|311|FÜNFZEHNTES KAPITEL

»Ist Ihnen etwas passiert?«

Ich drehe mich auf den Rücken und sehe Jackie über mich gebeugt, blond und braungebrannt. In ihrer knappsitzenden, beruhigenden Uniform sieht sie mich mit angstvollen Augen an, das Gewehr unter dem Arm.

»Ist Ihnen etwas passiert, Ralph?«

Ich stehe auf, ich taumele ein wenig.

»Nein. Ich kann es gar nicht fassen. Ich verstehe nicht, wie Helsingforth mich verfehlen konnte. Eine Frau wie sie müßte doch schießen können.«

»Sie schoß mit der linken Hand und ziemlich unsicher. Trotzdem, ich hatte große Angst. Sie waren in meinem Schußfeld, ich konnte Helsingforth nicht anvisieren. Und Audrey?« fragt sie, ihre lebhaften grauen Augen auf das Haus gerichtet.

»Sie hat sich erschossen.«

Jackie zieht fragend die Brauen hoch.

»Aus Eifersucht. Und von Helsingforth angestachelt. Im Namen einer Strategie am Rande des Abgrunds, Sie verstehen.

»Sie werden mir das alles später erzählen, Doktor«, unterbricht mich Jackie im Befehlston und blickt auf ihre Uhr. »Wir haben viel zu tun.«

Und sofort nimmt sie die Dinge in die Hand, kaltblütig, sachkundig, mit einer Entschiedenheit, die ich bewundere. Ich möchte mich nicht allzusehr über die gräßliche Arbeit verbreiten, die wir zu verrichten haben: die beiden Leichen wegtragen – wegziehen, was Helsingforth betrifft –, auf einen Holstapel legen und alles in Brand stecken. Von diesem Brandopfer habe ich noch das brutzelnde Geräusch im Ohr und den abscheulichen Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase. Und ich sehe noch Jackie, wie sie mit einer Schaufel in der noch heißen Asche herumwühlt und die Knochen, die den Flammen standhielten, zur Seite legt: ein wahrhaft bescheidenes Häuflein, wenn man bedenkt, was für eine Macht Helsingforth zu ihren |312|Lebzeiten ausübte; dann übergießt Jackie diese Überreste mit Benzin und verbrennt sie, bis nichts mehr übrigbleibt.

Zuletzt müssen noch die Patronenhülsen gesucht und die Blutlache am Rande des Swimmingpools beseitigt werden.

»Ich kümmere mich darum«, sagt Jackie. »Gehen Sie inzwischen duschen, ziehen Sie sich wieder an und machen Sie uns einen Kaffee. Ich schätze, den werde ich nötig haben.«

Ich habe meine häusliche Arbeit gerade beendet, als Jackie in die Küche zurückkommt und davon spricht, daß zum Glück ein Schlauch da war und ein Abfluß in der Nähe. Im selben Augenblick klingelt das Telefon. Nach einem Moment der Ratlosigkeit gibt Jackie sich einen Ruck und sagt kurz entschlossen: »Ich gehe ran.«

Ich folge ihr ins Wohnzimmer, und als sie den Hörer abgenommen hat, greife ich nach dem zweiten Hörer.

»Leutnant Davidson«, sagte Jackie knapp und militärisch.

»Mr. Barrow.«

»Mr. Barrow«, sagt Jackie kurz angebunden, entschieden und mit einer leichten Drohung in der Stimme, »soll ich Helsingforth rufen?«

Ich bewundere ihre Geistesgegenwart.

»Nein, nein!« sagt Barrow mit einem Zittern in seiner sanften Stimme. »Sie wissen doch, daß sie keine Anrufe haben will. Wenn ich mir erlaube, die Anweisung zu übertreten, so deshalb, weil der Hubschrauber, der die Grenzen überwacht, eben ein großes Feuer in der Nähe ihrer Blockhütte gemeldet hat. Ich war beunruhigt.«

»Der Holzschuppen hat gebrannt«, sagt Jackie. »Helsingforth, Audrey und Martinelli sind dort. Es ist praktisch vorbei. Keinerlei Gefahr.«

»Ah, um so besser, um so besser, um so besser«, sagt Barrow – und ich weiß nicht, weshalb mich diese drei abgehaspelten »um so besser« an sein dreifaches Kinn erinnern. »Leutnant Davidson«, fügt er hinzu, und seine Stimme ist so sanft, so leicht und so behutsam, daß sie auf Eiern zu tanzen scheint, »wissen Sie zufällig, wie lange Helsingforth bei uns zu bleiben beabsichtigt?«

Dieses »bei uns« ist eine Glanzleistung von Speichelleckerei.

»Sie fährt heute abend mit Audrey zurück«, antwortet Jackie |313|in dem gleichen bestimmten, knappen Ton. »Ich soll sie nach dem Abendbrot mit dem Wagen zur Bahn bringen. Haben Sie Helsingforth etwas Dringendes zu übermitteln, Mr. Barrow?«

»Nein, nein«, sagt Barrow so erschrocken, als ob er ein Ei unter seinen Füßen zerbrochen hätte, »und Sie brauchen ihr auch nicht zu sagen, daß ich angerufen habe.«

»Okay, Mr. Barrow«, sagt Jackie und legt auf.

»Ralph«, sagt sie gleich darauf, »wir dürfen auch nicht zu früh zurückkehren. Wir haben also Zeit. Sie können mir in allen Einzelheiten erzählen, was sich ereignet hat.

