|147|SIEBENTES KAPITEL

Anita kommt Mittwoch abend in dem Augenblick an, als ich gerade mit Dave in die Cafeteria gehen will. Sie ist bleich, müde, abgespannt. Sie gibt mir einen flüchtigen Kuß, winkt Dave von weitem zu, sagt beiläufig, daß sie vor Hunger sterbe, aber vorher ein Bad nehmen und sich umziehen möchte. Daraufhin schließt sie sich mit ihrem Koffer im Bad ein.

Die Begrüßung hat höchstens drei Minuten gedauert. Das ist wenig nach einer Trennung von anderthalb Monaten. Ich rufe Mr. Barrow an, um ihn zu fragen, ob ich Anita in die Cafeteria mitbringen darf. Aber mit Vergnügen, Doktor, sagt er mit seiner sanften und gleichzeitig harten Stimme, Kate und ich werden uns sehr freuen, sie an unserem Tisch zu begrüßen (eine Pause), Sie selbst natürlich auch (das in flüchtigem und nachlässigem Tonfall). Ich nehme an, Dave zieht es vor, am Tisch seiner kleinen Freunde Platz zu nehmen. (Und wie! haucht Dave, der den Hörer genommen hat.)

Dann lege ich auf und warte, und Dave wartet auch, wir sitzen beide schweigend da. Hin und wieder treffen sich unsere Blicke, dann schaut er weg. Ich weiß ganz genau, was in ihm vorgeht. Er hat schon gespürt, wie sehr mich dieser erste Kontakt enttäuscht hat; es belastet ihn meinetwegen, er selbst ist zufrieden.

Anita muß durch die Berührung mit dem Wasser wie Venus eine Wiedergeburt erlebt haben. Eine kleine Pause auf der Schwelle, um sich bewundern zu lassen. Herrliches mahagonifarbenes Haar, das sich wellig um den zierlichen und kräftigen Hals schmiegt, nur ein Hauch Schminke auf den Lippen und ein feiner Lidstrich um die grünen Augen, ein einziges, aber wertvolles Schmuckstück: eine goldene Halskette, die ihren hellen Teint zur Geltung bringt. Und ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihr gut steht und sicher ein Vermögen gekostet hat, bringt alles durch seine Einfachheit zur vollen Wirkung. Selbstsicher steht sie vor uns, in einer mir bis dahin unbekannten Haltung, so |148|als käme zum Bewußtsein ihrer Schönheit jetzt noch die Bedeutung ihrer Funktionen.

Ich ringe mir ein Kompliment ab. Und Dave schweigt. Sie übergeht diesen kühlen Empfang und verkündet mit stolzer Miene, Hunger zu haben, als ob ihr Hunger höher zu bewerten wäre als unserer. Majestätisch zieht sie uns in die Cafeteria hinter sich her. Sie geht so schnell, daß Dave und ich mit ihr kaum Schritt halten können.

Sie kommt mit einer guten Kopflänge Vorsprung in der Cafeteria des Schlosses an und erregt natürlich in dem vollen Saal großes Aufsehen. Jeder weiß, wer Martinelli ist (ich spreche von ihr, nicht von mir), welche hohen Funktionen sie bekleidet, wie selten sie hier erscheint und welche Hochachtung Mr. Barrow ihr bezeigt. Da ist er auch schon, er hat sich erhoben, kommt heran, seinen Schmerbauch vor sich herschiebend, den kahlen Schädel vorgebeugt und mit einem vor Respekt leuchtenden Gesicht. Da er sehr groß ist und Anita nur mittelgroß, sackt er vor ihr zusammen, wird rund, rollt sich zusammen und überhäuft sie mit seinen schmierigen Liebenswürdigkeiten.

Anita nimmt diese Ehrenbezeigungen gelassen auf. Sie läßt sich wie alle anderen ein Tablett geben, auf das dann die Serviererin am Schalter die Gerichte stellt. Während ich ihr bescheiden folge, begibt sie sich an den reservierten Tisch und lächelt huldvoll nach links und nach rechts, die vollendete Politikerin. Dave verläßt uns, und ich werde zwischen Anita und Kate Barrow gesetzt. Ich brauche mich bei der Unterhaltung nicht zu verausgaben. Mr. Barrow hat nur Augen und Ohren für meine Frau. Mrs. Barrow wagt mich weder anzusprechen noch anzusehen. Auf jeden Fall ist Anita der große Mann. Ich bin Begleitperson und zähle nicht.

Ich möchte jedoch, daß Anita von Zeit zu Zeit das Wort an mich richtet und mir zulächelt, wenigstens damit die Form gewahrt bleibt. Sie macht keine Anstalten dazu, vielleicht weil sie sich befangen fühlt wegen der allgemeinen Verlegenheit, die meine Gegenwart an ihrer Seite am Tisch auslöst, vielleicht auch deshalb, weil Mr. Barrow sie in diese müßige offizielle Konversation verstrickt hat. Um mich in gewisser Weise abzulenken, lasse ich unauffällig meine Blicke schweifen und stelle fest, daß Dave sich »mit seinen kleinen Freunden« mitnichten amüsiert.

Mrs. Pierce, die an einem Tisch der A.s sitzt, entgeht nicht |149|das geringste, sie unterzieht Anita mit Schnabel und Augen einer Musterung und bedenkt mich mit einem kurzen aufmunternden Lächeln, wobei sie den zu ihrer Rechten sitzenden Dr. Grabel pausenlos mit einem Schwall von Worten überschüttet. Links von mir lassen sich Crawford und Burage an einem Nachbartisch nieder. Während sie sich den Anschein geben, völlig in ihr Gespräch vertieft zu sein, verlieren sie uns in Wirklichkeit keine Sekunde aus den Augen. Irgendwann fange ich sogar einen Seitenblick von Burage auf Martinelli ab (ich spreche selbstverständlich von Anita), der nicht gerade Wohlwollen verrät.

Während des Essens tritt bei Anita zu meiner großen Überraschung eine plötzliche Wandlung ein, zwar kaum wahrnehmbar für die anderen, wohl aber für mich, der ich sie kenne. Ihre Gesichtszüge werden schlaff, und ein schwaches Zucken läßt für Sekunden ihre Oberlippe erzittern. Es ist das Anzeichen einer starken inneren Spannung, die, trotz ihrer bemerkenswerten Haltung und der anscheinend ungeteilten Aufmerksamkeit für Barrows leeres Gerede, von ihr Besitz ergriffen hat.

Unsere Umgebung fühlt sich durch unsere Ehe offenbar herausgefordert. Mehr als durch die anderen verheirateten PMs, denn an sie hat man sich gewöhnt: das Anstößige ihrer Beziehungen wird, wenn man es so nennen darf, durch die Umzäunung von Blueville in Schranken gehalten. Aber Anita kommt von draußen. Und die Tatsache, daß sie der Präsidentin so nahesteht und daß sie trotzdem die lange Reise von Washington nach Blueville gemacht hat, um sich von einem PM umarmen zu lassen, verstärkt die schwelende Mißbilligung. Ich spüre es an der Art, wie uns die alleinstehenden Frauen und die A.s ansehen und durch uns hindurchsehen.

