letzte geht, scheint einem sechzehnjährigen Mädchen Platz gemacht zu haben, das den ganzen Tag lacht, Scherze macht und singt (natürlich leise und ohne darüber ihre Aufgaben zu vernachlässigen).

Meine Fragen bringen mich nicht weiter. Warum ist sie so fröhlich? Weil sie so erleichtert ist bei dem Gedanken, mich bald los zu sein, sagt sie lachend. Daraufhin lacht sie weiter und fängt wieder mit meinem Schnurrbart an. Er ist eine unerschöpfliche Quelle ihrer Scherze: ich sehe aus wie ein Abenteurer, ein Vagabund, ein Gigolo. Wie aus einem Gangsterfilm der dreißiger Jahre à la Paul Muni oder George Raft entsprungen, oder wie ein Präsidentschaftskandidat in einem lateinamerikanischen Staat, oder einfach wie ein Kellner in einem italienischen Restaurant. Meine sexuelle Anziehungskraft hat sich um achtzig Prozent erhöht, »mit einer vulgären Note, wohlgemerkt, aber ich weiß, daß Ihnen das nicht mißfällt«. Im übrigen sei sie selbst nicht unempfänglich dafür. Und bevor ich fliehe, müsse ich sie auf den Mund küssen. So werde sie erfahren, was die Frauen der dreißiger Jahre zum Erschauern brachte.

Ein weiteres, neu hinzugekommenes und ziemlich verwirrendes Element: während sie vorgibt, froh über meine Flucht zu sein, verhält sie sich mir gegenüber provokatorisch, was sie |290|sonst nie gewesen ist. Der Biß in den Zeigefinger war lange Zeit die einzige Ausnahme bei sonst strikter Distanz. Als sie mir ihre Zuneigung gestand, hatte sie mir deutlich zu verstehen gegeben: kein Händedruck, nicht die leiseste Berührung, kein Blick.

Das liegt hinter uns. Sobald Burage in mein Büro kommt, richtet sie ihre geweiteten Augen auf mich und setzt, während sie von diesem und jenem redet, eine Art Tanz in Szene. Es ist nicht mehr zu zählen, wie oft sie die Mähne schüttelt, den Hals biegt, den Oberkörper verdreht. Und erst die Stimme! Einmal ist sie belegt, dann verschleiert, dann »einnehmend«. Burage tänzelt um mich herum, schnuppert, stößt leise kehlige Laute aus, die an das Gurren der Tauben erinnern. Es kommt sogar vor, daß sie ihre Hand neben die meine auf den Tisch legt und unbeabsichtigt ihren Arm gegen meinen preßt. Gestern stellt sie sich mit einer Akte in der Hand hinter mich, legt ein Blatt Papier auf den Tisch und liest mit mir zusammen; im Eifer vergißt sie ihren Körper und lehnt sich mit der Brust an meine Schulter. Ich spüre ihren Atem so nahe, daß ich fast erwarte, sie wird mir einen Kuß auf den Nacken drücken. Nein, sie muß sich rechtzeitig gebremst haben. Aber ich höre, wie ihr Atemrhythmus wechselt, mehr noch, ich spüre ihn ganz deutlich in Höhe meines Schulterblattes. Ich diagnostiziere eine Beschleunigung des Herzschlages, erotischen Ursprungs. Ich könnte fast im selben Augenblick für mich die gleiche Diagnose stellen.

Ich beschreibe diese Verhaltensweisen, ohne sie verstehen zu können. Ich begreife nicht den Zusammenhang – falls es einen solchen gibt – zwischen meiner Flucht und Burages Fröhlichkeit oder, was noch erstaunlicher ist, zwischen dem Aufruhr ihrer Gefühle und unserer Trennung. Andererseits hat Burages seltsames Verhalten eine wohltuende Wirkung: es beschäftigt mich so, daß es mich von meiner Beklemmung ablenkt. Mir fällt auf, daß ich seit kurzem während meiner schlaflosen Stunden mehr an Burage als an Helsingforths Anruf denke.