Sie hört sich meinen detaillierten Bericht an, und als ich fertig bin, sagt sie ernst:

»Wir wußten, daß Helsingforth in Washington Ihr Serum an die Bedford-Aministration verkauft und als Gegenleistung eine enorme finanzielle Entschädigung sowie Steuerbegünstigungen erhalten hatte. Wir haben den Beweis für diese schändliche Transaktion und werden ihn zu gegebener Zeit veröffentlichen. Wir wußten auch, daß man Helsingforth praktisch freie Hand gegeben hatte, Sie zu beseitigen.«

»Deshalb waren Sie so unruhig, als Sie mich herbrachten?«

»Ja, Ralph. Aber ich hatte ebenfalls freie Hand, Sie zu schützen. Es war nicht leicht. Am liebsten hätte ich Helsingforth sofort nach unserer Ankunft liquidiert. Aber da war noch Audrey. Während der ganzen Zeit, in der Sie in der Schwimmhalle waren, habe ich jede Ihrer Bewegungen durchs Fernglas beobachtet. Dann beschlugen die Scheiben, und als Audrey wiederkam, konnte ich praktisch nichts mehr sehen.«

»Den Schuß haben Sie nicht gehört?«

»Nein.« Sie erhebt sich. »Noch einen letzten Blick auf alles, Ralph, bevor wir aufbrechen.«

Sie geht durch alle Räume, ihre grauen Augen überpüfen alles. Ich folge ihr, viel weniger konzentriert. Als wir wieder in der Eingangshalle sind, nimmt sie ihr Gewehr und schultert es mit einer ruckartigen Bewegung der Hand und des Kopfes.

»Jackie, eine Frage«, sage ich. »Wann soll ich Blueville verlassen? Wissen Sie das?«

Sie sieht mich an, und ihre grauen Augen beginnen zu funkeln.

»Heute abend.«

»Heute abend?«

|314|Sie nickt. Ich sehe sie ungläubig an.

»Am 28.«

»Wieso?« fragt sie lächelnd. »Paßt es Ihnen am 28. nicht?«

»Am 28. paßt es mir ausgezeichnet.«

»Ich dachte schon, daß sie abergläubisch sind. Jedenfalls brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es kann nichts schiefgehen. Ich habe alles organisiert.«

»Dave kommt doch mit?«

Lachen.

»Dave kommt mit, aber nicht nur Dave.«

»Nicht nur Dave? Wieso?«

»Machen Sie nicht so ein besorgtes Gesicht, Ralph. Das Wir hat alles genau durchdacht: Sie verlassen Blueville mit Dave, mit Burage …«

»Mit Burage!« rufe ich aus.

»Moment«, sagte Jackie mit einem Lachen, das diesmal triumphierend klingt. »Ich bin noch nicht fertig. Sie verlassen Blueville mit Dave, mit Burage und … mit mir.«

Ich bin sprachlos.

»Mit ihnen?«

»Es geht nicht anders«, sagte Jackie und sieht mir in die Augen. »Es wäre für mich kaum angebracht, in Blueville zu bleiben: Ich bin schwanger.«

»Sind Sie dessen sicher?« frage ich schluckend.

»Zwei Wochen Verzug und ein positiver Test.«

Sie schließt die Eingangstür auf und steht mir erneut gegenüber. Ihre Augen blitzen.

»Los, Ralph, machen Sie nicht so ein Gesicht. Das ist meine Angelegenheit, nicht Ihre.« Sie bläst mit pfiffiger Miene den Mund und die Wangen auf. »Wenn es ein Junge ist – wie ich hoffe –, werde ich ihn Michael Bedford Davidson nennen.«

Sie betont den mittleren Namen, lacht schallend über ihren witzigen Einfall und gibt mir einen kräftigen, militärischen Schlag auf den Oberarm. Dann drückt sie mit einer kurzen Bewegung der Schulter das Gewehr noch fester an ihren Rücken und geht forsch nach draußen an die Sonne; sie überläßt es mir, die Tür zu verschließen. Als ich mich umdrehe, sehe ich sie auf die Pferdeboxen zugehen, den Kopf erhoben und mit herausgedrückten Schultern.

|315|Wenn der Chef der mit Ihrer Bewachung beauftragten Milizionärinnen Ihre Flucht organisiert, »kann nichts schiefgehen«, hatte Jackie gesagt. Diese Flucht war jedenfalls kein Heldenstück, nur hinterher ein gefundenes Fressen für die kanadischen und dann die europäischen Journalisten, die in einigen Fällen etliche Zutaten mit ziemlich gestreckter Soße beifügten. Alle Presseleute, die mich, vor allem in Europa, ins Kreuzfeuer nahmen, lobten mich einhellig wegen des »Einfalls«, der meine Flucht ermöglichte. Beharrlich antwortete ich, daß diese List gar nicht von mir stammte, sondern von Burage. Aber ebenso beharrlich schrieben sie mir in ihren Artikeln das Verdienst zu. Ich glaube, aus Bequemlichkeit. Da ich der bekannteste der Flüchtlinge war, fiel mir der Ruhm der Flucht zu, wie einem General nach einer Schlacht, die seine Untergebenen gewonnen haben.

Hier die Wahrheit, ohne das nachträglich hinzugefügte schmückende Beiwerk: Meine Rolle in dieser Angelegenheit beschränkte sich darauf, genauestens auszuführen, was man mir befahl. Und alle Verdienste kommen in Wirklichkeit den Frauen zu: Burage, die sich besagte List ausdachte, Jackie, die die Einzelheiten organisierte und den Zeitplan aufstellte.

Selbstverständlich handelt es sich hierbei um die Fluchtmethode, denn das Prinzip war vom Generalstab des Wir irgendwo in den Vereinigten Staaten beschlossen worden, nachdem er erfahren hatte, daß die Entwicklung meines Serums vor dem Abschluß stand. Aber der Generalstab überließ der örtlichen Ebene einen breiten Spielraum; Details und Zeitpunkt der Flucht wurden in Blueville in kleinem Kreis im Verlauf mehrerer Diskussionen beschlossen, von denen keine länger als eine halbe Stunde dauerte.

Als ich Burage später fragte, wo das Wir in Blueville einen so sicheren Ort gefunden hatte, um seine Beratungen abzuhalten, antwortete sie mir: im Nichtschwimmerbecken des Swimmingpools, wenn die Kinder badeten. Sie machten solchen Krach, daß jegliches Abhören unmöglich war. Worauf sie mich mit lächelnden Augen ansah: Du hast bestimmt gedacht, wir würden nur tratschen … Ja, sage ich, nachträglich verlegen. Sie lacht: bla, bla, bla.

