Als ich auf Schuschka am Wachtturm erscheine, reicht mir der Posten mit spitzen Fingern meine Marke, und die gesamte Wachmannschaft verfolgt von einem Fenster der Baracke aus diese Szene. Zehn Schritt weiter wartet Jackie, genau wie der Posten in einer knappsitzenden blaugrünen Uniform, mit umgehängtem Gewehr und mit einem Revolver am Koppel. Sie reitet einen graugesprenkelten Wallach, der Schuschka wie alle verschnittenen Pferde Widerwillen einflößt. Die Stute legt die Ohren an, und ich lasse sie sofort meine Hand spüren, um ihren Initiativen zuvorzukommen. Mich persönlich setzt Jackies Anwesenheit in Erstaunen. Gestern hatte ich vom Wir erfahren, daß man Pussy aus Blueville entlassen hatte. Ich war darauf gefaßt, ihre Kollegin nach all den verbotenen Redereien mit Stien, Jess und mir den gleichen Weg gehen zu sehen. Aber nein, da ist sie, kräftig und robust wie eh und je, mit einer Mission betraut, deren Wichtigkeit, ihrer undurchdringlichen Miene nach zu urteilen, ihr bekannt ist. Und ich bin auch sicher, daß Jackie die einzige ist, die weiß, wohin ich gebracht werde. Beim Passieren des Wachtturms ist mir keineswegs entgangen, daß der Posten meinen einsamen Ausflug ungewöhnlich fand.
»Sie schlagen den gewohnten Weg ein, Doktor«, sagt Jackie, als ich meine Marke eingesteckt habe. »Ich folge Ihnen.«
Sie hat laut und im Befehlston gesprochen, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Der gewohnte Weg ist vermutlich der, den wir bei unseren sonntäglichen Ausflügen zu Pferd nehmen. Ich habe das unbehagliche Gefühl eines Häftlings, den eine bewaffnete Eskorte vor sich her treibt. O nein, ich will nichts dramatisieren. Mein Aufbruch aus der Cafeteria erfolgte öffentlich vor aller Augen, und ich glaube nicht, daß meine persönliche Sicherheit vorerst auf dem Spiel steht. Aber trotzdem habe ich die schwerbewaffnete Jackie im Rücken. Ich selbst habe noch nicht einmal ein |207|Taschenmesser, um mich zu verteidigen, und wir sind allein und gelangen immer tiefer in einen Wald, in dem wir bei unseren Ausflügen bisher noch nie einer lebenden Seele begegnet sind.
Obendrein ist es ein düsterer Junitag. Seit zwei Tagen hat es pausenlos geregnet, und obwohl der Regen gegen Mittag aufgehört hat, kann man die nachfolgende Aufheiterung nicht als solche bezeichnen. Am Himmel türmen sich bis zum Horizont schwere schwarze Wolken auf, die über den Tannen hängenbleiben und jeden Augenblick platzen können. Der Weg besteht Gott sei Dank aus Sand und Kies und hält Schuschkas Hufen stand, doch ein Gewirr von unerschöpflichen Rinnsalen durchzieht ihn und unterhöhlt ihn zum Abhang hin, oder das Wasser stürzt steil herab und überschwemmt stellenweise den Weg. Jedesmal weicht Schuschka aus, weil sie Wasser nicht leiden kann, und kommt aus dem Trab. Ich versuche, sie unter Kontrolle zu bringen, ohne daß die hinter mir reitende Jackie darauf reagiert. Im übrigen steigt der Weg zur bewaldeten Seite hin jetzt viel stärker an.
Schritt zu reiten hat noch einen anderen Vorteil: ich kann die Bilanz meiner Beziehungen zu Jackie ziehen. Ein dürftiges Ergebnis. Zum Zeitpunkt des Zwischenfalls mit Jespersen, als ich gerade abgesessen war, auf sie zuging und den Kopf in Höhe ihrer Stiefel hatte, hat mein plötzlich aufwallendes, unerwartetes und ungestümes Begehren, das ich damals verspürte, auf sie übergegriffen, glaube ich. Beim nächsten Ausflug hat sie der zweideutigen »Aussprache«, die ich mit Pussy hatte, rücksichtslos und brutal ein Ende gesetzt. Und an dem Sonntag schließlich, der der letzten telefonischen Absage Anitas gefolgt war, hat Jackie mir während des Ausflugs einen Blick zugeworfen und ein Lächeln angedeutet, beides freundschaftlich und vor den Blicken der anderen geschickt verborgen.
Kann ich ihr trauen? Wenn Pussy hinausgeworfen wurde, liegt es da nicht nahe, daß nicht Pussy, sondern Jackie Mr. Barrow einen wahrheitsgetreuen Bericht vom Zwischenfall Jespersen erstattet hat? Eine Denunziation, die ihr sicher das Vertrauen einbrachte, auf Grund dessen sie heute hier ist. Sollten demnach das Lächeln und der Blick vom vorletzten Sonntag eine Falle sein? Ich sträube mich, es zu glauben. Dieses Mädchen hat nicht den unbeteiligten Blick der Lügnerin; im Gegenteil, |208|er birgt vieles in sich. Und wenn man so reich ist und das Gesicht außerdem von soviel unverbrauchter Energie zeugt, verstrickt man sich nicht freiwillig in Hinterhältigkeit. Wenigstens nehme ich das an. Oder ich will es glauben, was auf dasselbe hinausläuft.
Wir kommen an die Wegbiegung, die uns den Blicken Bluevilles entzieht. Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, die Absichten meiner Eskorte zu sondieren. Ich bringe Schuschka zum Stehen, drehe mich halb in meinem Sattel um und lasse, die rechte Hand auf die Kruppe der Stute gestützt, Jackie herankommen. Das dauert höchstens zwei Sekunden, doch die genügen mir, sie von Kopf bis Fuß zu mustern und sie zu begutachten, während sie sich mir nähert. Ein hübsches und gesundes Mädchen mit runden Schultern, festen Brüsten, vollem Gesicht, kurzgeschnittenen blonden Haaren und Augen, die ich für blau gehalten hatte, die aber grau sind: heute fällt mir diese Farbe auf, vielleicht wegen des düsteren Himmels und der Gewitterstimmung.