Er kommt trotzdem. Es geschehen keine Wunder. Am Sonntag, dem 28. Juni, dreizehn Uhr, dringt in der Cafeteria die Stimme der Telefonistin aus dem Lautsprecher und wiederholt unaufhörlich ihre Aufforderung: Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Ich hasse diese laute, seelenlose |291|Stimme, die wie ein Urteilsspruch vom Himmel auf mich herabfällt, während im Saal Schweigen eintritt und sich alle Blicke auf mich richten. Was ich zumindest annehme, denn ich sehe außer Dave niemand an. Ich tätschele ihm die Schulter, und es gelingt mir, ihm mit einer Zuversicht zuzulächeln, von der ich selbst weit entfernt bin. Nach besten Kräften erhalte ich die Rolle des heldenhaften Vaters aufrecht, die er mir zugedacht hat. Doch sobald ich mich umgedreht habe, um zu gehen, fühle ich mich verlassen, wie ein den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfener Christ. Die Telefonistin hört nicht auf mit ihrer eintönigen Litanei und wird sie unweigerlich so lange fortsetzen, bis ich den Hörer abgenommen habe. Mir fällt die verheerende Wirkung ein, die dieser Anruf vier Wochen zuvor auf mich hatte. Und diese Erinnerung steigert meine augenblickliche Empfindung ins unermeßliche und lähmt mich immer mehr. Ich schlängle mich zwischen den Tischen der Cafeteria hindurch, den Blick starr geradeaus gerichtet. Ich habe das deutliche Gefühl, verfolgt zu werden, nicht wie Kain vom Auge Gottes, nein, schlimmer noch, von meinem eigenen Namen. Je öfter er wiederholt wird, desto mehr verstärkt sich dieser Eindruck …

Diese endlose Wiederholung und diese unbeteiligte Stimme haben etwas Unmenschliches an sich. Man spürt genau, diese Stimme ist nur das Instrument des Schicksals, ich selbst und mein Los gehen sie nichts an. Weder Haß noch Liebe noch Ungeduld. Allein durch ihre Art, mich zu rufen, stürzt sie mich in die Anonymität. Die Toten, die am Eingang zur Hölle Schlange stehen, dürften nicht anders gerufen werden …

Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Die Lautsprecher im Korridor greifen es auf, und weil das Echo hier in dem engen Korridor von einem Ende zum andern zurückgeworfen wird, schwillt der Ton fast zu einer Drohung an. Ich bin erleichtert, als ich Mr. Barrow auf der Schwelle zu seinem Büro erblicke, der mir bedeutet, mich zu beeilen. Ich beschleunige meinen Schritt, erreiche ihn, und er weicht aus, für meine Hast jedoch nicht schnell genug: als ich ins Zimmer trete, stoße ich mit meinem Ellbogen gegen seinen Schmerbauch. Mr. Barrow stößt einen spitzen Schrei aus, wie ein sexuelles Neutrum; ich murmele eine Entschuldigung und werfe gleichzeitig einen kurzen, fachmännischen Blick auf seinen |292|Bauch, als ob ich erwartete, ihn wie eine Geschwulst platzen zu sehen.

Der Hörer liegt nicht auf dem Tisch, sondern befindet sich noch auf dem Apparat, und ich stelle mir die Frage, warum Helsingforth mich unbedingt persönlich kommen läßt, anstatt beim Verwalter eine Nachricht zu hinterlassen. Da sie nichts ohne Absicht macht und da ihre Absichten im allgemeinen bösartig sind, vermute ich, daß sie die Vorstellung genießt, Mr. Barrow zu beunruhigen, indem sie ihn ausschaltet.

Ich nehme den Hörer ab, und die Stimme der Telefonistin verläßt den Lautsprecher, um an meinem Ohr hörbar zu werden.

»Dr. Martinelli?«

»Ja.«

»Ich verbinde Sie mit Ihrem Gesprächspartner.«

Lange Pause. Aus dem Augenwinkeln sehe ich, wie Mr. Barrow, den glänzenden Schädel nach vorn geneigt, mit betonter Diskretion die Tür seines Büros wieder zumacht.