Aus ebendiesem Grunde richtet Mr. Barrow kein einziges Wort an mich und geruht nicht einmal, mich wahrzunehmen. Von beiden Ehepartnern bin ich das sexistische Element und trage Schuld an dem Skandal. In der früheren Welt hätte meine Rolle der eines Callgirls entsprochen, das von einem Staatssekretär in aller Öffentlichkeit ausgeführt wird. Meine Anwesenheit am Tisch von Mr. Barrow und an der Seite Anitas wird zwar geduldet, aber als beispiellose Geschmacklosigkeit empfunden. Kate Barrow steht Höllenqualen aus, zumal sie ebenso wie ich errät, was Mr. Barrow unausgesprochen läßt. Sie sitzt mit glühendem Gesicht an diesem schmalen Tisch, an dem ich weder |150|eine Bewegung machen kann, ohne ihren Ellbogen zu berühren, noch meine Beine auszustrecken vermag, ohne sie anzustoßen. Sie muß sich wie ein sinnlicher, aber keuscher Puritaner fühlen, der unfreiwillig neben einer Frau von schlechtem Ruf sitzt und zwischen Gefühlen der Faszination und des Widerwillens hin und her gerissen ist. Sie vergeht vor Angst, daß sie vor allen Anwesenden und im Beisein ihres schwammigen Ehemanns mir gegenüber auch nur das geringste persönliche Interesse verraten könnte. Die Unglückliche hat sich dafür entschieden, auf ihren Teller zu starren oder, wenn sie den Kopf hebt, auf ihren Mann. Nie zuvor ist einer Schmalztonne, nie einem Leierkasten am Verhandlungstisch der Bürokratie größere Aufmerksamkeit zuteil geworden!

Ich fühle mich unendlich erleichtert, als ich mit Anita allein in meinem Zimmer bin. Dave ist im Bett. Wir haben kein Wort gewechselt, und während Anita sich schweigend auszieht, schreibe ich auf der Maschine einen Zettel, worin ich sie bitte, mit mir ein belangloses Gute-Nacht-Gespräch zu führen, solange ich die Abhöranlage nicht ausgeschaltet habe. Ich gebe ihr das Blatt, sie liest es, runzelt die Brauen, und ihrem Gesicht kann ich ansehen – sie hat eine schreckliche Laune –, daß die Schwierigkeit darin bestehen wird, in den nächsten Minuten selbst die banalste Konversation aufrechtzuerhalten.

Es gelingt uns trotzdem, mehr schlecht als recht, und mit größter Unlust von ihrer Seite. Anita fällt immer wieder in Schweigen, dem ich sie nur mühsam entreiße. Sie meidet meinen Blick und kehrt mir halb den Rücken zu. Sie, die sonst nackt mit mir ins Bett ging, streift den Pyjama über. Schließlich schalte ich die Abhöranlage aus und finde einen Eisblock in meinem Bett, den ich nicht einmal zu entkleiden vermag. Sie bleibt meinen Zärtlichkeiten gegenüber so unempfänglich und ist so starr, so verkrampft und so kalt, daß ich nach wenigen Minuten impotent bin. Dazu hat also die Wartezeit von anderthalb Monaten geführt: zu diesem kläglichen Versagen.

Ich stehe in einem Anfall von Wut auf. Nackt, frustriert und wütend renne ich im Zimmer hin und her und sage mit dumpfer, zornbebender Stimme:

»Wir hätten es uns sparen können, die Abhöranlage auszuschalten: Mr. Barrow wäre erbaut gewesen. Bravo, du bist jetzt völlig linientreu. Du hast das Tabu verinnerlicht.«

|151|»Ich habe überhaupt nichts verinnerlicht«, sagt Anita mit ausdrucksloser Stimme, die Hände im Nacken und auf die Decke starrend. »Weil du micht jetzt nicht nehmen konntest, schiebst du selbstverständlich alles auf mich.«

»Wie ein dreckiger Phallokrat!«

»Das habe ich nicht gesagt«, antwortet sie mit einer Ruhe, die mich zur Weißglut treibt, während ihr Blick durchs Zimmer schweift und mir ausweicht.

»Aber du hast es gedacht.«

»Ich habe nichts dergleichen gedacht«, sagt sie mit derselben unerschütterlichen Ruhe. »Und ich wiederhole, es ist nicht meine Schuld, wenn du mich nicht mehr begehrst.«

Ich gehe auf das Bett zu, völlig außer mir, und sage, mit Rücksicht auf Dave die Stimme dämpfend: »Wie kann ich eine Frau begehren, die nicht einmal ihre Pyjamajacke ausziehen will, um mit ihrem Mann zu schlafen.«

»Du brauchst es nur zu verlangen«, sagt sie mit einer so unverhohlenen Hinterhältigkeit, daß ich sprachlos bin. »Hier!« fügt sie hinzu, während sie die Jacke aufknöpft und sich ihrer mit militärischer Exaktheit entledigt. Danach legt sie sich wieder auf den Rücken, starr, die Arme am Körper ausgestreckt, als würde sie Habachtstellung einnehmen.

»Ich habe dir gehorcht. Bist du nun zufrieden?«

»Ich pfeife auf deinen Gehorsam«, sage ich, nehme die Schlafanzugjacke und schleudere sie ihr ins Gesicht.

»Danke für die Höflichkeit.«

»Aber natürlich! Was kann man schon von einem Sexisten erwarten? Herrschsucht! Arroganz! Brutalität!«

»Das habe ich nicht gesagt! Hör auf, mir Worte in den Mund zu legen, die ich nicht gesagt habe.«

»Aber gedacht! Sonst beweise mir das Gegenteil! Das hat die tägliche Propaganda in sechs Monaten aus dir gemacht: eine frigide Frau.«

»Ich bin nicht frigide«, sagt sie wütend. »Ist es vielleicht meine Schuld, wenn du nicht zu einer Erektion fähig bist?«

»Erektion! Bei einem Stück Holz!«

Sie sieht mich mit funkelnden Augen an.

»Ich bin kein Stück Holz, ganz im Gegenteil. Ich habe meine Gründe, dich diesbezüglich zu beruhigen.«

»Ja, weil es mit anderen in Washington besser geht! Mit den |152|intakten Greisen vielleicht? Mit Freundinnen? Oder mit einem Superdoll

»Wahrhaftig, Ralph, du bist nicht zu überbieten«, sagt sie. Schlagartig hat sie ihre Kaltblütigkeit wiedergewonnen und mustert mich unbeteiligt.

Nach der Provokation die Verachtung.

»Willst du damit sagen, daß ich einen solchen Sexisten verkörpere, wie man es dir beigebracht hat?«

»Die Szene, die du mir machst, ist der beste Beweis.«

»Na bitte! Endlich fällt es dir wie Schuppen von den Augen! Endlich siehst du Ralph Marinelli wie er wirklich ist! Du kennst ihn seit zehn Jahren und siehst endlich seinen Pferdefuß!«

Darauf erwidert sie gar nichts, und ich fühle das große, endgültige Schweigen nahen, das man nicht einmal mit dem Messer durchschneiden kann.

Ich ziehe meinen Pyjama wieder an, denn mir wird langsam kalt, und werfe den Morgenmantel über. Ich versuche nachzudenken, doch mein Verstand ist wie eine im Chaos rollende Feuerkugel. In dieser Sekunde hasse ich Anita, und für einen Augenblick lasse ich mich von meinem Haß fortreißen.

Nach solchem Auftritt glätten sich bei mir die Wogen immer. Ich setze mich auf den Bettrand, sehe Anita an und ergreife ihre Hand. Ich erwarte, daß sie sie zurückzieht, aber nein, sie wird sich nicht ins Unrecht setzen. Sie überläßt sie mir – regungslos. Meine Hand umklammert tote Finger, die niemandem gehören. Und das ist eine weitere Provokation. Die ins Gesicht geschleuderte Jacke, das war offene Gewalt. Doch gibt es auch die versteckte Gewalt: die Hand, die sich ergreifen läßt und den andern zurückstößt. Im Grunde ist diese Hand ein Symbol. Vorhin, als ich sie in meinem Bett umfing, hat sich Anita verweigert, während sie sich scheinbar hingab. Die Pyjamajacke, die Passivität, die unausgesprochene Weigerung: lauter versteckte kleine Abfuhren.