In einem Tonfall, der natürlich klingen soll, frage ich: »Wohin bringen Sie mich?«
»Weiter, Doktor«, sagt sie barsch. »Sie haben mir keine Fragen zu stellen.«
Ich sehe sie an, ihr Gesicht ist wie eine Maske, von der nichts abzulesen ist. In diesem Augenblick macht Schuschka, die meine Zügel nicht mehr spürt, eine plötzliche Kehrtwendung und will sich mit angelegten Ohren auf den Wallach stürzen. Ich kann dieser angriffslustigen Bewegung gerade noch zuvorkommen. Das hat aber genügt, daß der Wallach umkehrt und den Abhang hinuntergaloppiert, ohne daß Jackie ihn gleich aufzuhalten vermag.
Ich warte. Als Jackie atemlos wieder auf meiner Höhe ist, hat sich eine blonde Strähne von ihrem Haar gelöst, ihr Gesicht ist hochrot, und ihre Augen funkeln. Sie schreit mich wütend an.
»Wenn Schuschka so was noch einmal macht, schieß ich in die Beine!«
»In wessen Beine?« frage ich herausfordernd.
»Doktor«, schreit sie außer sich, »Sie haben mir keine Fragen zu stellen!«
»Trotzdem will ich Ihnen eine stellen!« brülle ich zurück. |209|»Warum haben Sie sich einen Wallach ausgesucht? Sie wissen genau, daß Schuschka Wallache verabscheut!«
»Ich habe ihn mir nicht ausgesucht«, sagt Jackie ruhiger. »Man hat ihn mir gesattelt gebracht.«
Gleichzeitig nimmt sie die Zügel in ihre linke Hand und steckt mit der rechten die blonde Haarsträhne unter das Käppi zurück. Ich folge dieser Geste zuerst rein mechanisch, doch plötzlich fühle ich mich von ihr berührt: eine so weibliche Geste in einem Rahmen, der so gar nicht dazu paßt.
Jackie bemerkt meinen Blick, und wie mir scheint, bemerkt sie auch, was in mir vorgeht, denn sie senkt die Augen. Für eine volle Sekunde tritt ein keineswegs feindseliges Schweigen ein.
»Weiter, Doktor«, sagt sie, sichtlich bemüht, den militärischen Ton wiederzufinden. »Wir haben einen langen Weg vor uns.«
Dieser »lange Weg« ist eine Indiskretion, die ohne Zweifel ihre Befugnisse überschreitet, und zudem eine, wie ich glaube, wohlberechnete Indiskretion, die mich beruhigen soll. Ich lasse Schuschka eine Wendung machen und auf dem geraden Weg Schritt gehen, wenn ich einen Weg, von dem ich nicht weiß, wohin er führt, »gerade« nennen kann. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, daß die Berechnung doppelt ist und Jackie mich beruhigt, um mich in falsche Sicherheit zu wiegen und mich nur um so fügsamer zum machen. Da ich in diesem Punkt nicht klarsehe, verlasse ich mich auf meinen Instinkt, also auf Intuitionen, die sich von einem Augenblick zum andern widersprechen.
Bisher ist es der »gewohnte Weg« unserer Gruppenausflüge, nur daß ihn heute die Rinnsale unterhöhlen und von den steil aufragenden hohen Tannen beim geringsten Windstoß Wassertropfen auf unsere Köpfe herabrieseln. Ich bin froh, daß ich meinen Wettermantel angezogen habe, und als ich in den Taschen meine Handschuhe suche, finde ich meine zerknitterte Golfmütze, die ich seit Monaten vergessen hatte. Ich setze sie auf. So schütze ich mich vor den Regentropfen und genieße es, mit der alten Kopfbedeckung ein Stückchen Vergangenheit wiedergefunden zu haben. Ein kurzes Vergnügen: bald sinkt die Stimmung wieder.
Hätte ich heute nachmittag Hilda Helsingforths Befehl verweigern können? Auf gar keinen Fall. Die Gefahr, alles zu verlieren, war zu groß. Und jetzt gehe ich, Geisel oder Gefangener, |210|einem ungewissen Schicksal entgegen, mit einer bewaffneten Milizionärin im Rücken. Ich weiß nicht einmal, was der nächste Augenblick bringen wird.
Der Weg steigt jetzt weniger an, und ich falle in Trab, allein schon um meinen düsteren Gedanken zu entfliehen. Brave Schuschka. Sie ist das einzige mir wirklich freundlich gesinnte Lebewesen in dieser öden Landschaft. Außer dem sandigen, aufgeweichten Weg, der sich endlos zwischen den Tannen hinzieht, gibt es nur den bleiernen Himmel und ein fahles Licht unbekannter Herkunft. Wenn der Wind sich legt, höre ich nur das weiche Aufschlagen der Hufe meiner Stute und hinter mir den gedämpften Hufschlag des Wallachs, der sich dem Rhythmus nicht anpaßt. Das dumme Vieh trabt militärisch im Takt.
Ich komme an die besagte Kreuzung, an der Jespersen wie wild geworden losgaloppiert war, und biege selbstverständlich nach links ein. Hinter mir wird ein Befehl laut.
»Nach rechts, Doktor!«
Nach rechts! Der verbotene Weg! Jespersens »Flucht«! Der von Pussy abgegebene Schuß! Ich bringe Schuschka zum Stehen und wende mich Jackie zu.
»Habe ich richtig verstanden: nach rechts?«
Jackie kommt näher, schön und streng, viel größer wirkend, weil der Gewehrlauf über ihre Schulter ragt. Sie bringt ihren Wallach in genügend großer Entfernung von Schuschka zum Stehen und sagt kurz: »Sie haben richtig verstanden!«
Ich sehe sie an.