»Ja, genau das.«

Burage lacht wieder.

|316|»Diesen Eindruck wollten wir absichtlich erwecken. Wir wußten, daß wir noch immer auf die alten sexistischen Reflexe zählen konnten. Tatsächlich lieferte unser ›Getratsche‹ Mr. Barrow einen billigen Vorwand, gegen seine Frau zu sticheln.«

»Wieso? Nahm Mrs. Barrow an euern vertraulichen Beratungen teil?«

Burage sieht mich mit tanzenden Fünkchen in den Augen an.

»Mrs. Barrow war der Chef des Wir in Blueville.« Sie gewährt sich eine kleine Pause, um mein Erstaunen auszukosten. »Mrs. Barrow hat auch Rita angeworben. Sie hatte Rita dabei überrascht, wie sie im Papierkorb ihres Mannes wühlte. Und Rita warb Jackie an, du kennst ja diese Geschichte (kurzes Auflachen). Und nach Jackie viele andere. Rita war prädestiniert für diese Arbeit. Erinnerst du dich noch, daß sie Puppen herstellte? Nun, sie besaß einen fast unfehlbaren Spürsinn, um unter den alleinstehenden Frauen diejenigen ausfindig zu machen, die sich trotz der Bedford-Propaganda ihren Mutterinstinkt bewahrt hatten. Sie schenkte ihnen eine dieser Puppen, und wenn die Reaktion positiv war, begann die verbale Annäherung.«

Innerlich übe ich wieder Selbstkritik. Mir war bekannt, daß es unter den alleinstehenden Frauen aus dem Lager eine »Puppenaffäre« gegeben hatte und daß Mr. Barrow schließlich dieses – ich zitiere – »lächerliche Spiel« verboten hatte. Für mich war das – genau wie für ihn, leider – nur eine Lappalie gewesen, der ich keine Bedeutung beimaß. Erst heute erkenne ich ihre politische Tragweite.

Ich sehe Burage bewundernd an.

»Und was geschah nach Mr. Barrows Verbot?«

»Ach, das war phantastisch!« sagte Burage mit blitzenden Augen. »Ohne es zu wissen, hat der alte Kastrat unserer Sache einen großartigen Dienst erwiesen! Nach dem Verbot verwandelte sich die Puppe in einen illegalen Gegenstand, beinahe in ein Symbol des Widerstands. Sie wurde – in jeglicher Hinsicht – zur verbotenen Frucht! Es gab Durchsuchungen, und während dieser Durchsuchungen – uns hatte Mrs. Barrow gewarnt – fand man immer wieder Puppen. Aber bei wem? Bei den Spitzeln und Bedfordistinnen … Die wurden wir auf diese Weise los, auf einen Schlag. Die Puppen waren eine regelrechte Manie. Alle fingen an, heimlich welche herzustellen, ihnen Kleider und Unterwäsche zu nähen. Und die alleinstehenden Frauen nahmen |317|die Gewohnheit an, sich heimlich zu treffen, um dunkle Geschäfte zu machen und ihre ›Babys‹ miteinander zu vergleichen. Sogar die Milizionärinnen beteiligten sich daran! Jackie drückte beide Augen zu, genauer gesagt, nur eins, machte die ›guten Mütter‹ aus ihrem Kreis ausfindig und nannte sie Rita, die sofort ans Werk ging.«

Als ich Burage fragte, wie sie auf den Fluchteinfall gekommen ist, antwortete sie mir: »Aus Eifersucht. Ich war entsetzlich eifersüchtig, Ralph, auf alle Frauen, die mit dir in Berührung kamen: Anita, Crawford, Helsingforth, Jackie, Pussy und insbesondere Bess. Ja, Bess! Ich weiß, es ist verrückt. Aber ich hatte mich, ich kann es mir selbst nicht erklären, an Bess festgebissen. Ich verabscheute sie, ohne sie jemals gesehen zu haben. Ich fand es vor allem höchst ungerecht, daß einer Hure erlaubt war, was eine tüchtige Laborantin nicht durfte. Aus deiner Beschreibung (du beschreibst sehr gut!) wußte ich, daß Bess ungefähr meine Größe und meine Figur hatte. Du wirst vielleicht darüber lachen, aber eines Abends machte ich mich wie Bess zurecht – falsche Wimpern, stark geschminkte Augen und blutrote Lippen. Jackie überraschte mich dabei, fing schallend an zu lachen und holte eine blonde Perücke, die sie einer Milizionärin weggenommen hatte. Ich setzte sie auf, und Jackie, die Bess durch die Kontrolle am Wachtturm kannte, bestätigte mir die frappierende Ähnlichkeit. So herausgeputzt, schlug sie vor, sollte ich gegen neun zu dir gehen und »eine kleine Entnahme« vornehmen. Wie zwei Irre verbrachten wir eine geschlagene Stunde damit, diesen Einfall nach allen Seiten durchzuprobieren. Ich vermute, ein spielerisches Ventil für eine sexuelle Frustration, unter der wir mehr und mehr zu leiden hatten. Kurzum, in jener Nacht und in den folgenden Nächten träumte ich davon, Bess verschwinden zu lassen, ihren Platz einzunehmen und an deine Tür zu klopfen … Und damit lüftet sich das Geheimnis, Ralph: Dieser Traum brachte mich auf die List …«

 

Hier nun, Stunde für Stunde, der Ablauf der Flucht.