Gut. Meinerseits will ich diese Hand, die regungslos in meiner liegt, nicht mit Gewalt zurückstoßen. Ich lege sie sanft auf das Bettuch. Jetzt oder nie werde ich meine Verhaltenstherapie anwenden. Ich erhebe mich und gehe im Zimmer auf und ab, diesmal aber ruhig, ohne Erbitterung, ohne die Fäuste in den Taschen meines Morgenmantels zu ballen. Ich will Anita |153|nicht hassen. Ich will auch kein Weiberfeind werden. Wenn ich eine Lehre gezogen habe, so ist es die, daß man den richtigen Feind erkennen muß. Der Feind ist nicht Anita, auch nicht ihr Geschlecht. In diesem Strudel, in dem augenblicklichen Durcheinander gibt es einen Fels, an den ich mich klammere: meine Zuneigung zu Anita. Ich bleibe dabei: Anita ist unmöglich eine andere geworden. Ich habe es ihr gesagt: ich glaube nicht, daß den Menschen, die man liebt, plötzlich Pferdefüße wachsen.

Ich lasse den Abend seit Anitas Ankunft bis zu dem gegenwärtigen Augenblick noch einmal vor mir ablaufen. Schließlich werden mir die Zusammenhänge klar. Und mir geht ein Licht auf.

Ich setze mich neben sie auf das Bett und sage, sanft, jedoch ohne wieder ihre Hand zu ergreifen: »Wirst du mich verlassen, Anita?«

Langes Schweigen.

»Ja.«

»Bist du deshalb an einem Mittwoch gekommen?«

»Ja.«

»Du wolltest es mir nicht schreiben und hast es vorgezogen, es mir persönlich zu sagen?«

»Ja.«

Ich lasse einen Augenblick verstreichen. Ich brauche Zeit, um meiner Stimme Herr zu werden.

»Also gut, ich bin dir dankbar dafür, du hast es dir nicht leicht gemacht.«

»Ich wollte es dir erklären …«

Es will mir nicht in den Kopf. Ich kann es einfach nicht glauben, daß ich einen Teil meines Lebens verlieren soll. Und ich stelle ihr meine erste, die angstvollste Frage.

»Verläßt du mich endgültig?«

»Ich weiß es nicht.«

Schweigen.

»Kommt diese Entscheidung von dir?«

»Selbstverständlich nicht.« Dann fährt sie leidenschaftlich fort: »Hör zu, Ralph, wie die letzten sechs Wochen, in denen ich dich nicht gesehen habe, verlaufen sind. Montag für Montag gehe ich zu Bedford und frage sie, ob sie etwas dagegen hat, daß ich das kommende Wochenende in Blueville verbringe. |154|Aber natürlich nicht, Anita, antwortet sie mit sanftem Lächeln und fügt süßsauer hinzu: Alles in allem ist das wie ein Rauschgift – Sie können es nicht entbehren.«

»Das kann nicht sein!«

»Doch. Dann kommt der Freitagabend, und die Sekretärin von Bedford ruft mich zu Hause an. Sie sagt, es sei dringend, Martinelli, die Präsidentin erwartet Sie am Wochenende in Camp David, um zu arbeiten.«

»Aber das ist ja infam! Warum macht sie das? Aus Eifersucht?«

»Nein, Gott sei Dank hat sie in dieser Beziehung keine Schwäche für mich. Bedford handelt aus Überzeugung.«

»Und du teilst diese Überzeugung?«

»Was die Männer betrifft, keineswegs.«

Ich sage mit einem verkrampften Lächeln: »Du hast dich verändert.«

»Nein«, sagt sie leidenschaftlich. »Ich habe mich nicht verändert. Die Befreiung der Frau ist die eine Sache, der Haß auf den Mann eine andere. Der Haß auf den Mann ist schlicht und einfach psychopathisch. Auf solchen Irrsinn habe ich mich niemals eingelassen.«

»Bis auf vorhin.«

Das ist mir herausgerutscht, und ich bedaure es sofort. Anita sieht mich an.

»Entschuldige, Ralph. Ich war eiskalt. Ich wußte nicht, wie ich dir sagen sollte, daß ich dich verlasse.«

Ich lege meine Hand auf ihre Hand.

»Vergiß diese blödsinnige Bemerkung. Sprich weiter. Wir waren bei der Sabotierung deiner Wochenenden stehengeblieben. Du hast dreimal abgesagt, daraus schließe ich, daß sich die inszenierten Dringlichkeitsfälle dreimal wiederholten.«

Sie preßte die Lippen aufeinander.

»Mit Abwandlungen. Bedford legte eine immer weniger verschleierte Feindseligkeit an den Tag. Und auch mein Einfluß schwand zugunsten Deborah Grimms. Ich war offensichtlich von der Linie abgewichen. Ich kam mir langsam wie ein Verräter vor.«

»Und das letzte Wochenende?«

»Am letzten Wochenende fiel die Entscheidung. Freitag ließ mich Bedford in ihr Büro kommen. Honigsüß lächelnd eröffnete |155|sie mir, daß sie mich zum Botschafter der USA in Frankreich ernannt habe.«

»Aber Anita, das ist doch ein großartiger Aufstieg.«

»Ja und nein. Es stimmt schon, die Aufgabe, die mich erwartet, ist verlockend, aber gleichzeitig ist es eine Maßnahme, mich kaltzustellen.«

»Das ist das Gift?«

»Ein doppelt wirkendes Gift. Ich zitiere Bedford: ›Anita, wenn Sie an Ort und Stelle sein werden, gibt es für Sie nur noch kurze Flüge Paris–Washington und zurück. (Eine Pause.) Und kein Blueville mehr. Mit dieser Geschichte muß Schluß sein.‹«

»Nicht zu fassen! Hast du sie gefragt, weshalb?«

»Sicher. Das war ihre Antwort: ›Mir scheint, daß ein verheirateter Diplomat, der für seinen Ehepartner Zuneigung empfindet, einen erheblichen Unsicherheitsfaktor darstellt.‹«

»Genau das sagte man vor nicht allzulanger Zeit über die homosexuellen Diplomaten.«

»Ich habe sie nicht daran erinnert. Ich habe mir vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit ausgebeten und ihr am Sonnabend gesagt, daß ich einverstanden wäre. Unter der Bedingung, daß ich dir meine Entscheidung persönlich mitteilen darf. Sie hat alles unternommen, damit ich auf diese letzte Reise verzichte, doch ich habe nicht nachgegeben. Und sie selbst hat den Mittwoch festgelegt. Übermorgen reise ich nach Paris ab.«

Mir versagt die Stimme.

»Aber Anita, das ist eine Erpressung, du hättest ablehnen sollen.«

Anita sieht mich an, wendet dann die Augen ab und sagt mit müder und leiser Stimme: »Ralph, du lebst in Blueville und machst dir keine Vorstellung von dem Regime, unter dem wir leben.« Und als ob die Abhöranlage nicht ausgeschaltet wäre, fährt sie noch leiser fort: »Wenn ich abgelehnt hätte, wäre ich auf eine schwarze Liste gesetzt worden und hätte nur sehr schwer wieder Arbeit gefunden.«

»Du?«

Sie nickt.

»Ja, ich.«

»In diesem Fall hättest du mit mir in Blueville leben können«, sage ich lebhaft. »Hier leben doch verheiratete PMs.«

|156|»Bedford hat eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen: sie gab mir zu verstehen, daß du dann Blueville verlassen müßtest.«

Ich werfe die Arme hoch.

»Aber wie hätte sie so etwas bewerkstelligen sollen? Blueville ist ein Privatunternehmen. Und ich leiste in Blueville eine nützliche Arbeit.«

»Bedford interessiert sich für diese Arbeit nicht im geringsten.«

Ich sehe sie an. Ich bin sprachlos.