»Dieser Weg ist für uns verboten«, sage ich.
»Heute nicht.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ich.«
Nach kurzer Überlegung treffe ich eine Entscheidung, die mich erleichtert. Ich weigere mich zu gehorchen.
»Danke, das mache ich nicht.«
Jackie sieht mich an.
Meine Aufsässigkeit setzt sie derart in Erstaunen, daß sie vergißt, sich zu ärgern.
»Was?« fragt sie. »Was sagen Sie da?«
»Ich werde diesen Weg nicht einschlagen.«
»Warum nicht?«
»Er ist verboten.«
»Doktor, ich habe Ihnen eben gesagt, daß heute ausnahmsweise …«
Sie beendet den Satz nicht, doch hat sie geduldig wie zu einem störrischen Kind gesprochen. Ich sehe, daß ihre Augen eher unruhig als verwirrt sind. Da hat sie die Bescherung, meine Milizionärin. Das Paket rebelliert; es weigert sich, dem Empfänger ausgeliefert zu werden. Was wird sie unternehmen? Mir drohen? Das ist ihr eben nicht sonderlich gelungen.
An ihrem Schweigen ermesse ich ihre Hilflosigkeit. Sie beruhigt mich endgültig. Jetzt ist alles völlig klar. Jackie hat Befehl, das Paket eigenhändig abzuliefern. Sie hat keinen Auftrag erhalten, es unterwegs zu vernichten.
Ich will trotzdem meinen Vorteil ausnutzen – ohne zu übertreiben.
»Danke«, sage ich. »Ich habe keine Lust, mich abknallen zu lassen.«
»Ich Sie abknallen?« fragt sie ungläubig.
»Pussy hat doch auch auf Jespersen geschossen.«
»Pussy hat die Nerven verloren, und die Dinge lagen anders: Jespersen hat gegen die Vorschriften verstoßen, Sie aber folgen einem Befehl.«
»Dieser Befehl kann eine Falle sein.«
»Eine Falle?«
»Wenn ich diesem Weg folge, können Sie mich erschießen und dann behaupten, ich hätte zu fliehen versucht.«
Bei diesen Worten sehe ich sie vorwurfsvoll an. Ich provoziere sie, das ist mir klar. Ich zweifle an ihrer Aufrichtigkeit, die ich innerlich nicht mehr in Frage stelle.
»Doktor!« sagt sie entrüstet.
Sie errötet. Diesmal nicht aus Zorn, sondern weil sie gekränkt ist. Und weil sie diese zarte Haut hat, durch die das Blut durchschimmert, rötet sich ihre Haut zusehends zwischen Stirn, Backenknochen und dem runden, in die Uniformjacke gezwängten Hals.
»Doktor«, fährt sie aufgebracht fort, »ich bin keine SS-Bestie!«
Das überrascht mich ziemlich. Ich hätte nicht gedacht, daß sich diese junge Milizionärin so gut in der Geschichte auskennt.
|212|»Also gut«, sage ich, »wenn Sie mich beruhigen wollen, reiten Sie mir voraus. Ich werde Ihnen folgen.«
»Das kann ich nicht machen«, erwidert sie sofort. »Das wäre ein Fehler.« Und da ich eisern schweige, fügt sie hinzu: »Ich bitte Sie, Doktor.«
Ich sehe sie an. Ihre Augen sind von einem schönen, tiefen Grau, das durch das Schwarz der dichten Wimpern – obwohl sie blond ist – noch besser zur Geltung kommt. Dieses »Ich bitte Sie« ist wirklich eine Bitte und keine Floskel. Sie hat leise gesprochen.
»Verbürgen Sie sich für meine persönliche Sicherheit?« frage ich.
Sie wendet ihren Blick nicht ab und sieht mir fest in die Augen, als sie sagt: »Ja, solange Sie mit mir zusammen sind.«
Eine doppeldeutige Antwort, mit der ich mich wohl zufriedengeben muß. Im übrigen wird Schuschka ungeduldig. Sie hatte ihre geweiteten Augen während dieses Wortwechsels starr auf den Wallach gerichtet und war sehr unruhig, so daß ich sie zwei- oder dreimal auf der Stelle wenden ließ, um sie von ihrem Aggressionstrieb abzulenken.
»Gut«, sage ich, »ich vertraue Ihnen.«
Und weil der »verbotene Weg« geradlinig ansteigt, schlage ich ihn ein und setze mich in Galopp. Für Schuschka scheint diese Entspannung sehr willkommen zu sein. Ausgelassen jagt sie den Weg entlang und läßt Wasser und Sand aufspritzen. Der Wallach folgt ihr.
Fünf Minuten später gehe ich zum Schritt über. Wir kommen an einen steilen Abhang, zu dessen Füßen uns ein Hindernis erwartet. Eine lehmige Senke, in der sich aus einem kleinen Tal strömendes Wasser angesammelt hat, schneidet uns den Weg ab. Von Überspringen kann keine Rede sein. Die Senke ist zu groß. Wenn Strömung und Tiefe es erlauben, bleibt als einzige Möglichkeit, eine seichte Stelle zu finden.
Jackie kommt heran.
»Wir müssen durch«, sagt sie entschieden.
Ich schüttele den Kopf.
»Nicht, bevor wir wissen, wie tief es ist.«
Ich steige ab, befestige Schuschka an einem beweglichen Tannenast, suche und finde im Unterholz einen toten Ast, entferne die Nadeln, damit er sich leichter handhaben läßt, trete |213|bis zu halber Stiefelhöhe ins Wasser und tauche das Lot so tief wie nur möglich ein. Ich glaube, daß es gerade noch gehen wird. Das Wasser hat eine ziemlich starke Strömung, doch die Aufheiterung an diesem Nachmittag hat sich für uns günstig ausgewirkt. Das Wasser fließt nicht sonderlich reißend ab, und wir laufen nicht Gefahr, abgetrieben zu werden.