Um acht Uhr, nach dem Abendbrot, schicke ich Dave in unsere Unterkunft und begebe mich ins Labor, wo mir Burage, bleich und innerlich erregt, den mit einer Droge gemischten Whisky gibt. Das Serum, so war vereinbart, sollte Burage selber an sich nehmen.

|318|Viertel nach acht bin ich in meiner Baracke, genauer gesagt, in Daves Zimmer. Und entsprechend der Vereinbarung mit Jackie setze ich mich wortlos hin, nehme ein Blatt Papier und schreibe mit Filzstift auf, was passieren wird und was Dave seinerseits zu tun hat. Dann gebe ich ihm das Blatt und beobachte ihn, während er liest. Er richtet sich auf, errötet, holt tief Luft; seine Augen fangen an zu blitzen. Ich habe einen sehr glücklichen Jungen vor mir. Huckleberry Finns Abenteuer bekommen eine Fortsetzung, sein Vater und er selbst sind die Helden, und diesmal nicht auf einem Floß, sondern in einem Lieferwagen Marke Ford. Ich beuge mich über ihn und unterstreiche mit dem Finger die Anweisungen des Wir, die ihn betreffen. Strahlend und voller Eifer liest Dave sie immer wieder, und ich sehe an der Bewegung seiner Lippen, daß er sie auswendig lernt. Ich bin nahe daran, ihn zu umarmen und zu küssen, doch fällt mir gerade noch rechtzeitig ein, daß ihn ein solches Verhalten schockieren könnte, weil es so wenig den Klischeevorstellungen vom Abenteuer entspricht. Ich hole die Streichhölzer aus der Küche und gebe sie ihm. Mit ernstem, fast andächtigem Gesicht verbrennt Dave das Blatt.

Ich will den schönen Augenblick nicht verderben, indem ich ihn in die Länge ziehe. Deshalb gehe ich wieder in mein Zimmer. Außer einer Tasche mit Aufzeichnungen soll ich nichts mitnehmen, deshalb habe ich bis neun Uhr nichts zu tun.

Diese Dreiviertelstunde untätigen Wartens war das Schlimmste an meiner Flucht. Wenn ich Raucher gewesen wäre, hätte ich wenigstens die Möglichkeit gehabt, mich meinem geliebten Gift hinzugeben. Mit größter Wahrscheinlichkeit hätte ich dann nicht einmal gemerkt, daß ich rauche. Ich entscheide mich für das kleinste Übel: Anstatt im Zimmer auf und ab zu gehen, lege ich mich aufs Bett. Und dort überkommt mich nach wenigen Minuten eine Empfindung, die mich bis zum heutigen Tag in Erstaunen setzt. Meine Augen streifen durch das Zimmer, und ganz plötzlich spüre ich ein lebhaftes, fast stechendes Bedauern, es verlassen zu müssen.

Dabei hat das Zimmer gar nichts Anziehendes an sich. Im Winter kalt und im Sommer zu heiß, sehr einfache Möbel, bescheidener Komfort, kärgliches Licht, das durch das einzige Fenster dringt, trostlose Aussicht auf Stacheldraht und die Baracken der Milizionärinnen. Und welche Erinnerungen verknüpfen |319|sich mit diesem Zimmer! Ein Bett, in dem ich mehr schlaflose Stunden, mehr Alpträume als erholsamen Schlaf kennengelernt habe. Ein kleiner Schreibtisch aus imitiertem Mahagoni, an dem ich oft gesessen und, ohne zu schreiben, ohne zu lesen, über die erfahrenen Demütigungen nachgesonnen, mich in Erwartung Anitas verzehrt oder angstvoll an die Zukunft gedacht habe. Und trotzdem war es eine Ecke, die ich für mich hatte! Die Höhle, in die ich mich verkroch, um meine Wunden zu lecken. Wenn ich sie jetzt aufgebe, lasse ich ein wenig von meiner Haut, von meinem Geruch, von meiner Wärme und einige Monate meines Lebens zurück.

Als Bess und Ricardo um neun an meine Tür klopfen, hat mich fieberhafte Ungeduld gepackt, und ich bin froh, mich durch das Ritual ablenken zu können. In Erwartung dessen gieße ich Ricardo in der Küche das letzte Glas meines unverfälschten Whiskys ein. Dann gehe ich zu Bess in mein Zimmer, wo ich ihrem beruflichen Eifer wenig Beachtung schenke, selbst als sie sich über die Langsamkeit meiner Reaktionen beklagt, hinter der sie die »Konkurrenz« wittert. Als wir schließlich zu Ricardo in die Küche gehen, hole ich aus dem einzigen Wandschrank mit zitternden Händen die darin eingeschlossene Flasche Whisky, die Burage mir gegeben hat. Obwohl ich die Zusicherung bekommen habe, daß es nur harmloses Zeug ist, komme ich mir wie ein Giftmischer vor, als ich meinen Besuchern den mit einer Droge versetzten Alkohol eingieße. Und ich verwende ziemlich viel Zeit darauf, ihr Herz abzuhorchen und ihren Puls zu messen, nachdem sie am Tisch eingeschlafen sind.

»Worauf warten Sie noch?« fragt Burage, als sie zur Küchentür hereingestürmt kommt, durch Perücke und Schminke nicht wiederzuerkennen. »Ziehen Sie Ricardo den Kittel aus und schlüpfen Sie hinein!«

Nun folgt der einzig unsichere Moment der Flucht. Um halb zehn ist alles soweit: Burage am Steuer des Ford Transit; ich neben ihr, die weiße Haube bis in die Augen gezogen, zusammengesackt, als hätte mich der Alkohol fertiggemacht; hinten im Wagen Dave, von Kopf bis Fuß in Decken eingewickelt; rechts neben ihm der Kühlbehälter mit dem Serum und mit den Reagenzgläsern von Bess, die hoffentlich früher oder später dank dem Serum überflüssig werden.

|320|Der weiße Lieferwagen hält am Fußende des Wachtturms. Es dämmert bereits, aber die Lagerlampen brennen noch nicht. Burage reicht der Wache unsere beiden Einlaßmarken, die die Milizionärin lange begutachtet, bevor sie, fast widerstrebend, unsere Ausweispapiere zurückgibt. Auf meinen Sitz gelümmelt, sehe ich die Milizionärin nur mit einem Auge, doch das reicht, um zu erkennen, daß dieses große, hagere Gestell mit Pickeln im Gesicht der Typ ist, Scherereien zu machen. Sie wirft einen überaus argwöhnischen Blick durch die Wagentür.