»Woher weißt du das?«

»Wenn ich hierherkomme, übergibt mir Mr. Barrow für das Weiße Haus jedesmal eine geheime Verschlußsache über die Arbeit von Stienemeier und Jespersen. Niemals Berichte über deine Arbeit. Hör zu, Ralph, denk ein bißchen logisch: weshalb sollte sich Bedford für das Überleben der Männer einsetzen?«

Schweigen. Dieser Satz ist äußerst wichtig: ich werde morgen weiter darüber nachdenken. Im Augenblick bleibe ich beim Dringlichsten.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich auch Helsingforth nicht für meine Arbeit interessiert. Ich habe bei ihr meine Kündigung eingereicht, sie hat sie zurückgewiesen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagt Anita seufzend. »Die Ablehnung deiner Kündigung war Teil eines Kuhhandels an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden.«

»Willst du damit sagen, daß Bedford diese Ablehnung diktiert hat?«

»Ja, sie hat mich eingeschaltet und gesagt: ›Anita, wenn Sie wollen, daß Helsingforth die Kündigung Dr. Martinellis ablehnt, rufen Sie sie an. Fahren Sie nicht hin.‹ Und das war vor zwei Wochen.«

Eine lange Pause. Erregt fahre ich fort: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Helsingforth dabei nicht mitzureden hat! Wenn ich das Serum gegen die Enzephalitis 16 entdecke, wird die Firma Helsingforth bei dessen kommerzieller Verwertung ein Riesengeschäft machen.«

Anita zuckt die Achseln.

»Es ist nicht sicher, daß sie es kommerziell verwerten kann. Wir stecken in einer Wirtschaftskrise. Es könnte schlimmer sein, aber trotzdem müssen täglich Betriebe stillgelegt werden. |157|Helsingforth ist zu drei Vierteln ruiniert; von dem pharmazeutischen Imperium, das ihr Mann gegründet hatte, ist fast nichts übriggeblieben. Ohne die von Bedford gezahlten Subventionen müßte Helsingforth Blueville schließen.«

»Willst du damit sagen, Bedford hat Helsingforth durch ihre Subventionen in der Hand?«

»Gewissermaßen ja. Aber so einfach ist es auch wieder nicht. Die beiden Frauen sind aufeinander angewiesen. Helsingforth hat Shermans Wahlkampagne großzügig finanziert. Vielleicht weiß sie auch das eine oder andere über Bedford, vor allem über ihre Beziehungen zu Sherman.«

Schweigen. Ich sehe Anita an. Ich versuche, eine unbegreifliche Situation zu begreifen.

»Wenn ich recht verstehe, schützt du mich durch deine Entscheidung für Paris vor einer Initiative Bedfords, aber nicht vor einer Initiative Helsingforths. Sie behält einige Handlungsfreiheit.«

»Ja«, sagt Anita, »im Prinzip ist es so.«

Als ich darüber nachdenke, bin ich erstaunt, Anita gegenüber mit solcher Selbstverständlichkeit eine Formulierung wie »du schützt mich« verwendet zu haben. Vor zwei Wochen hatte ich meine Kündigung eingereicht und war stolz auf meinen Mut, stolz darauf, Helsingforth »gezwungen« zu haben, sie abzulehnen … Welch kindliches Gehabe! In Wirklichkeit war ich nur ein frecher kleiner Junge, der straflos ausging, weil er »geschützt« wurde. Und mir wird schlagartig klar: mein freier Wille ist nur eine Illusion. Man hat aus mir eine Marionette gemacht, an deren Fäden drei Frauen ziehen: Bedford, Helsingforth, Anita. Von diesen drei Frauen bringt mir nur eine einzige Wohlwollen entgegen: diejenige, die wegfährt, um »mich zu schützen«.

In diesem Augenblick fühle ich kaum noch den Schmerz um Anitas Abreise. Mich trifft etwas anderes, was noch schrecklicher ist: die Demütigung. Unter den Achseln, im Rücken, auf der Stirn bricht mir der Schweiß aus. In dieser Enge ist mir der Schweißgeruch lästig. Ich fürchte, daß er auch Anita stört. Ich stehe auf, ziehe meinen Morgenmantel aus, gehe ins Bad und dusche mich. Dann reibe ich mich mit Eau de Cologne ein. Während ich die Flasche halte, stelle ich fest, daß meine Hände zittern.

|158|Als ich aus dem Bad komme, rät mir Anita, die Abhöranlage wieder einzuschalten, um die soeben geführte Aussprache zu wiederholen. Ich stimme zu. Es ist immer gut, »die Horcher zu belohnen«, wie Stien sagt.

Diese »Szene«, deren Drehbuch wir vorher festlegen, enthält dennoch eine Doppeldeutigkeit, die mich in Erstaunen setzt. Bisweilen erscheint mir Anita aufrichtiger als zuvor, besonders als sie sagt: »Ich brauche dich nicht daran zu erinnern, wer ich bin, Ralph. Ich bin vor allem eine career woman1, was nach meiner Auffassung einschließt: keinen Haushalt, keinen Mann, kein Kind.«

»Wieso keinen Mann?« frage ich in dem Glauben, ihr Spiel mitzumachen.

»Keinen Mann im klassischen Sinne des Wortes«, sagt sie mit einer Widerspenstigkeit, die mir nicht geheuchelt zu sein scheint. »Ralph, hast du unsere Vereinbarungen bereits vergessen? In Wirklichkeit haben wir mit gegenseitigem Einverständnis den Sinn der Ehe zerstört, auch wenn wir nach außen die legale Bindung aufrechterhielten.«

In einem anderen Zusammenhang scheint Anita von ihren künftigen Funktionen mit mehr Feuer zu sprechen, als es das Drehbuch erfordert.

»Ich habe einen Gipfel erreicht, Ralph. Es ist anstrengend, doch gleichzeitig berauschend, zu den drei oder vier Personen zu gehören, die das Vertrauen der Präsidentin besitzen. Ich habe gelernt, Ralph. Ich habe sehr viel gelernt. Und ich sage es ohne Überheblichkeit: ich bin der Aufgabe gewachsen, die man mir anvertraut …«

Ich weiß nicht mehr genau, was ich antworte, sinngemäß wahrscheinlich: du opferst deinen Mann deiner Karriere. Übrigens eine blödsinnige Bemerkung: wie viele Männer haben ihre Frau der Karriere geopfert, nicht indem sie sie verließen, sondern indem sie sie praktisch aus ihrem Leben ausschlossen! Dennoch, während ich in dieser fingierten Aussprache recht und schlecht meine Rolle spiele, sehe ich Anita an und denke: da ist noch mehr als die Diktatur und die Erpressung Bedfords, mehr als die Notwendigkeit, mich zu schützen. Hier wird der Ehrgeiz eines ganzen Lebens in die Waagschale geworfen.

|159|Schließlich kann der Vorhang in unserer Komödie fallen. Wie vereinbart, biete ich Anita die Scheidung an. Sie lehnt ab. In ihren Augen ist die Scheidung »genauso altmodisch wie die Ehe«. Wir einigen uns darauf, füreinander geschwisterliche Zuneigung zu bewahren. Aber die fleischlichen Bande sind endgültig zerschnitten. Anita wird mich nicht mehr in Blueville besuchen. Wir werden einander schreiben.

Daraufhin schalte ich die Abhöranlage aus und habe kaum mein Bett erreicht, als sich Anita in meine Arme wirft, warm und bebend. Ich glaube, sie will sich Genugtuung verschaffen. Ich nicht. Ich fühle mich durch meine Abhängigkeit und durch die uns aufgezwungenen Lügen gedemütigt. Trotzdem reagiere ich, wie sie es wünscht: mein Körper scheint allein seinen eigenen Entscheidungen folgen zu wollen.