Ich drehe mich um. Jackie, die die Zügel auf den Hals des Wallachs gelegt hat, ist in eine unerwartete Beschäftigung vertieft: sie schreibt in einem kleinen Notizbuch. Im selben Moment blickt sie hoch und fordert mich durch ein Zeichen auf, näher zu kommen. Als ich in Höhe ihrer Knie bin, zeigt sie mir das Notizbuch, ohne es aus der Hand zu geben, und ich lese: H. H. weiß alles über den Zwischenfall Jespersen.
Ich nicke bejahend, ebenfalls wortlos, und entferne mich dann, um Schuschka loszubinden und aufzusitzen. Ich bin überrascht. Jackie hat mir soeben völlig spontan drei Mitteilungen gemacht, die für mich äußerst wichtig sind. 1. Sie hat geschrieben und nicht gesprochen: sie nimmt also an, daß man uns mit einer elektronischen Abhöranlage folgen kann. Ich frage mich: Hat H. H. auf diese Weise über den Zwischenfall Jespersen »alles erfahren«? 2. Sie bestätigt mir, was ich bereits vermutet hatte, woran ich aber nicht glauben wollte: ich werde zu Hilda Helsingforth gebracht. 3. Und das vor allem: sie warnt mich für den Fall, daß H. H mich nach der Jespersen-Geschichte befragen sollte.
Kein Zweifel, ich habe in Jackie eine Verbündete.
Wie erwartet, macht Schuschka zahllose Schwierigkeiten. Sie dreht und wendet sich, um nicht mit dem Wasser in Berührung zu kommen. Und Jackie entschließt sich, ihren Wallach als ersten in die Strömung zu treiben. Das Manöver gelingt. Schuschka gibt nach. Während wir hintereinander das Wasser durchqueren, das den Pferden fast bis an den Bauch reicht, sehe ich, wie Jackie die in kleine Stücke zerrissene Mitteilung in die Strömung wirft. Ich betrachte ihren geraden Rücken und ihren kräftigen blonden Nacken. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit steigt in mir auf.
Als wir aus dem Wasser herauskommen, wartet Jackie auf mich, damit ich sie überhole und wieder voranreite. Sie hält die Augen gesenkt, und alles an ihrer Haltung fordert mich zum Schweigen auf. Ich respektiere den wortlosen Hinweis. Doch |214|nach etwa hundert Metern, als Schuschka im Schritt eine steile Anhöhe bewältigt, wende ich mich halb im Sattel um und schaue sie an. Ihre energischen grauen Augen begegnen den meinen. Nein, bei diesem Blickwechsel ist keine Sexualität im Spiel, höchstens in diffuser Form, residual. Mir wird ein Freundschaftspakt angeboten. Ich bin verwirrt, bewegt. Ich sehe Jackie mit völlig anderen Augen. Selbst die Waffen, mit denen sie ausgerüstet ist, haben einen anderen Sinn bekommen. Zum ersten Mal, seit ich in Blueville bin, haben die Anfangsbuchstaben, die meinen Status bezeichnen, auf ironische Weise eine Rechtfertigung gefunden: ich bin ein protected man.
Ich wende mich abermals auf meinem Pferd um, und Jackie deutet mit dem Kopf ein Ja an. Auf der weiten, leicht abfallenden Lichtung ein hölzerner Bungalow. Fünfzig Meter weiter ein Schuppen. Und dahinter ein Pferdestall, in dem wir unseren Pferden die Sättel abnehmen, jeder in einer anderen Box.
»Kommen Sie«, sagt Jackie.
Jetzt gehen wir beide auf gleicher Höhe, und ich mustere sie unauffällig von der Seite. Sie ist wieder unzugänglich, aber beunruhigt. Ich sehe es ihren Augen an, daß ihr etwas zu schaffen macht. Und da sie ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten versucht, werde ich noch nervöser.
Der Bungalow ist nicht so anspruchslos, wie ich geglaubt hatte. Als ich, von Jackie gefolgt, die Wiese überquere, entdecke ich ein langes, ährenförmiges Gebäude: ein überdachter Swimmingpool, nach der Verglasung zu urteilen. Das Ganze in tropischen Hölzern. Kurzum, ein kleines, bescheidenes Anwesen, das sicher ein Vermögen gekostet hat.
Ein schmaler, mit Stiefeln und Mänteln vollgestopfter Vorraum, wo ich meinen Regenmantel lasse. Jackie stößt eine Glastür auf, wir gehen an der Schmalseite des Swimmingpools entlang, an dessen äußerem Ende sich eine weitere Tür befindet, die Jackie öffnet.
»Warten Sie hier«, sagt sie so laut, als spräche sie vor Publikum. »Helsingforth wird bald kommen.«
Daraufhin macht sie auf dem Absatz kehrt. Mit Bedauern sehe ich ihren blonden Nacken, ihre kräftigen Schultern und sogar ihre mir jetzt befreundeten Waffen verschwinden.
|215|Ich trete ein. Man kann nicht das geringste erkennen, trotz einer breiten, rechteckigen Fensternische, welche die Aussicht auf eine Gebirgslandschaft freigibt, die unter einem dichten Regenschleier und weißen Nebelschwaden liegt. Vage leuchtet ein kupferner Rauchfang, doch im Kamin gegenüber der Fensternische keine Flamme, nur etwas Glut inmitten der Asche. Decke und Wände sind, soweit ich es erkennen kann, mit rötlichem Holz verkleidet. Neben dem Kamin zeichnet sich ein riesiger Diwan ab, dessen Formen sich in einer dunklen Ecke verlieren.