»Warum sitzt der Chauffeur nicht am Steuer?«

»Weil er betrunken ist«, sagt Burage mit schleppender, heiserer Stimme.

»Warum?«

»Ich kann den Kunden doch nicht verbieten, ihm was zu trinken zu geben«, sagt Burage in unglaublich echtem Tonfall.

»Wer hat ihm etwas gegeben?« fragt die Milizionärin scharf.

»Dr. Martinelli.«

»Ich werde es melden«, sagt die Milizionärin bissig (sie kann mich offensichtlich nicht leiden, weiß Gott warum).

»Schwester«, sagt Burage, »wenn ich den Kunden verbiete, was zu trinken und auch Ricardo was anzubieten, kann ich meinen Job an den Nagel hängen.«

Die Milizionärin wird rot. Ich sehe, daß sie sich überwinden muß, um sich mit so einer heruntergekommenen Frau zu unterhalten, und daß sie ihr am liebsten das Wort verbieten möchte. Trotzdem tut sie es nicht. Je länger ich sie ansehe, um so weniger gefallen mir diese langen Kinnladen und diese schmalen Lippen. Die geht aufs Ganze.

»Ich werde auch den Chauffeur melden.«

»Okay«, sagt Burage.

An dieser Stelle begeht Burage einen Fehler, den ersten seit Beginn der Auseinandersetzung. Sie tritt aufs Gaspedal und läßt den Motor aufheulen. Die Milizionärin sagt barsch: »Stellen Sie den Motor ab, steigen Sie aus und öffnen Sie die hintere Tür.«

Ich zwinge mich, bewegungslos sitzen zu bleiben, aber mein ganzer Körper spannt sich, und mein Herz hämmert gegen die Rippen. Schweigen. Burage fängt sich wieder. Sie stellt den Motor ab und sagt schleppend und höhnisch: »Schwester, ich hab’ bloß den Gefrierbehälter mit dem Sperma hinten drin.« |321|Die Milizionärin zuckt mit den Lidern, als hätte man sie geohrfeigt. Aber sie läßt nicht locker. Im Gegenteil.

»Haben Sie mich verstanden?« sagt sie.

»Oh, Pardon«, sagt Burage, lauter werdend. »Wir müßten erst mal feststellen, wer für was verantwortlich ist! Ich sage: Sie haben kein Recht, an mein Sperma in meinem Kühlschrank ranzugehen!«

»Tun Sie, was ich sage«, antwortet die Milizionärin.

»Also gut, wenn Sie drauf bestehen, rufen Sie den Leutnant«, sagt Burage mit bewunderungswürdiger Kaltblütigkeit. »Ich mache nur in seiner Gegenwart auf.«

Ich vergehe vor Angst und bin wütend, besonders auf Jackie. Sie hatte versprochen, während der Kontrolle an Ort und Stelle zu sein. Alles kann durch ihre Schuld in die Brüche gehen. Wo sie nur bleibt?

»Kommen Sie endlich raus«, sagt die Milizionärin barsch.

Burage gehorcht, doch hat sie das Manöver begriffen. Während sie aus dem Wagen steigt, dreht sie sich um, bückt sich, greift nach den Autoschlüsseln und steckt sie in die Tasche.

»Geben Sie mir die Schlüssel«, sagt die Milizionärin wütend.

»Schwester«, sagt Burage, »dieses Sperma ist Regierungseigentum. Außer mir hat niemand das Recht ranzugehen.«

Die Milizionärin macht eine unerwartete Handbewegung. Sie nimmt das Gewehr und richtet den Lauf auf Burages Brust. Ich sehe, wie ihre Hände zittern.

»Geben Sie mir die Schlüssel«, sagt sie tonlos.

Ich beschließe einzugreifen. Ich rutsche auf Burages Platz hinter das Steuer, stecke wie ein Angetrunkener den Kopf durchs Fenster und sage mit annähernd spanischem Akzent: »Señora Soldat, Sie dürfen nicht auf Señora Bess schießen. Sie ist bei der Regierung angestellt.«

»Nennen Sie mich nicht Señora«, brüllt die Milizionärin.

Obendrein eine Frömmlerin.

»Ja, Señora«, sage ich mit blödem Gesichtsausdruck.

In diesem Augenblick stößt mein Ellbogen gegen das Steuer und löst einen kurzen Hupton aus. Das war unbeabsichtigt, doch mache ich mir diesen Zufall zunutze: Von einem Schwächeanfall übermannt, lasse ich meinen unter Alkohol stehenden Kopf und |322|die beiden Arme auf das Steuer fallen. Die Fordhupe schrillt unaufhörlich und übertönt die Stimme der Milizionärin, die vermutlich Befehle und Drohungen an meine Adresse richtet. Aus den Augenwinkeln sehe ich die Wache aus ihrer Baracke herausstürzen, fünf oder sechs Milizionärinnen, die Waffen im Anschlag, sehr erregt. Wildes Durcheinander. Verwirrung. Lautes Geschrei, von der Hupe halb übertönt. Beschimpfungen an meine Adresse. Mehrere Hände, und nicht gerade die zärtlichsten, schütteln mich, damit ich das Steuer loslasse, doch trotz der Schläge klammere ich mich daran fest, bis ich endlich Jackie erblicke. Sie kommt aus dem Lager gerannt, rot im Gesicht, mit blitzenden Augen. Es hagelt Befehle. Die Wache zieht sich beschämt in die Baracke zurück. Die Milizionärin nimmt Habachtstellung ein. Sie wird gehörig abgekanzelt. Burage auch. Ich auch. Jackie läßt sich die Autoschlüssel geben, befiehlt der wachhabenden Milizionärin, die Lagerbeleuchtung einzuschalten, öffnet und schließt geräuschvoll den hinteren Schlag des Lieferwagens und gibt Burage die Schlüssel zurück. Während sie sich zu ihr herabbeugt, sagt sie leise und wütend: »Ihr habt meinen Zeitplan nicht eingehalten und seid fünf Minuten zu früh am Wachtturm gewesen.«

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Sie hat recht. Schuld ist Burage, die mich so drängte, als ich die schlafenden Bess und Ricardo abhorchte. Ich rücke meine weiße Kappe zurecht und nehme wieder meinen Platz ein. Dabei bemerke ich, daß mein Mund blutet und mein Zahnfleisch weh tut. Die liebenswürdigen Mädchen haben mich ganz schön zugerichtet.

