Fensterloser Raum mit Klimaanlage. Eichentäfelung bis auf halbe Höhe. Darüber die Wände, weiß, mit einem einzigen Stich: eine Szene von der Pockenimpfung auf Kuba im Jahre 1900. Dicker Velourteppich, in den ich beim Eintreten bis an die Knöchel eingesunken bin. Großer, komfortabler Sessel, in den ich mich, auf einen Wink, bis zu den Hüften fallen lasse.
Daraufhin ein langes Schweigen. Ich bin hier, um zu reden, doch man scheint mich dazu nicht sehr bereitwillig auffordern zu wollen. Das Wort ist eine Sache, die sich die Großen dieser Welt nicht gerne nehmen lassen: sie ziehen es vor, sich selbst zu hören, statt zuzuhören. Überdies bin ich mir bewußt, keine persona grata zu sein. Weder ich selbst noch das, was ich zu sagen habe. Man läßt mich schmoren. Gleich von Anfang an soll ich mich von meiner Bedeutungslosigkeit durchdringen lassen.
Alle drei sitzen stumm auf der anderen Seite eines ovalen Tisches, dessen übermäßige Größe vermutlich den ganzen Abstand zwischen der Macht und dem einfachen Bürger symbolisieren soll. Mich beschleicht das Gefühl, im Examen zu stehen, was mich zwar verjüngt, mir aber keineswegs zusagt. Und es scheint wohl auch so etwas Ähnliches zu sein, denn obwohl ich ein anerkannter Neurologe bin, frage ich mich, ob ich nicht durchfallen werde. Die Ironie will es, daß meine Karriere überhaupt nicht auf dem Spiel steht und daß ich hier bin, um das öffentliche Interesse vor den Menschen, zu deren Obliegenheiten es gehört, zu verteidigen.
Mir sitzen drei Männer gegenüber. In der Mitte, ebenso massig und vierschrötig wie die »bundesfaschistische« Architektur des HEW1, Staatssekretär Matthews. Zur Rechten von Matthews der Direktor des Gesundheitswesens, Skelton, der sich |6|selbst übrigens, nach seinem abgezehrten Äußeren zu urteilen, nicht bester Gesundheit erfreut. Zur Linken des Staatssekretärs und ihn mit diskreter Geringschätzung betrachtend, Cresby, einer der brillantesten Berater des Präsidenten.
Von den dreien ist mir nur Cresby bekannt. Er ist ein junger Glatzkopf. Er ist lebhaft, klein, schmächtig, mit pechschwarzen Pupillen. »Er gilt als Genie«, sagt meine zweite Frau, Anita, nicht ohne Bitterkeit, denn sie ist der Meinung, es liege nur an der Frauenfeindlichkeit unserer heutigen Gesellschaft, daß sie lediglich die Sekretärin des Präsidenten, nicht seine Beraterin ist.
Und sie hat sicher recht. Auf Anita angewandt, bekommt das Wort »kompetent« fast einen abwertenden Sinn. Ihr Wissen ist unermeßlich, und hinter ihrer schönen Stirn, ihrem herrlichen mahagonifarbenen Haar und ihren grünen Augen steckt ein miniaturisierter Elektronenrechner, der mit hoher Effektivität funktioniert.
Ich spreche davon in aller Objektivität. Ich sehe meine Ehefrau Anita zu selten, um wirklich in sie verliebt zu sein. Karriere verpflichtet: wir leben nicht zusammen. Sie besucht mich zwei- oder dreimal die Woche abends in meinem Haus in Wesley Heights, und sie kommt gar nicht, wenn das Weiße Haus eine Krise durchmacht. Ich muß sagen, daß mich die Rückwirkung der Staatsangelegenheiten auf die Häufigkeit meiner Orgasmen immer wieder in Erstaunen versetzt.
Über Anita habe ich die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf die Gefahren der Enzephalitis 16 gelenkt, und der Präsident hat, ohne das HEW zu fragen, Cresby beauftragt, mir die Leitung einer Kommission zur Untersuchung der Krankheit anzuvertrauen.
Mein vertraulicher Bericht liegt nun da, auf dem riesigen Tisch zwischen Matthews’ wuchtigen, behaarten Pranken. Er blättert in ihm herum, um mir zu beweisen, daß er ihn nicht gelesen hat, und um mich seine Feindseligkeit spüren zu lassen, während er mich hinhält. Obwohl mich sein Schweigen mehr und mehr bedrückt, gebe ich Matthews nicht völlig die Schuld. Erst hat ihn der Präsident, Gott weiß warum, in dieser Sache ausgeschaltet, und als der Augenblick gekommen ist, zu konkreten Maßnahmen überzugehen, schaltet er ihn wieder ein. Das ist eine Herausforderung. Schlimmer: es ist demütigend.
|7|Vor diesem Tag habe ich Matthews nur einmal auf dem Bildschirm gesehen: Er hatte den optimistischen Blick des Politikers und ein so markant vorspringendes Kinn, daß man im Prinzip zuversichtlich in die Zukunft der Vereinigten Staaten blicken konnte. Das Kinn hat sich nicht verändert, doch die unter seinen dichten schwarzen Brauen liegenden Augen haben nichts Ansprechendes, wenigstens nicht, wenn sie auf meine Person gerichtet sind. Ich weiß sehr wohl, wie er mich sieht: ein kleiner, zugewanderter Ausländer, den der Präsident – ohne Wissen des HEW – an die Spitze einer medizinischen Kommission katapultierte, um seiner Sekretärin gefällig zu sein.