Ich schließe die Tür und gehe zögernd ein paar Schritte in Richtung Fensternische. Große dunkle Wolken über dem Wald, weißer Nebel in den Schluchten. Dämmerlicht. Das Gebirge macht keinen einladenden Eindruck. Diesseits der Glaswand ist es nicht besser. Das Zimmer ist zwar nicht kalt, doch es strahlt eine Atmosphäre aus, die mich erstarren läßt. Ich habe das Gefühl, als ob die Dinge hinter meinem Rücken mich bösartig ansehen. Eine Täuschung, sicherlich, das sage ich mir immer wieder. Doch der Eindruck bleibt. Ein prüfender Blick in die Runde. Mit der Holzverkleidung und dem kupfernen Rauchfang (der einzige Gegenstand, den ich deutlich erkenne) ist es ein recht wohnliches kleines Zimmer. Aber ich fühle mich als Eindringling. Ich habe den seltsamen, beängstigenden und lähmenden Eindruck, daß mich ein feindseliger Blick überallhin verfolgt. Ich schüttle mich, gebe mir einen Ruck, stecke die Hände in die Hosentaschen und gehe im Zimmer einige Schritte auf und ab. Eine sehr schwache Beleuchtung. Aber weil ich Ton und Inhalt von Helsingforths Briefen noch in Erinnerung habe, wage ich nicht einmal, den Schalter zu suchen und Licht zu machen. Mir ist, als stieße ich überall in diesem Zimmer auf Abwehr und Tabus. Ich fühle mich hier jeglicher Rechte beraubt – selbst des Rechts, anwesend zu sein.
Die kurze Wartezeit, die mich demoralisieren soll, zieht sich in die Länge. Ein alter, bewährter Trick, der jedoch funktioniert, ich spüre es an meiner starken Erregung. Also gut, ich werde das Spiel durchkreuzen und mich ablenken. Ich versuche, das Feuer zu entfachen. Auf jeden Fall sehe ich dann mehr. Ich hocke mich hin und schiebe zwei angekohlte Scheite in die Glut.
Die Flamme schießt empor. Hinter meinem Rücken peitscht eine Stimme.
|216|»Lassen Sie das Feuer! Niemand hat Ihnen gesagt, es anzufachen!«
Ich richte mich auf. Eine Lampe geht an und blendet mich. Ich blinzle mit den Augen. Im entferntesten Winkel des riesigen Diwans bemerke ich ein etwa zwanzigjähriges Mädchen, das an der Holztäfelung lehnt, in ein herbstlaubfarbenes Umschlagtuch gehüllt, unter dem ihre nackten Füße hervorschauen. Wenn jemals ein Gesicht dem »schwachen Geschlecht« anzugehören schien, so ist es dieses. Mit seinem grazilen Hals, den zarten Zügen, den matten Augen und dem Kranz duftiger blonder Haare scheint es Gestalt gewordene zerbrechliche Weiblichkeit zu sein. Doch ihr Gesichtsausdruck gleicht keineswegs dem eines Engels. Das Äußere ist beruhigend, nicht der Blick.
»Verzeihen Sie mein Eindringen«, sage ich. »Es ist sehr dunkel hier, ich hatte Ihre Anwesenheit nicht bemerkt.«
Kurzes höhnisches Lachen.
»Das ist mir keineswegs entgangen. Es war sehr erbaulich, Sie zu beobachten. Sie glaubten sich allein und sind hier auf und ab gegangen, als ob das Zimmer Ihnen gehörte. Sie sahen aus wie ein kleiner Hahn, der sich aufplustert. Jede Ihrer Gebärden verriet die Überheblichkeit, den Egoismus und die schlechte Erziehung des Manntieres. Es war komisch und gleichzeitig abstoßend.«
Die Brutalität dieses Angriffs verschlägt mir die Sprache. Als ich meiner Stimme wieder mächtig bin, sage ich trocken. »Wenn meine Gegenwart Sie abstößt, verstehe ich nicht, warum Sie mich kommen ließen.«
»Ich habe Sie nicht kommen lassen.«
»Sind Sie nicht Hilda Heslingforth?«
»Natürlich nicht«, sagt sie mit abgrundtiefer Verachtung. »Was mich betrifft, sei Ihnen gesagt, daß ich mit einem PM nichts zu tun haben will. Ich habe mein möglichstes getan, Ihren Besuch zu verhindern, Sie sind gegen meinen Willen hier.«
Sie fauchte das mit haßsprühenden Augen wie eine Katze heraus und keuchte vor Wut, den gekrümmten Rücken gegen die Holztäfelung gelehnt.
Ich drehe mich um und gehe auf die Glastür zu.
»Wo wollen Sie hin?« zischt sie hinter meinem Rücken.
|217|»Ich will in der Halle des Swimmingpools auf Helsingforth warten.«
»Sie täten besser daran, überhaupt zu verschwinden!« schreit sie mit gellender Stimme. »Diesen Rat gebe ich Ihnen! Sie wissen nicht, was Sie erwartet!«
Ich antworte nicht und schließe die Tür hinter mir. In der Tat, ich weiß nicht, was mich erwartet, aber ich weiß, daß ich keine Sekunde länger mit dieser Verrückten in einem Zimmer bleiben darf. Ich bin wirklich sehr mitgenommen. Um wieder ruhiger zu werden, drehe ich eine Runde um den Swimmingpool. Ich hole mehrmals tief Luft, ziehe die Hände aus den Hosentaschen und versuche, nicht ohne Mühe, sie zu entkrampfen.
»Mich aufplusternd«, wie es das Mädchen eben nannte, habe ich die große Fensternische der Südwand erreicht, als am anderen Ende eine Tür zuknallt und mit langen, energischen Schritten eine Frau hereinkommt, deren Proportionen mich in Erstaunen setzen. Sie hält eine Reitpeitsche in der Hand und trägt Reithosen, Stiefel und einen Rollkragenpullover. Sie bleibt sofort stehen, als sie mich gewahrt, und nimmt eine merkwürdige Haltung ein. Diese herkulische Frau steht mir direkt gegenüber, hat aber ihr Gesicht nach links gewendet und bietet mir nur die rechte Gesichtshälfte dar; so sieht sie mich von der Seite an, mit nur einem Auge wie ein Vogel.
»Was machen Sie hier?« fragt sie scharf.
Mir reicht dieser Terrorismus, und ich kontere.