Wir fahren. Blueville und sein Wachtturm bleiben hinter uns zurück. Ich presse mein Taschentuch auf die Wunde. In diesem Augenblick fühle ich mich vor allem gedemütigt – durch die Art, wie man mich behandelt hat, durch meine Verkleidung, durch den Schnurrbart, durch das grüne Abzeichen, das auf meiner Brust brennt. Wenn ich nicht befürchtete, aufs neue den Befehlen zuwiderzuhandeln, würde ich es aus dem Fenster werfen. Nein, ich verlasse Blueville gewiß nicht mit Glanz und Gloria.

Der Lieferwagen fährt langsam auf einer unbefestigten Straße und ruckt einige Male. Burage reißt ihren Aufputz und ihre Perücke herunter, schüttelt ihr mahagonifarbenes Haar, wendet sich zu mir und sagt plötzlich wutentbrannt: »Ich stelle |323|fest, daß Sie trotz allem fähig sind, eine Initiative zu ergreifen, wenn Ihr Sohn auf Hilfe angewiesen ist!«

Ich bin außer mir. Das ist die Höhe, der Gipfel der Ungerechtigkeit! Als ob ich nicht auch ihr geholfen hätte! Und als ob das Wir mir die geringste Entscheidungsfreiheit gelassen hätte, seit es die ganze Angelegenheit in die Hand genommen hat. Ich ertappe dich in flagranti bei einem sexistischen Reflex, Burage! Man behandelt mich wie einst die Frauen, als wäre ich unmündig; man fragt mich nicht, man verbietet mir, irgend etwas zu unternehmen, und wenn ich nichts unternehme, wirft man es mir vor! Das Taschentuch an die Lippen gepreßt, drücke ich mich wortlos in meine Ecke, blicke in die Nacht hinaus und vermeide, so gut ich kann, den Fahrer anzusehen.

Ein düsteres Zukunftsbild: Dave und die Sorgen, die ich mir um ihn mache. Eine eifersüchtige Frau, deren Eifersucht nicht einmal Dave verschont. Eine zweite, von mir schwangere Frau, die mit uns flieht. Beide maßen sich Rechte auf mich an, da sie mich »schützen«. Ah, ich vergaß meine zärtliche Ehefrau Anita, von der ich nicht geschieden bin, soweit ich weiß. Ich habe das Gefühl, das eine Gefängnis gegen ein anderes eingetauscht zu haben.

Ich schaue in die Nacht hinaus. Mein Zahnfleisch blutet. Von Zeit zu Zeit spucke ich etwas Blut in mein Taschentuch. Wie bitter erscheinen mir, wenn ich darüber nachdenke, die ersten Augenblicke der Freiheit.

 

Ungefähr zwei Kilometer hinter Blueville bringt Burage den Ford am rechten Straßenrand zum Stehen. Wir warten wortlos. Ein Jeep taucht auf, ein Kopf zeigt sich an der Wagentür, es ist Jackie; sie überholt uns in langsamer Fahrt und bedeutet uns, ihr zu folgen.

Sechs oder sieben Kilometer weiter verläßt der Jeep die Straße und schlägt einen Waldweg ein, der sich zwischen Tannen hindurchschlängelt. Dämmerlicht, das kaum ausreicht, um ohne Scheinwerfer zu fahren, das sich aber ganz plötzlich aufhellt, als wir auf eine Lichtung kommen. Jackie springt vom Jeep und sagt uns in knappem Tonfall: Bleibt im Ford sitzen, sprecht nicht und regt euch nicht auf, wenn ihr Schüsse hört.

Daraufhin geht sie zum Jeep zurück, legt ihre Uniform ab und zieht ein paar verblichene grüne Levis mit ausgebeulten |324|Knien und einen braunen Rollkragenpullover an, dessen linker Ärmel eine gelbbraune Binde trägt. Dann schnallt sie das Koppel mit dem Revolver um, hängt das Gewehr über die Schulter, rollt ihre Uniform zusammen, wirft sie auf den hinteren Sitz des Jeeps und entfernt sich mit einem Sprechfunkgerät in der Hand. Ich verliere sie bald zwischen den Tannen aus den Augen.

Wieder langes Warten. Eine heftige Schießerei beginnt. Ich lege die Hand auf den Türgriff, und Burage fragt: »Wo wollen Sie hin?«

»Dave beruhigen.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Haben Sie nicht die Befehle gehört?«

Ich zucke die Achseln und steige aus dem Ford, öffne den hinteren Wagenschlag und sage leise ein paar Worte zu Dave. Ich taste nach seinem Gesicht: In seine Decken eingemummt, schwitzt er. Ich verschaffe ihm Luft und spitze die Ohren. Die Schießerei geht weiter. Ich setze mich wieder neben Burage, die in schroffem Ton sagt: »Ausgezeichnet! Genieren Sie sich nicht! Knallen Sie die Wagentür ordentlich zu!«

Was zählt aber schon das schwache Geräusch, das ich inmitten der ohrenbetäubenden Schießerei verursacht habe? Es ist so absurd, daß ich nicht einmal antworte. Aber ich habe Lust, mit den Zähnen zu knirschen. In diesem Augenblick gibt es zwischen Burage und mir wenig Liebe.