Nachdem sich der Sturm gelegt hat, finde ich dennoch keine Ruhe. Ich liege auf dem Rücken und habe die Augen im Dunkeln weit aufgerissen. Ich grolle Anita aus zweierlei Gründen, weil sie sich verweigert und weil sie sich hingegeben hat. Nach meiner Meinung hätten wir uns bei unserem traurigen Abschied diese Umarmung sparen können.

Wenn der Zweifel einmal da ist, frißt er an allem. Ich frage mich jetzt, ob mir Anita unsere Trennung nur aus Feinfühligkeit persönlich mitteilen wollte. Mit ihrer eigenen Stimme oder mit ihrem eigenen Körper? Alles deutet darauf hin, daß sie diese letzte große Reise nicht umsonst hatte machen wollen. Erstaunlich, welche Gewalt sie über ihren Körper hat, der ein Eisklumpen oder ein glühender Ofen sein kann. Aber immer hat sie sich und die Situation in der Hand.

Im übrigen ist ihre innere Spannung, ihre Nervosität wie weggeblasen. Neben mir liegt eine ganz andere Frau: ein entspannter Geist in einem zufriedenen Körper. Zufrieden durch meinen Anteil. Lassen wir die guten Dinge des Daseins nicht ungenutzt, auch wenn der andere im Morgengrauen aus deinem Leben verschwindet …

Ich muß einige Augenblicke eingeschlafen sein. Als ich aufwache, bin ich allein im Bett. Ich höre in der Küche Geräusche, und als ich nachsehe, sitzt Anita, nur mit der Pyjamajacke bekleidet, an dem kleinen weißen Tisch. Sie ist dabei, ziemlich hastig eine große Büchse Thunfisch hinunterzuschlingen, die sie in meinem Kühlschrank gefunden hat.

|160|»Setz dich, Ralph«, fordert sie mich auf, an meinem eigenen Tisch Platz zu nehmen. »Ich habe mir erlaubt, den Thunfisch aufzumachen. Willst du auch?« fragt sie, fast bedauernd.

»Nein, ich habe keinen Hunger.«

»Ich ja«, sagt sie erleichtert, daß sie den Fisch nicht mit mir teilen muß. »Wo hast du diesen Thunfisch her?«

»Aus der Kantine. Ich habe den Eindruck, man will uns allmählich daran gewöhnen, daß wir zu unserer Kost selbst beizusteuern haben, obwohl man uns für die Mahlzeiten täglich einen erheblichen Satz von unseren Gehältern abzieht.«

Doch was in Blueville geschieht, berührt Anita nicht. Sie interessiert sich lediglich dafür, was sie in Paris zu erwarten hat. Um mir klarzumachen, welche bedeutende Rolle sie dort spielen wird, erläutert sie mir mit vollem Mund die internationale Lage. Ihr Bericht ist für mich äußerst interessant. In den Zeitungen, die wir in Blueville bekommen, steht nichts, absolut nichts darüber, was jenseits unserer Grenzen geschieht. Man könnte meinen, daß die Chefs der Auslandsredaktionen der großen Zeitungen gleichzeitig mit ihren Sonderkorrespondenten gestorben und die großen Nachrichtenagenturen verschwunden sind. Absolutes Schweigen.

Ein gewolltes Schweigen, sagt mir Anita, denn das Land hat sich noch nie in einer so schwierigen Situation befunden. Gleich bei Ausbruch der Epidemie starben die Marineinfanteristen, die Piloten und Soldaten, die das Pentagon mit großem finanziellen Aufwand auf Hunderten von Stützpunkten in allen Teilen der Welt stationiert hatten, in solchem Ausmaß und in so kurzer Zeit, daß alle übrigen abgezogen werden mußten. Man wollte wenigstens verhindern, daß das gesamte Material, über das sie verfügten, in die Hände der Einheimischen fiel. Trotzdem ließ sich nicht vermeiden, Flugzeuge, Geschütze, Panzer und sogar supermoderne, in Thailand gelagerte Atomwaffen zurückzulassen. Und man fragt sich, ob unsere ehemaligen Verbündeten sie nicht an die Chinesen verkauft haben.

Die politischen Folgen dieses Rückzugs waren unübersehbar. In den darauffolgenden acht Tagen stürzten alle vom State Department aktiv unterstützten ausländischen Regierungen, insbesondere in Südostasien und Lateinamerika. An ihre Stelle traten nationalgesinnte Regimes, die zwar längst nicht alle |161|kommunistisch sind, aber eines gemeinsam haben: Ressentiment und Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten.

Darüber hinaus blickt das Ausland, angefangen mit dem benachbarten Kanada, beunruhigt und ablehnend auf das Bedford-Regime, dessen diktatorischer Charakter häufig auf harte Kritik stößt. In der kanadischen Presse, die sich ihre Freiheit bewahrt hat, wird Bedfords antimännlicher Sexismus in versteckter Form mit dem Rassismus der Nazis verglichen. Die gegenüber der Bedford-Administration am kritischsten eingestellten kanadischen Zeitungen werden zu Tausenden an verschiedenen Punkten der Grenze von Schmugglern eingeschleust und gehen in den Vereinigten Staaten heimlich von Hand zu Hand, obwohl sie verboten sind.

Die Situation in Europa ist für das Weiße Haus noch besorgniserregender. Die Epidemie ist dort später ausgebrochen, ihre Ausbreitung eher bekämpft worden. Durch einen Cordon sanitaire hat sich Europa schnell von den USA abgeriegelt. Die Vereinigten Staaten mußten ihre in Deutschland stationierten Streitkräfte abziehen. Die westeuropäischen Nationen standen der UdSSR plötzlich allein gegenüber. Nach dem ersten Schrecken beruhigten sie sich allmählich, und es kam ein Modus vivendi zustande, der sich für Europa als überaus nützlich erwies. Die von einer Art französisch-deutschem Kondominium beherrschte Europäische Gemeinschaft ist im Begriff, sich den Markt der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten des Ostens zu erschließen.

Was Frankreich betrifft, macht Anita auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: es ist das einzige westeuropäische Land, dessen Präsident noch ein Mann ist. Er heißt Emmanuel Defromont. Im nächsten Monat wird er achtundachtzig Jahre alt. Uns Amerikanern scheint das ein ziemlich hohes Alter zu sein … Jedoch hat Frankreich in Augenblicken der Krise immer gern Greise an die Spitze gestellt. Als Clemenceau 1917 an die Macht kam, war er sechsundsiebzig Jahre alt. Pétain wurde mit vierundachtzig Staatschef, und de Gaulle trat mit neunundsiebzig Jahren zurück. Die Vorliebe für das Greisenalter gehört zu den beständigsten politischen Traditionen Frankreichs, unterstreicht Anita.

Als die Epidemie in Frankreich auftrat, fiel sie mit den Präsidentschaftswahlen zusammen, und Defromont wurde auf Grund seiner politischen Erfahrung und seines Alters gewählt. Nach |162|seiner Wahl löste er unverzüglich die Abgeordnetenkammer auf und schrieb Neuwahlen aus. Doch gestattete er den Abgeordneten nicht, ihre Vertreterinnen selbst zu bestimmen. Das überließ er den Wählern jedes Wahlbezirks, wo es jeweils zwei völlig voneinander unabhängige Abgeordnete gab, der eine männlichen, der andere weiblichen Geschlechts. Die weiblichen Abgeordneten vertraten meist eine konservativere Tendenz, womit der gerissene Defromont gerechnet hatte. Er war sich darüber im klaren, daß er in der Kammer nur über eine schwache Stimmenmehrheit verfügte, und hoffte, daß seine zunehmend auf den Frauen beruhende Mehrheit durch das Sterben der Männer wachsen würde. Defromont wußte, wie stark der Vaterkult bei den Französinnen seit de Gaulle verwurzelt war.