»Das müssen Sie doch wissen. Sie haben mich kommen lassen.«
Mich trifft ein vernichtender Blick, aber wiederum nur aus einem Auge, wie ich bemerke.
»Tun Sie nicht so, als verstünden Sie meine Frage nicht. Was machen Sie hier, an meinem Swimmingpool?«
Der Tonfall besagt, daß ich nicht würdig bin, hier meinen Fuß hinzusetzen.
»Die Person, die sich im Wohnzimmer aufhielt, war von meiner Anwesenheit nicht erbaut.«
»Welche Person?« fragt sie von oben herab. »Hier gibt es nur eine Person, das bin ich.«
Wenn nicht einmal das Mädchen im Umschlagtuch der menschlichen Gattung angehört, in welche Kategorie werde ich dann eingeordnet?
|218|»Kommen Sie, ich will das klarstellen«, sagt sie.
Und mit langen Schritten, die wippende Peitsche in ihren Händen, geht sie eilig in Richtung Wohnzimmer. Ich folge ihr.
Ein unerwarteter Anblick. Das Mädchen mit dem duftigen Haar liegt nackt in voller Länge auf dem Bauch, das Gesicht in die Felldecke des Diwans vergraben. Sie schluchzt.
»Was ist denn, Audrey?« fragt Helsingforth.
»Dieser schreckliche Mensch«, sagt Audrey, sich aufrichtend, und zeigt anklagend mit dem Finger auf mich, »hat versucht, mich zu vergewaltigen.«
Entrüstet schreie ich: »Aber das stimmt nicht!«
Was ebenfalls nicht stimmt, ist Audreys Tonfall. Ihre Augen, ihr Schluchzen, ihre Pose, ihre Nacktheit. Man könnte sie für eine drittklassige Schauspielerin halten, die ein Regisseur vergeblich mit ihrer Rolle vertraut zu machen versucht. Sie kommt als »vergewaltigt« nicht an.
»Audrey«, sagt Helsingsforth ungerührt, »hören Sie auf zu flennen, und erzählen Sie mir alles der Reihe nach.«
Aber auch Helsingforth spielt schlecht. Sie überbetont ihren Gleichmut.
»Dieses Scheusal«, sagt Audrey …
Ich könnte aus der Haut fahren. Alles ist verlogen, die Worte, die Betonung …
»Dieses Scheusal«, fährt Audrey fort, »hat sich sofort auf mich gestürzt, als es ins Zimmer kam. (Wie einleuchtend!) Glücklicherweise konnte ich ihm entwischen, zum Revolver greifen und ihm bedeuten hinauszugehen.«
Ihm bedeuten! Nun auch noch dieser hochgestochene Stil!
»Das ist von Anfang bis Ende erlogen«, sage ich.
Unglücklicherweise sage ich es, anstatt es zu schreien. Es klingt absolut nicht überzeugend. Auch ich fange an, schlecht zu spielen. Vielleicht bin ich von dem mittelmäßigen Spiel meiner Partnerinnen angesteckt.
Helsingforth wendet mir ihre rechte Gesichtshälfte zu und schwingt ihre Peitsche; ganz so, als wollte sie einen ungehorsamen Hund zum Kuschen bringen, fragt sie, ohne ihre Stimme zu erheben:
»Fertig?«
»Sehen Sie«, sagt Audrey, immer noch schluchzend, »er hat meinen Slip und meinen Büstenhalter zerrissen!«
|219|Sie deutet mit dem Finger auf die Beweisstücke, die auf dem Fell verstreut liegen, zusammen mit dem Revolver, der mich »in die Flucht gejagt hat«. Erleichtert stelle ich fest, daß Helsingforth die Waffe nimmt, in die Nachttischschublade einschließt, den Schlüssel einsteckt und sich dann vor Audrey aufpflanzt. Da ihre Größe und ihr breiter Rücken mich daran hindern, mein »Opfer« zu sehen, trete ich einen Schritt zur Seite, wahre aber den Abstand. Ich bin so gut wie sicher, daß Helsingforth nicht zögern würde, mich zu schlagen, wenn ich noch einmal den Mund aufmachte.
»Weshalb, glauben Sie, hat Martinelli den Träger Ihres Büstenhalters abgerissen?« fragt sie mit vernichtender Ruhe.
»Doch wohl, um meine Brüste zu sehen«, sagt Audrey und senkt die Augen.
Helsingforth lacht und zeigt mit einem riesigen Finger auf Audreys schmächtigen Körper.
»Sie schmeicheln sich, Liebling: bei Ihnen gibt es nichts zu sehen.«
Sie lacht. Wenigstens darin ist sie natürlich. Boshaftigkeit steht ihr besser zu Gesicht als Gleichmut. Sie macht eine unerwartete Handbewegung: Sie nimmt den Büstenhalter vom Diwan, führt ihn an ihre Nase und schnuppert daran.
»Ich habe gewußt, daß Sie lügen!« sagt sie drohend.
»Hilda!«
»Sie lügen, Sie kleines Miststück. Dieser Büstenhalter riecht nicht einmal nach Schweiß. Aber eine Frau schwitzt natürlich, wenn sie vergewaltigt wird. Erstens, weil sie Angst hat. Zweitens, weil sie sich wehrt. Sie lügen, Sie lügen mir ins Gesicht. Sie hatten schon die Stirn, sich Martinellis Besuch zu widersetzen, und jetzt versuchen Sie, den Besuch zu hintertreiben. Gut. Ich werde Sie lehren zu opponieren! Da Sie gerade nackt sind, wollen wir die Gelegenheit nutzen.«
»Nein, nicht!« sagt Audrey mit angstgeweiteten Augen und kauert sich zusammen.