Die Schießerei läßt nach, verebbt mit drei, vier vereinzelten Schüssen und bricht ab. Ich weiß den Wert des eingetretenen Schweigens zu schätzen, obwohl ich darauf gefaßt bin, daß diese Pause gerade so lange dauern wird, sich daran zu gewöhnen. Erneut langes Warten, dann taucht Jackie, deren Haut jetzt viel dunkler ist, zwischen den Tannen aus der Nacht auf, die noch einige Fetzen des Tageslichts bewahrt hat. Jackie ist ohne Sprechfunkgerät, ohne Waffen, aber wir sehen deutlich ihr strahlendes Lächeln.

»Es ist alles gelaufen!« sagt sie schwungvoll.

Sie bringt den Jeep zum Stehen, wendet und fährt mit eingeschalteten Scheinwerfern auf die Straße zurück. Wir folgen ihr.

Drei Kilometer weiter werden wir von einer bewaffneten Gruppe angehalten. Der Trupp steht voll im Scheinwerferlicht des Ford: zwanzigjährige Mädchen und Jungen, angezogen |325|wie Jackie, grünliche Jeans, braune Pullis und gelbbraune Armbinden. Ein Mädchen löst sich aus der Gruppe und nähert sich dem Ford-Lieferwagen.

»Bist du der Doc mit dem Serum?« fragt sie fröhlich.

»Ja.«

»Steck deinen Kopf ein bißchen aus dem Auto, damit ich dich sehe.«

Ich gehorche.

»Na prima, Väterchen, du bist Klasse«, sagt sie und reckt sich zu mir empor. Und küßt mich auf den Mund.

Ich weiß nicht, ob ich über die Anrede vergnatzt oder über den Kuß erfreut sein soll. Ich sage ein bißchen aufs Geratewohl: »Wie geht’s im Untergrund?«

Sie lacht.

»Prima Leben: man liebt sich und man kämpft.«

Dann lacht sie wieder und geht mit langen Schritten, wiegendem Gang und schwingenden Hüften davon. Ich glaube, sie war nicht sehr sauber. Aber sie hatte frische Lippen, und ihr Kuß schmeckte nach Kräutern. Wir fahren langsam weiter. Die bewaffnete Gruppe schwenkt ihre Waffen, als wir an ihr vorbeifahren. Zum erstenmal spüre ich den Atem der Freiheit. Ich werfe einen versöhnenden Blick zu Burage. Sie sitzt bleich und verkrampft hinter dem Steuer.

Auf der amerikanischen Seite wird die Zollkontrolle von einer anderen bewaffneten Gruppe durchgeführt, stärker als die vorige und bedeutend weniger überschwenglich. Ich sehe unter ihnen einige »Alte«. Und geschwärzte, müde Gesichter. Vielleicht hatten sie während des Angriffs Verluste.

Ein denkbar kurzer Aufenthalt am kanadischen Kontrollpunkt. Man erwartet uns offensichtlich. Burages und mein Gesicht werden kurz mit einer Taschenlampe angestrahlt, eine Handbewegung, und wir fahren weiter, ohne auch nur das geringste Papier vorzuzeigen. Burage stößt einen Seufzer aus und bringt den Wagen einige Meter weiter zum Halten.

»Ralph, würden Sie das Steuer übernehmen?«

Wir tauschen die Plätze, und ich nehme mir die Zeit, Dave zu sagen, daß er sich jetzt bequem ausstrecken kann. Als ich losfahre, immer hinter Jackies Jeep her, werden wir von einem Schwarm weiblicher Motorradfahrer eskortiert. Wir werden weiter beschützt, jetzt von kanadischer Seite.

|326|Eine heftige, aber ziemlich entfernte Schießerei wird hinter uns laut.

»Ein Gegenangriff?« frage ich.

Burage sieht auf ihre Uhr und schüttelt den Kopf.

»Nein. Ein drittes Kommando ist im Begriff, Blueville einzunehmen.«

Ich ziehe fragend die Brauen zusammen.

»Und welches Ziel hat diese Operation?«

»Drei Ziele«, sagt Burage, die bleich auf ihrem Sitz hockt. Mir fällt auf, daß ihre Stimme sehr müde wirkt, aber sie bleibt bei ihrer gewohnten Methode. »Zum ersten, den Sender von Blueville zerstören. Zum zweiten, die am stärksten gefährdeten Personen entführen: Mrs. Barrow, Rita, Grabel, Pierce, Smith und die Stiens. Zum dritten, die Arbeitsprotokolle des Jespersen-Projekts beschlagnahmen. Es versteht sich von selbst, daß auch Jespersen entführt wird, zwar nicht ganz in dem Sinn wie die anderen, doch wir erwarten von ihm eine Aussage und eine Selbstkritik.«

Ich schweige voller Bewunderung. Das Wir hat nichts vergessen. Durch die Enthüllung des Jespersen-Projekts wird die Kriegsmaschinerie gegen Bedford um eine überaus wirksame Waffe verstärkt.

Als ich so meinen Gedanken nachhänge, schlägt sich Burage plötzlich die Hände vors Gesicht und bricht in Schluchzen aus. Im ersten Moment versagt mir die Stimme. »Burage …«, sage ich dann sanft.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«

Eine wenig ermutigende Reaktion. Nach einer Weile strecke ich die rechte Hand aus und berühre ihre Schulter. Meine Hand wird sofort zurückgestoßen.

»Rühren Sie mich nicht an, Sie Musterexemplar von einem Sexisten, Sie!« sagt sie unter Tränen.

»Immer noch! Was habe ich denn gesagt …«

»Sie haben nichts gesagt, Sie haben was gedacht.«

»Jetzt können Sie auch schon meine Gedanken lesen!«

»Verschonen Sie mich mit Ihrer plumpen Ironie.«

Aber natürlich, meine Ironie kann nur plump sein. »Und was habe ich gedacht?«

»Als ich am Wachtturm fünf Minuten zu früh erschien, haben Sie darin einen Beweis weiblicher Leichtfertigkeit gesehen.«

|327|»Nicht im geringsten. Ich hatte genauso schuld.«

Sie ist in Fahrt.