Alles verlief erwartungsgemäß. Als Chef eines Präsidialregimes, das sich auf eine ihm bedingungslos ergebene Mehrheit stützte, verfügte Defromont schließlich über genausoviel Machtbefugnisse wie Bedford. Er gebrauchte sie aber nicht auf die gleiche Weise. Er tastete die individuellen Freiheiten nicht an und respektierte insbesondere die Pressefreiheit. Nichtsdestoweniger zog ihn die Presse in den Dreck und kritisierte überaus böswillig alles, was er tat, darunter auch die drakonischen, letzten Endes aber recht wirksamen Maßnahmen, die er getroffen hatte, um die Epidemie in Frankreich einzudämmen.

Defromont war groß und stattlich, hatte breite Schultern, welliges graues Haar und einen schneeweißen Bart. Er ähnelte tatsächlich Gottvater oder zumindest dem Bild, das man sich im Volk von ihm macht. Aber er war auch ein typischer Franzose, hatte eine ausgesprochene Vorliebe für gutes Essen, für gute Weine, für Frauen, für Zitate klassischer Autoren und für Reden. Allerdings liebte er alles in den rechten Maßen, und die Mäßigung war das Kriterium seiner Urteile. Daher seine ausgeprägte Antipathie gegen Bedford.

Für Defromont verkörperte die amerikanische Präsidentin die nicht zu überbietende Maßlosigkeit und den Gipfel des Exzesses. Privat erinnerte er immer wieder an jene Phase aus Bedfords Karriere, da sie in Washington mit einem Plakat durch die 14. Straße zog, auf dem zu lesen stand, daß sie lesbisch sei. Nicht, daß Defromont, der kultivierte Hellenist, irgendwelche Feindschaft gegenüber den Homosexuellen hegte. Im Gegenteil, er hatte eine aus dem Jahre 1945 stammende Verordnung annullieren |163|lassen, die sie in Frankreich unter Strafe stellte. Doch fand er es in höchstem Grade geschmacklos, auf der Straße sein eigenes Sexualleben auszuposaunen. »Stell dir vor, Constance«, sagte er zu seiner Frau, »Napoleon wäre durch die Straßen Ajaccios mit einem Schild gezogen: Ich laß am liebsten an mir lutschen! Nicht einmal die Korsen hätten ihn ernst genommen.«

Wir haben diese Einzelheiten von der Zimmerfrau Madame Defromonts. Diese Agentin hieß Agnes. Sie hat uns damals sehr große Dienste geleistet; in der Folge aber erfaßte sie Zuneigung zu dem alten Mann. Sie beichtete ihm alles, lief zu ihm über und speiste uns mit falschen Informationen ab.

Als die Statistiken den Nachweis erbrachten, daß Frankreich seit Ausbruch der Enzephalitis 16 unvergleichlich geringere Verluste an männlichem Leben als die Vereinigten Staaten und sogar als die übrigen europäischen Länder hatte, trat Defromont, ohne das Ende der Epidemie abzuwarten, mit der Behauptung auf, er habe Frankreich gerettet. Nicht zufrieden damit, Gottvater zu ähneln, hielt er sich schließlich für Gottvater – ohne jedoch seinen Sinn für Humor und seinen historischen Spürsinn einzubüßen. Darin ist er wie ein Fuchs, sagt Anita. Defromont hat allen benachbarten Staaten eine bestimmte Auffassung von Frankreich »verkauft« und sie von der Überlegenheit seines Landes in allen Dingen überzeugt. Sogar die Deutschen schwimmen jetzt in seinem Kielwasser. Kurzum, was gut für Frankreich ist, ist gut für Europa! Und wenn die Dinge weiter einen solchen Verlauf nehmen, wird es Defromont – dank seinem Stil! – gelingen, ein europäisches Europa unter französischer Vorherrschaft zu schaffen: eine Perspektive, die für uns nichts Erfreuliches hat.

Zwischen uns und Defromont schwelte der Konflikt also schon. Seltsamerweise kam er wegen Kuba zum Ausbruch.

Als die Epidemie die US-Armee zu dezimieren begann, zog Bedford, wie überall, ihre Truppen auch aus Guantánamo ab, jenem kubanischen Stützpunkt, den die USA zu Beginn des Jahrhunderts »übernahmen«, nachdem sie die Insel vier Jahre lang militärisch besetzt hatten. Bedford betonte, der Rückzug sei zeitweilig, die USA würden trotz allem nicht auf ihre Rechte verzichten. Aber selbstverständlich faßte Fidel Castro das anders auf. Seit 1959 schon forderte er die Rückgabe dieses Teils seines Territoriums, und sobald die Basis geräumt |164|war, ließ er sie von den revolutionären bewaffneten Kräften besetzen. Bedford protestierte: Castro verletze den Vertrag von 1903, die Basis müsse zumindest entmilitarisiert bleiben.

Fidel Castro antwortete in einer Rede, die er auf der Plaza de la Revolución in Havanna zu Füßen jener Säule hielt, die zu Ehren José Martís errichtet worden war. Er sagte, er kenne das »Monstrum« (er meinte die USA) sehr genau, auch wenn er nicht wie José Martí »in seinen Eingeweiden gelebt« habe; infolgedessen kenne er seine Raubgier. Er unterstrich, daß man durchaus alle vier Jahre den amerikanischen Präsidenten auswechseln könne, einen »Demokraten« gegen einen »Republikaner«, einen blonden gegen einen dunkelhaarigen, einen großen gegen einen kleinen, und daß man sogar sein Geschlecht auswechseln könne (Gelächter); eines aber ließe sich durch solche Wahlen nicht auswechseln: der Yankee-Imperialismus! (Stürmischer Beifall.)

Fidel Castro, der gerade eine Grippe überstanden hatte und sich an jenem Tage sehr erschöpft fühlte, sprach nur vier Stunden. Seine Schlußfolgerung war unnachgiebig und geschickt; durch die Besetzung Guantánamos habe er lediglich auf einem Teilgebiet kubanischen Bodens Kubas Souveränität wiederhergestellt. Gleichzeitig verkündete er feierlich, der Stützpunkt Guantánamo werde in Zukunft keiner ausländischen Macht, auch keiner befreundeten, verpachtet oder überlassen werden.

Dieser Vorsatz zielte auf die UdSSR und sollte das Pentagon beruhigen, doch das Pentagon glaubte niemandem, nicht einmal sich selbst. Bedford drängte darauf, gegenüber dem führenden Mann Kubas Repressalien anzuwenden. Möglicherweise hätte Bedford darauf verzichtet, wenn nicht einer unserer Agenten in Havanna uns eine Tonbandaufnahme der Rede Fidel Castros verschafft hätte – zum Nachteil der Tauben aus Bedfords Umgebung.

Bedford hörte die Rede und gleichzeitig die Simultanübersetzung. Als Insel war Kuba leichter als der übrige Teil Lateinamerikas vor der Epidemie zu schützen, und nach dem Stimmengewirr der Kundgebungsteilnehmer in Havanna zu schließen, war dort offensichtlich eine Unzahl Männer versammelt. Das Gebrüll dieser entfesselten Mannsbilder hatte auf Bedford eine verheerende Wirkung. Sie war niedergeschmettert von Castros Stimme und der von ihr ausstrahlenden Supermännlichkeit, |165|obendrein entsetzte sie die Anspielung auf ihr Geschlecht und das höhnische Gelächter, mit dem diese Versammlung der Phallokraten darauf reagierte. Also stimmte sie dem Plan des Pentagon zu, Kuba zu bombardieren, »um es zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen«.