Helsingforth bückt sich und packt Audrey mit einer schnellen, unglaublich brutalen Bewegung am Fuß, dreht sie auf den Bauch, zerrt sie über die Felldecke zu sich heran, klemmt sich ihre Beine zwischen die Stiefel und versetzt ihr eiskalt und mit einer Kraft, die mir angst macht, drei Peitschenhiebe auf das Gesäß. Es zeigen sich drei rote Streifen. Audrey hat nur ein |220|einziges Mal aufgeschrien, sie schluchzt auch nicht, sondern wimmert nur leise, als hätte sie Angst, zuviel Lärm zu machen.
Helsingforth packt sie am Arm, stößt sie vom Diwan und setzt sich mit gespreizten Beinen hin.
»Stiefel!« sagt sie.
Nackt und schniefend erhebt sich Audrey, um sie ihr auszuziehen. Das ist nicht so einfach. Sie hat nicht genügend Kraft und zittert an allen Gliedern. Aber gleichzeitig überschlägt sie sich vor Eifer und Unterwürfigkeit, als ob ihr diese sklavische Aufgabe gefiele.
»Martinelli«, sagt Helsingforth, während sie mir ihr Jupiterprofil zuwendet und mich mit ihren schwarzen Augen fixiert, »da sitzen Sie ja schön in der Patsche.«
»Ich?«
»Sie haben Audrey gehört: Sie beschuldigt Sie der Vergewaltigung.«
Ich zwinge mich zur Ruhe und sage: »Sie wissen doch genau, daß das nicht stimmt.«
»Es stimmt nicht, soweit es meine Beziehungen zu Audrey betrifft. Aber es muß nicht gelogen sein, soweit es meine Beziehungen zu Ihnen betrifft.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Pullover!« sagt Helsingforth zu Audrey und fügt drohend hinzu: »Lassen Sie das Gewimmer! Es geht mir auf die Nerven.«
Audrey schweigt.
»Martinelli«, sagt Helsingforth, als ihr Kopf aus dem Pullover auftaucht. »Sie haben die Situation noch nicht richtig erfaßt. Wahrheit ist hier, was ich zur Wahrheit erkläre. Denken Sie darüber nach. Wenn ich mich dafür entscheide, Audreys Aussagen zu bestätigen, welches Gericht wird Sie dann freisprechen!«
»Aber das wäre eine falsche Zeugenaussage!«
»Na und?« fragt sie und runzelt die Stirn.
Ich schweige. Ist das eine Drohung, die ich ernst zu nehmen habe? Oder nur beiläufig ein kleiner sadistischer Scherz?
In diesem Augenblick bricht Audrey, offenbar von der Vorstellung entzückt, mich verurteilt zu sehen, in einen kleinen spitzen Schrei aus. Sie beugt den Kopf und drückt Helsingforth einen zärtlichen Kuß auf den Unterarm. Helsingforth weicht |221|sofort zurück, setzt ihren großen Fuß auf die nackte Brust des Mädchens und stößt sie von sich. Audrey fliegt längelang auf den Boden, richtet sich aber gleich wieder auf, ohne daß ihr Gesicht auch nur eine Spur von Zorn oder Kränkung verrät.
»Sie sind verrückt«, sagt Helsingforth verächtlich. »Lassen Sie Ihre Sabbeleien und behalten Sie Ihre Zärtlichkeiten für sich. Ich will so was nicht, das habe ich Ihnen schon gesagt.« Während sie sich ihres Büstenhalters entledigt, fügt sie schroff hinzu: »Hosen.«
In diesem Augenblick drehe ich mich um und betrachte das Feuer im Kamin. Audrey muß gezögert haben, denn Helsingforth wiederholt den Befehl voller Ungeduld. Inzwischen müssen sie beim Slip angelangt sein, denn ich höre Helsingforth sarkastisch sagen: »Vorsichtig, Sie brauchen ihn nicht zu zerreißen! Niemand wird glauben, daß man mich vergewaltigen wollte!«
Schweigen. Der Boden knarrt. Ich nehme an, daß Helsingforth sich erhebt.
»Ich gehe jetzt schwimmen«, sagt sie hochtrabend, als handelte es sich um eine wichtige Handlung, von der das Universum in Kenntnis gesetzt werden müßte. »Audrey, Sie geben Martinelli die Stoppuhr. Sie selbst ziehen sich an und machen mir Tee.«
Audrey übergibt mir die Stoppuhr nicht eigenhändig, sondern legt sie mit giftigem Blick auf den Tisch.
Als ich die Schwimmhalle betrete, winkt mich Helsingforth, die aufrecht, nackt und monumental am Beckenrand steht, an ihre rechte Seite. Ich muß gestehen, daß ich den Verdacht schöpfe, sie sei einäugig, denn ihre linke Wange bleibt ständig unter der Fülle ihres auf diese Seite gekämmten schwarzen Haars verborgen. Aber nein, gerade in diesem Augenblick gewahre ich ihr linkes Auge, schwarz, funkelnd und kaum freundlicher als das rechte.
Auf mein Zeichen springt sie ins Wasser, ich drücke auf die Stoppuhr und sehe mir diese Frau an. Sie ist eine imponierende Sportlerin. Sie schwimmt so schnell, daß sich vor ihrem Gesicht eine Art Mulde bildet, die es fast überflüssig macht, daß sie ihren Kopf zur Seite wendet. Vor allem aber beeindrucken mich ihre heroischen Maße (sie muß mindestens eins neunzig groß sein) und ihre Muskulatur, die viel Kraft verrät, obwohl |222|sie gut verpackt ist. Während ich ihren Bewegungen folge, kommt mir der Gedanke, daß die Frau im Zusammenleben zwischen Mann und Frau – wenn es dergleichen künftig überhaupt noch gibt – die Vorrangstellung einnehmen wird, sofern die Frau weiterhin das herrschende Wesen in unserer Gesellschaft bleibt und ihre körperliche Beschaffenheit – Wuchs, Gewicht und Muskeln – sich möglicherweise auf Grund der bewußten sportlichen Erziehung innerhalb weniger Generationen verändert.