»In der Lichtung haben Sie mich der Gefühllosigkeit bezichtigt, als ich Ihnen verbot, das Auto zu verlassen, um Dave zu beruhigen.«

»Aber nein. Sie hielten sich an die Vorschrift. Ich nicht.«

»Und jetzt, als ich anfing zu weinen …«

»Irrtum! Ich dachte nur daran, daß die jetzige Zivilisation Ihnen zu weinen gestattet und mir nicht!«

Bei diesen Worten reiche ich ihr mein Taschentuch, das so weiß wie Noahs Taube ist. Das Weinen läßt nach. Sie nimmt die Hände vom Gesicht. Nach ein paar kleinen krampfhaften Schluchzern tritt allmählich Ruhe ein. Mir selbst ist die Kehle wie zugeschnürt. Schließlich weinen die Helden auch bei Homer.

»Oh, Ralph, ich hatte so schreckliche Angst, als diese Lange mir befahl, den hinteren Wagenschlag zu öffnen!«

»Sie haben sich sehr gut aus der Affäre gezogen.«

»Nein, nein, Ralph, Sie haben die Situation gerettet. Sie waren phantastisch! Und das kam so überraschend! Ich hatte sie immer für ein bißchen feige gehalten, weil Sie so sensibel sind.«

»Danke.«

Sie hört es nicht. Meine Vorzüge wachsen in ihrer Vorstellung und in ihren Äußerungen zusehends.

»Armer Ralph! Wie habe ich für Sie gelitten! Und Sie hielten den Schlägen stoisch stand! Wie eine kleine Bulldogge ans Steuer geklammert.«

Das »klein« wäre vielleicht nicht nötig gewesen.

Sie lacht, rückt auf dem Doppelsitz an mich heran und zieht mich in ihr Netz. Ich packe sie mit der rechten Hand. Das wäre der Hafen. Friedliches Gewässer. Eine sanfte Brise. Wir machen als Paar fest. Mir fällt auf, daß keine Rede mehr war von »nur einer Initiative fähig sein, um meinem Sohn zu Hilfe zu eilen«. Schweigen. Unsere beiden Maste schaukeln Seite an Seite.

Ich muß ihre Finger im übrigen bald loslassen. Ich brauche beide Hände zum Fahren. Aber ich fühle mich erleichtert. Die Augen auf die Schlußlichter des Jeeps gerichtet, die Ohren vom Heulen der Motorräder erfüllt, macht es mir Mühe, ein angemessenes Gespräch zu führen.

|328|Nach dreistündiger Fahrt überquert der Jeep einen Flughafen – ein Militärflugplatz, scheint mir – und führt uns geradewegs in den Schlund eines Lufttransports, der den Ford-Lieferwagen verschlingt. Man braucht ihn vermutlich als »Beweisstück«. Vorher hatte ich Dave aus seinen Decken geholt. Er schlief!

Aber im Flugzeug ist er wieder hellwach. Fragend leuchten seine großen, von dichten schwarzen Wimpern gerahmten Augen in seinem langgezogenen Gesicht – und in meinem Halbschlaf bin ich Jackie unendlich dankbar, daß sie sich seiner annimmt und ihm endlos etwas erzählt. Ich kauere mich auf einen Sitz, schnalle mich fest und schließe die Augen.

»Ralph«, sagt Burage, während sie sich neben mich setzt, »Sie können jetzt nicht schlafen. Ich habe eine Arbeit für Sie.«

Ich öffne die Augen und erblicke eine Neuausgabe von Burage: sie hat sich gekämmt, ihr Gesicht ist glatt, ihre Bewegungen sind präzise, die Worte klar. Sie ist so frisch, als hätte sie gerade einen langen Schlaf und ein Bad hinter sich.

»Ralph, hier ist der Text Ihrer Mitteilung an das kanadische Fernsehen. Selbstverständlich dürfen Sie ihn nicht vorlesen, sondern müssen so tun, als ob Sie frei sprechen. Der Flug wird eine halbe Stunde dauern. Sie werden sofort nach der Landung interviewt. Sie haben also eine halbe Stunde Zeit, sich den Text anzueignen.«

»Sie denken an alles!« sage ich, äußerst schlecht gelaunt. »Haben Sie diesen Text aufgesetzt?«

»Oh, nein! Er wurde auf einer viel höheren Ebene ausgearbeitet. Sie sehen doch ein, daß man Sie nicht irgend etwas sagen lassen kann.«

»Ich bin schließlich kein Idiot.«

»Lieber kleiner Ralph, regen Sie sich doch nicht so auf.«

Sie betont zärtlich das »klein« und streift, sich vorbeugend, mit ihrem wunderbaren mahagonifarbenen Haar mein Gesicht. Ich spüre den Duft und bemerke zum erstenmal, daß es gewaschen und parfümiert ist. Gott sei Dank, das Weibliche ist nicht ausgestorben. Welcher Mann hätte daran gedacht, sein Haar zu waschen, bevor er flieht? Ich sehe Burage an. Ich verehre dieses unbezähmbare Geschlecht mehr denn je.

In der harten Sprache der Tatsachen heißt es, daß der Mann in die Frau eindringt. Aber könnte man nicht auch sagen, daß die |329|Frau den Mann »umgibt«? Burage umgibt mich in diesem Stadium psychologisch. Sie hüllt mich ein – eine sehr angenehme Empfindung – mit ihrem Haar, mit ihren Augen, mit ihrem Lächeln, mit ihren Händen. Nicht zu vergessen die Stimme.

»Sie sind kein Idiot, aber politisch naiv«, fährt sie fort. »Ralph, mit Ihrer schauspielerischen Begabung werden Sie den Text phantastisch sprechen. Es muß sein. Alles ist abgewogen. Jedes Wort zählt.«