Vergeblich führte ich ihr die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens vor Augen, sagt Anita. Letzten Endes sei Guantánamo kubanisch, und wir hätten uns auch nach der Wiederbesetzung Taiwans durch China nicht gerührt. Man werde uns erneut vorwerfen, die großen Länder rücksichtsvoll zu behandeln und über die kleinen herzufallen. Aber nachdem Bedford die Stimmen Castros und der Kubaner gehört hatte, wurde sie zum Opfer einer antimännlichen Hysterie, die ich nicht mehr unter Kontrolle zu halten vermochte. Sie überging meine Ratschläge mit allen Konsequenzen, die ich leider vorausgesehen hatte. Die US-Luftwaffe verlor die Hälfte ihrer Piloten, Havanna wurde eine Märtyrerstadt, Fidel Castro ein Held, und die ganze Welt protestierte. Lediglich England bildete eine Ausnahme, weil es große Befürchtungen hatte, der Präzedenzfall Guantánamo könnte Spanien ermutigen, sich Gibraltar zurückzuholen, was Spanien dann übrigens auch tat, ohne daß ein Schuß fiel.

Der energischste Protest gegen die Bombardierung Havannas kam von Defromont. Obwohl eingefleischter Antikommunist, hegte er doch Sympathien für Fidel Castro: Unter der marxistischen Schale hatte er einen Bruder lateinischer Abstammung erkannt, der von den Angelsachsen verfolgt wurde wie einst Jeanne d’Arc von den Engländern und de Gaulle von den Amerikanern. Darüber hinaus hatte sich Defromont eine gewisse Ursprünglichkeit der Empfindung bewahrt, er redete gern und hatte die entsprechende Begabung. Im Unterschied zu den amerikanischen Präsidenten, die im allgemeinen auf einen Gehirn-Trust zurückgreifen, um ihre Reden ausarbeiten zu lassen, haben die französischen Präsidenten auf diesem Gebiet ihre Stärke: sie sind vollgepfropft mit Bildung und bersten vor Beredsamkeit. Defromont schrieb seine Reden mit der Feder, lernte sie auswendig und trug sie mit unvergleichlicher Würde vor, unter zuckenden Blitzen wie Moses auf dem Berge Sinai. Sein hohes Alter hatte ihm nichts von seiner Bissigkeit genommen, und er hielt gegen Bedford eine vernichtende Rede, die ausführlich in der Weltpresse zitiert wurde, auch in den Zeitungen, |166|die Bedauern darüber heuchelten. Wenn ein amerikanischer Präsident auf dem internationalen Schauplatz einen Rüffel einsteckt, ist die Schadenfreude unter seinen engsten Alliierten bekanntlich am größten.

Aber alles in allem ist eine Rede nichts weiter als eine Rede, und die Affäre hätte nichts weiter als einen unerfreulichen diplomatischen Notenwechsel nach sich gezogen, wenn nicht jemand im Pentagon eine erstaunliche Initiative ergriffen hätte. Zur Entschuldigung der Pentagon-Generäle muß gesagt werden, daß sie seit Ausbruch der Epidemie in Verzweiflung und Frustration lebten. Sie verfügten über das perfektionierteste Kriegsmaterial, doch würden sie bald niemand mehr haben, um es bedienen zu lassen. Der Bestand der drei Waffengattungen schmolz von Tag zu Tag mehr dahin, und die Generäle selbst starben doppelt so schnell wie die Zivilisten – vielleicht war ihre Spermatogenese reger, weil sie weniger zu tun hatten, mutmaßte Anita.

Eine Tatsache steht auf jeden Fall fest, ohne Zustimmung und ohne Wissen der Präsidentin, der Staatssekretärin für Verteidigung und der drei Generalstabschefs des Pentagon organisierte ein Luftwaffengeneral einen Miniüberfall von drei Flugzeugen auf Havanna, bei dem die französische Botschaft von einer Laserbombe zerstört wurde und der Botschafter ums Leben kam.

Defromont schleuderte von Frankreich aus Blitz und Donner. Er hielt eine zweite flammende Rede gegen die USA, in der er von »barbarischem Attentat«, »Kriegsverbrechen« und »vorsätzlichem Mord« sprach. Mit beachtlichem Geschick – oder weil er vielleicht gut informiert war – verzichtete er darauf, den zweiten Bombenangriff Bedford zur Last zu legen, und forderte lediglich Entschuldigungen, Schadenersatz und die Bestrafung der Schuldigen.

Ich vertrat die Ansicht, man sollte dem wildgewordenen Greis Genugtuung verschaffen, sagt Anita. Die Besatzungen waren tot, denn die kubanische Abwehr hatte alle drei Flugzeuge abgeschossen, und die Verantwortlichen selbst würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach bald zu den Piloten ins Jenseits gesellen, weil sich das Pentagon tagtäglich entvölkerte.

Bedford schlug meine Ratschläge erneut in den Wind. Sie fürchtete, sich als Frau lächerlich zu machen, wenn sie zugab, |167|daß einer ihrer Militärs über ihren Kopf hinweg einen Privatkrieg gegen Frankreich führte. Ich hielt ihr vergeblich entgegen, daß es seit Truman keinem amerikanischen Präsidenten gelungen war, völligen Gehorsam von den Generälen zu erlangen, und daß allen Regierungen der Welt diese kleine Schwäche unserer Exekutive bekannt sei. Bedford zog es vor, das Pentagon zu decken, und verstrickte sich in kindische Lügen: der zweite Bombenangriff sei eine »Schutzmaßnahme« gewesen, um einem Angriff der Luftstreitkräfte Castros gegen Miami zuvorzukommen. Außerdem sei die französische Botschaft höchstwahrscheinlich von einer Sam-Rakete zerstört worden, die ihr Ziel verfehlt hatte. In diesem Zusammenhang äußerte sie lauwarm ihr »Bedauern«.

Defromont hielt eine dritte, noch viel bissigere Rede, in der er voller Verachtung auf die Unglaubwürdigkeit der Behauptungen des Weißen Hauses hinweis. Außerdem beschränkte er sich diesmal nicht auf Worte. Er berief seinen Botschafter ab, gab dem US-Vertreter in Paris zu verstehen, daß seine Anwesenheit in Paris nicht mehr erwünscht sei, verlangte von den amerikanischen Besuchern in Frankreich ein Visum, ließ die Amerika-Häuser auf französischem Territorium schließen und nationalisierte die großen französischen Gesellschaften, deren Kapital sich in Händen der USA befand. Der Geschwindigkeit nach zu urteilen, mit der die beiden letzten Maßnahmen verwirklicht wurden, mußte Defromont sie von langer Hand vorbereitet haben, die eine aus Gründen der ökonomischen Unabhängigkeit, die andere, weil unsere Kulturzentren in Frankreich hemmungslos die Ideologie Deborah Grimms verbreiteten. Aus einem Bericht von Agnes wußten wir aber, daß diese Philosophie dem alten Manne »Übelkeit verursachte«.

Später gelang es unserer Agentin in Ottawa, uns die Fotokopie eines Briefwechsels zwischen Defromont und der kanadischen Ministerpräsidentin zu beschaffen, der uns äußerst verblüffte.

Die kanadische Ministerpräsidentin, die frankokanadischer Abstammung war, hieß Colette Lagrafeuille. In seinem ersten Brief vertraute Defromont ihr an, daß er einst eine junge Französin gekannt habe, die genauso hieß und die er unglücklicherweise aus den Augen verloren hatte. Er habe vergeblich versucht, sie wiederzufinden, und erinnere sich ihrer stets mir großer Herzlichkeit. Und deshalb, allein schon ihres Namens wegen, sei ihm die kanadische Ministerpräsidentin lieb und |168|teuer – selbstverständlich abgesehen von den alten historischen Bindungen, die Frankreich zur Provinz Quebec hat, der seine Briefpartnerin entstammt. Dieses von einem so berühmten und verehrungswürdigen Staatsmann kommende Lob berührte die Ministerpräsidentin tief, und trotz des enormen Altersunterschiedes, oder vielleicht gerade deswegen, entspann sich ein sehr herzlicher Briefwechsel, in dem Defromont unmerklich von der vertraulichen Mitteilung zum Kompliment, vom Kompliment zur Anregung und von der Anregung zum Ratschlag überging.