Helsingforth hat mir acht Längen angekündigt. Bei der achten drücke ich auf die Stoppuhr, als ihre Finger die Fliesen berühren. Sie ist mit ihrer Zeit unzufrieden und beschuldigt mich, schlecht gemessen zu haben. Sie steigt mit gerunzelten Brauen aus dem Wasser, greift triefend nach zwei Handtüchern und wirft mir eines davon zu. Ohne mich anzusehen, sagt sie schroff: »Trocknen Sie mir den Rücken ab.«
Nach einer Sekunde des Zögerns gehorche ich. Wenn es zu einem Streit mit ihr kommen soll, dann nicht wegen einer Lappalie. Und sie glaubt offensichtlich, sich alles erlauben zu können. Wegen ihrer Millionen? Oder wegen ihrer körperlichen Kraft, mit der ich im Augenblick unmittelbar konfrontiert bin (meine Augen befinden sich in Höhe ihrer Schulterblätter) und die mir angst macht, weil ich weiß, daß sie keine Sekunde zögern würde, sie gegen mich einzusetzen? Ich bin entschlossen, sie vor allem nicht diese Angst merken zu lassen. Später wird mir klar, daß diese Entscheidung spontan erfolgte. Sie entspricht jenem Instinkt, der den Frauen gebietet, niemals den Anschein zu erwecken, als fürchteten sie sich vor der Kraft des Mannes, mit dem sie liiert sind; Frauen wollen auf solche Weise vermeiden, im Manne das Tier zu wecken, vor dem sie Angst haben.
Mein Handtuch rubbelt und rubbelt, und mit Erstaunen stelle ich fest, daß ich an dieser gewaltigen Abtrocknerei Gefallen finde. Das Pigment der Haut ist so glatt, die Formen sind so schön und trotz ihrer Massigkeit so unleugbar weiblich, daß ich dies Spiel länger als nötig ausdehne. Seltsamerweise können mich dabei weder Helsingforths Wildheit noch ihre Körpermaße einschüchtern.
»Das reicht jetzt«, sagt Helsingforth. Ohne sich umzudrehen, streckt sie die Hand aus, um sich das Handtuch geben zu |223|lassen, und wirft es über ihre Schultern. Dann bückt sie sich, um sich mit dem zweiten Handtuch das Haar zu trocknen.
»Martinelli«, fragt sie nach einer Weile, »wie finden Sie mich?«
Sie steht vor mir in jener eigenartigen Pose, die mir zuvor schon an ihr aufgefallen war, das Gesicht fast im Profil; beide Augen blicken mich von der Seite an.
»Meinen Sie körperlich?«
»Ja.«
Mich wundert nichts mehr. Ich war ihr Abtrockner, jetzt bin ich ihr Spiegel. Lange betrachte ich diesen Riesennarziß von oben bis unten und sage dann:
»Außergewöhnlich.«
»Was soll das heißen, außergewöhnlich?«
»In der Größe, in der Schönheit und in den Proportionen.« Sie sieht mich mißtrauisch an.
»Was haben Sie gegen meine Proportionen einzuwenden?«
»Nichts.«
»In welcher Hinsicht sind sie außergewöhnlich?«
»Ihr Beckengürtel ist schmaler als das Schulterband.«
»Kein Kauderwelsch, Doktor. Reden Sie deutlich.«
»Ihre Schultern sind breiter als Ihre Hüften.«
»Ist das außergewöhnlich?«
»Bei einer Frau, ja.«
Sie runzelt die Brauen. Sie hat es leicht, mich von oben herab anzusehen, und sie sagt in olympischem Tonfall: »Doktor, Sie hinken hinterher. Die traditionellen Begriffe von Männlichkeit und Weiblichkeit sind heute völlig überholt.«
Na also! Weiß ich das etwa nicht? Wo man es mir die ganze Zeit eintrichtert? Wie konnte ich das neue Evangelium vergessen? Es gibt keine Heterochromosomen XX mehr! Auch keine Eierstöcke, keine Eizellen, keine Absonderung von Gelbkörperhormon! Und selbstverständlich keinen Muttermund, keinen Uterus und keine Vagina! Vorbei mit den Schamlippen und der Klitoris! Menstruation, abgeschafft! Keine Brüste, kein Stillen, keine Schwangerschaft mehr! Auch kein Unterschied mehr im Herzrhythmus! Und wenn ich mir nur erlauben wollte, in harmloser Form darauf hinzuweisen, daß die Schamhaare der vor mir stehenden schönen Athletin ein klassisches Dreieck und nicht, wie bei mir, einen Rhombus bilden – welcher verwerflichen |224|Geisteshaltung, welcher sträflichen Abweichung würde sie mich bezichtigen?
Ich bediene mich der Waffe der Schwachen: ich schweige. Ich lasse Helsingforth das »weibliche« Privileg des letzten Wortes.
Es gibt im Leben der Völker Momente, in denen Worte die Kraft besitzen, Tatsachen zu verändern, und man staunend feststellt, daß das verbale Delirium an die Stelle der wissenschaftlichen Erkenntnis tritt. Ich erlebe einen solchen Augenblick, und ich spüre, daß es völlig nutzlos ist, gegen den Strom anzukämpfen. Der Irrtum hat die Überhand. Man muß abwarten, bis sich die Magie der Phrasen verflüchtigt. Inzwischen muß ich zugeben, daß die vor mir stehende Superfrau mit den enormen Brüsten genauso wie ich gebaut und den gleichen physiologischen Gesetzen unterworfen ist. Also gut, geben wir es zu! Geben wir auch zu, daß ich als männliches Geschöpf völlig unterlegen bin, obwohl ich ihr gleiche. Was bedeutet schon dieser kleine Widerspruch? Ich bin nicht aufgelegt, mich mit der Logik herumzuschlagen.
»Martinelli, warten Sie im Wohnzimmer auf mich«, sagt Helsingforth. »Ich komme nach.«
Endlich werde ich erfahren, was sie von mir will! Ich entferne mich, und während ich mich zum Wohnzimmer begebe, sehe ich sie durch die Tür zum Bad verschwinden.