»Dr. Martinelli«, sagt Helsingforths Stimme.

Diese beiden Worte hallen wie ein Faustschlag auf den Tisch. Helsingforth spricht sofort weiter, sobald ich ja gesagt habe. Weshalb muß diese Frauenstimme zehnmal lauter, herrischer und brutaler als die Stimme des eingefleischtesten Phallokraten sein? Ich sehe auf meine Uhr: ungeachtet der langen Reise läßt sie mir nicht einmal eine halbe Stunde Zeit zur Vorbereitung.

 

Trüber Weg auf Schuschka unter einem einförmig grauen Himmel, und hinter mir Jackie, die während der anderthalb Stunden vom Fuß des Wachtturms bis zu Helsingforths Luxushütte weder ein Wort noch einen Blick noch ein Lächeln für mich übrig hat. Ich wende mich mehrmals auf meinem Sattel um und stelle ihr zweimal harmlose Fragen. Sie antwortet nur einsilbig. Und dabei bleiben ihre schönen grauen Augen – die mir Gott weiß warum immer grün erscheinen, vielleicht wegen der schwarzen, sehr dichten Wimpern, die sie umrahmen – auf die Mähne ihres Wallachs geheftet.

Mich überkommt eine Empfindung, die ich schon immer gehabt habe und die durch meine augenblickliche Beklemmung nur noch verstärkt wird: wenn eine Frau mich nicht beachtet, |293|habe ich das Gefühl, von ihr im Stich gelassen zu werden. Nein, nein, das ist nicht Eitelkeit, sondern etwas völlig anderes: ein enttäuschtes Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und als ich mich in der vorletzten Biegung vor der Koppel ein letztes Mal nach meiner Eskorte umdrehe, verwirrt mich eins noch mehr: daß ihr Gesicht nicht wirklich unbeteiligt ist. Feine Linien verlaufen zwischen Augen und Brauen, ziehen sich bis zu ihren Mundwinkeln. Ich sehe, wie es wirklich um ihre seelische Verfassung bestellt ist: sie ist unruhig. Und wenn es meiner bis an die Zähne bewaffneten Leibwache in solchem Maße an Zuversicht fehlt, wird meine Zuversicht gewiß nicht stärker.

Wir kommen ans Ziel.

»Lassen Sie Schuschka, Doktor«, sagt Jackie, als ich die Stute absatteln will. Nachdem Jackie ihren Wallach in seiner Box untergebracht hat, kommt sie in meine Box und sagt in neutralem Ton, während sie die untere Hälfte der Tür sorgfältig hinter sich schließt: »Hat Schuschka nicht ein Hufeisen verloren? Halten Sie sie bitte, ich will nachsehen.«

Ich packe Schuschka am Halfter. Jackie bückt sich, klopft ihr die Köte, während sie »na los, mach schon« sagt, hebt das linke Bein, wirft auf das unversehrte, blitzende Hufeisen einen flüchtigen Blick und streckt unvermutet die Hand aus, um mir das linke Knie zu tätscheln. »Kopf hoch!« sagt sie. Seltsamerweise tröstet mich diese Geste nicht, im Gegenteil. Mein ungutes Gefühl nimmt zu, weil Jackie derlei für nötig befunden hat.

Ich verlasse die Box. Ich muß hundert Meter auf der Wiese zurücklegen. Dem Gras sind die Regenfälle mehr als zugute gekommen. Es wuchert grün und hart in Höhe meiner Hüften zu beiden Seiten des schmalen Pfades, der sich während Helsingforths Abwesenheit knöchelhoch mit Grasnarben bedeckt hat. Mein Herz hämmert, und meine Handflächen sind schweißbedeckt. Aber selbst in Augenblicken starker innerer Spannung haben geringfügige Unannehmlichkeiten lächerliche Gewalt über uns: ich befürchte mißgestimmt, mir nasse Füße zu holen.