Dieser herzliche Kontakt trug seine Früchte: Nach dem Bombenangriff auf die französische Botschaft in Havanna stellte sich Lagrafeuille ohne Zögern auf die Seite der Protestierenden, ergriff in dem nachfolgenden Streit zwischen Bedford und Defromont für letzteren Partei und ging dazu über, die Auslieferung amerikanischer »Hirsche« zu verweigern, die in wachsender Zahl auf ihrem Territorium Zuflucht suchten. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich von Anita, daß die »Hirsche« entgegen den tendenziösen Behauptungen Deborah Grimms, keineswegs alle käufliche Männer waren, sondern Burschen, die einfach aufs Land flüchteten, um nicht der in den Städten grassierenden Epidemie zum Opfer zu fallen.

Die außenpolitische Lage ist also verheerend, resümiert Anita. Wir haben in Lateinamerika und in Asien unsere Stützpunkte, die von uns protegierten Regierungen, unsere Rohstoffe und unsere Märkte verloren. China hat Taiwan zurückerobert, Japan nähert sich China an, letzteres schlichtet seinen Streit mit der UdSSR. Europa löst sich unter Defromonts Einfluß von uns und rückt zusammen. Was aber noch schlimmer ist: Unser Nachbar Kanada, der in puncto Unabhängigkeit größere Besorgnis denn je zeigt, legt uns gegenüber ausgesprochene Feindseligkeit an den Tag.

In diesem Zusammenhang ist meine Botschaftermission in Paris bei Defromont zu sehen, sagt Anita abschließend. Bedford hat schließlich die von mir empfohlene Kehrtwendung vollzogen und eingesehen, wovon ich immer überzeugt war, daß nämlich Defromont eine Schlüsselposition einnimmt. Ich bin nun beauftragt, Frieden mit ihm zu schließen …

Völlig unerwartet schließt Anita mitten im Satz die Augen und schläft ein. Ich stelle ihr eine Frage, sie antwortet nicht. Das Licht scheint sie nicht zu stören; im Schein der Lampe ist |169|ihr Gesicht entspannt und ihr Atem gleichmäßig. Das werden also für mich die letzten Worte und der letzte Eindruck von Anita sein. Sie hat mich darauf vorbereitet, daß sie morgen früh um sechs abfährt, ohne zu frühstücken; wir werden keine Gelegenheit haben, noch einmal miteinander zu sprechen.

Meine Gefühle sind gemischt, vor allem bin ich unwahrscheinlich erleichtert. Ich begreife, warum die Auslandsinformationen aus unseren Zeitungen verschwunden sind. Die kollektive Hysterie, die wir gegenwärtig durchleben, ist ein örtlich begrenztes Phänomen, eine Art Hexenjagd, die auf ein ganzes Geschlecht ausgedehnt wurde, eine weitere Äußerung unseres auf die Spitze getriebenen Manichäismus. Im Verlauf unserer Geschichte haben wir uns stets dafür entschieden, das Prinzip des Bösen zu personifizieren, es zum Sündenbock zu stempeln und zu verfolgen. Heute, unter der Herrschaft Bedfords und ihrer Clique, ist der Mann der Teufel. Doch dieser Irrsinn ist in Wahrheit nicht über unsere Grenzen hinausgekommen: Bedford war nicht imstande, ihn zu verbreiten.

Zugleich halte ich eine recht schmerzliche Rückschau auf mein eigenes Schicksal. Ich hätte es lieber gesehen, wenn Anita mich auf eine andere Weise verließe, nicht mit der Aufzählung höchster politischer Verwicklungen, in die sie hineingeraten ist. Ich hätte mir einen schlichteren Abschied gewünscht, einige mir angemessenere Worte. Vielleicht bin ich nicht dem Buchstaben nach ihr Mann, aber ich war ihr Freund. Eine sechsjährige enge Bindung hätte mit menschlicheren Tönen ausklingen müssen.

Sicher, ich habe sie eben in höchster Erregung gesehen, aber aus Ungeduld beim Gedanken an die große Rolle, die sie bei Defromont spielen wird. Ich kann mir ohne weiteres ausmalen, daß sie danach fiebert, ihren Charme bei dem alten Charmeur spielen zu lassen und seiner Verschlagenheit zuvorzukommen. Sie schläft neben mir, aber in Wirklichkeit ist sie nicht mehr da. Sie hat sich mit Haut und Haaren einer verlockenden Zukunft verschrieben. Was mich betrifft, wäre es unsinnig, mir etwas vorzumachen: ich bin schon im Mülleimer ihrer Biographie gelandet.

 

Um einzuschlafen, habe ich eine kräftige Dosis Beruhigungsmittel genommen. Eine zu kräftige Dosis. Als ich am nächsten |170|Morgen beim ersten Sirenengeheul aufwache, ist von Anita keine Spur mehr zu sehen. Sie ist weggefahren, ohne mich zu wecken. Ich gebe zu, so war es sicher am leichtesten. Zum letzten Mal bewundere ich, wie sie ihr Leben vereinfacht.

Ich habe einen schweren Kopf, einen bitteren Geschmack im Mund, fühle mich vom Leben angewidert, wogegen eine kalte Dusche auch nichts ausrichtet. Ich rasiere mich und gehe in mein Zimmer zurück, um mich anzuziehen; und ich sehe dieses Zimmer an, als hätte ich es zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Es ist unvorstellbar leer.

Ich bin wesentlich früher fertig, als es meinem üblichen Zeitplan entspricht, aber erstaunlicherweise ist Dave auch fertig. Wir schlagen gemeinsam den Weg zur Cafeteria ein. Wir gehen zwischen den Baracken nebeneinander her, im Abstand von einem Meter und ohne ein Wort zu wechseln, wie üblich. Es ist mild, der wolkenverhangene Himmel hängt tief, die Sonne wird nicht hindurchdringen.

Hundert Meter vom Schloß – erst später wird mir bewußt, daß er so lange braucht, um diesen Entschluß zu fassen – fragt Dave: »Ist sie weg?«

»Ja. Heute früh um sechs.«

Schweigen. Ich betrachte sein feingeschnittenes Gesicht und die langen schwarzen Wimpern.

»Kommt sie wieder?« fragt er mit belegter Stimme.

Mich setzt die Frage und die ihr zugrunde liegende Ahnung in Erstaunen. Seine unruhige Stimme bezieht sich nicht auf seine Gefühle: er liebt Anita nicht. Ich sehe ihn an, doch er hebt seinen Kopf nicht. Er geht einen Meter von mir entfernt mit undurchdringlichem Profil und beschleunigt seine Schritte, um mit mir auf gleicher Höhe zu bleiben.

»Nein«, sage ich nach einer Weile.

Keine Reaktion. Kein Blick. Kein Zucken mit den Wimpern.

Und nachdem ich dieses Nein ausgesprochen habe, erscheint mir alles noch trostloser, einschließlich der erdrückenden Wolkenschicht über uns.

Wir sind zwanzig Meter vom Schloß entfernt. Ich habe nicht bemerkt, wie Dave sich mir genähert hat. Und plötzlich spüre ich in meiner Rechten seine kleine warme Hand. Ich drücke sie. Ich sehe Dave nicht an. Es ist sinnlos, er wird schweigen. Ich passe meinen Schritt dem seinen an. Wir gehen zusammen.