Noch weniger kann Matthews den jungen, genialen Glatzkopf Cresby ausstehen. Cresby hat bei allen Unternehmungen, die der Präsident hinter dem Rücken seiner Staatssekretäre betreibt, seine Hand im Spiel und ist der Drahtzieher dessen, was Matthews’ Parteigänger voller Bitterkeit die »Schattenregierung« nennen. Matthews’ einzige Hoffnung ist – Anita dixit –, daß der gegenüber aller Welt und manchmal sogar gegenüber dem Präsidenten so arrogante Cresby in Ungnade fällt. Anita teilt diese Hoffnung.
Der Direktor des Gesundheitswesens, der abgezehrte und gelbliche Skelton, sieht aus, als ob ihn seine eigene Galligkeit zerfressen hätte. Ganz offensichtlich haßt er alle: Matthews, Cresby und mich.
In dem Raum befindet sich eine fünfte Person, die wirklich wenig Platz einnimmt. Es ist eine Frau. Beim Eintreten hörte ich, wie jemand sie Mrs. White nannte. Ein recht ironischer Name: Mrs. White ist von Kopf bis Fuß grau. Kleid, Teint, Haare, alles ist von der gleichen mausgrauen Tönung. Sie ist ohne Alter und ohne Reize und macht sich, die Kopfhörer an den Ohren, an einem Tonbandgerät zu schaffen. Wie alle sehr unauffälligen Menschen macht sie auf mich den Eindruck, als ob sie sich selbst aus dem Leben gestrichen hätte.
»Dr. Martinelli, ich erteile Ihnen das Wort, aber fassen Sie sich so kurz wie möglich«, sagte Matthews schließlich mit einer Miene, als überlasse er mir das Wort nur leihweise.
Ich will mich nicht einschüchtern lassen. Letzten Endes ist es nicht meine Schuld, wenn der Präsident eine selbstherrliche Auffassung von seinen Funktionen hat und über die Köpfe seiner Staatssekretäre hinweg regiert. Genausowenig ist es meine |8|Schuld, wenn diese lieber Nattern schlucken, als ihr Amt niederzulegen. Für die ministerielle Größe muß man eben zahlen.
Ich sehe Matthews an und beginne mit fester Stimme: »Auf Veranlassung des Präsidenten habe ich die Kommission am 27. Juli dieses Jahres gebildet. Sie sollte die zur Zeit bekannten Tatsachen über die Enzephalitis 16 untersuchen.«
»Warum dieser Name?« fragt Matthews brüsk.
Ich habe Lust, ihm zu antworten, daß er es wüßte, wenn er meinen Bericht gelesen hätte. Statt dessen sage ich ohne Ungeduld, aber auch ohne übermäßige Freundlichkeit: »Der erste Fall, den ich beobachtet habe, trat in Zimmer 16 des Georgetown-University-Hospital auf.«
»Fahren Sie fort«, sagt Matthews.
»Da wir nur über wenig Zeit verfügten, haben wir bisher nur die großen Städte der Vereinigten Staaten und des Auslands untersucht.«
»Lassen Sie das Ausland weg«, sagt Matthews.
»Aber dieser Teil des Berichts ist politisch nicht ohne Interesse.«
»Und worin soll dieses Interesse bestehen?« fragt Matthews mit hochmütiger Miene, als wäre ich zu unwissend, um mich auf dieses Gebiet zu wagen.
»Meines Wissens haben sich alle großen Epidemien bisher von Osten nach Westen ausgebreitet. Die Enzephalitis 16 bildet eine Ausnahme: Sie breitet sich von Westen nach Osten aus. Deshalb ist die Zahl der Fälle in Westeuropa geringer als bei uns; die UdSSR ist, soweit wir Kenntnis davon haben, weniger als Westeuropa in Mitleidenschaft gezogen; und Asien ist kaum berührt. Unsere Untersuchung hat ergeben, daß Japan und China bereits Maßnahmen ergreifen, um die Kontakte ihrer Bevölkerung mit den Einwohnern aus dem Westen einzuschränken.«
Ich habe ins Schwarze getroffen. Matthews zieht interessiert seine dichten, schwarzen Brauen hoch und will gerade eine neue Frage stellen, als Cresby mit höflicher, hastiger und unglaublich schneidender Stimme sagt: »Herr Staatssekretär, wir sollten uns bei diesem Punkt nicht aufhalten. Ich habe mir die Mühe gemacht, den Bericht Dr. Martinellis zu lesen (kurzes, hinterhältiges Lächeln), und habe dem Präsidenten über die politischen Verwicklungen betreffs Asien bereits Bericht erstattet.«
|9|Sowenig nett Matthews mir gegenüber auch sein mag, in diesem Augenblick bedaure ich ihn. Krasser könnte man ihm nicht zu verstehen geben, daß er ein Versager ist und daß alle Dinge von Wichtigkeit über seinen Kopf hinweg entschieden werden.
Matthews’ Kinnladen arbeiten. Nach den Nattern die Vipern. Er schluckt.
»Fahren Sie fort, Dr. Martinelli«, sagt Matthews und wirft mir einen wütenden Blick zu.
Mit mir kann man es machen: Ich bin nur ein kleines Licht.
Ich berichte weiter:
»Unsere Befragung hat ergeben, daß 73 Prozent der kontaktierten Neurologen in den großen Städten der Vereinigten Staaten die Dringlichkeit des Problems bereits erkannt hatten. Zwei von ihnen, Dr. Pierce aus Los Angeles und Dr. Smith aus Boston, haben – wie ich selbst – mit virologischen Untersuchungen begonnen. Bisher ohne Erfolg.«
»Warum ohne Erfolg?« fragt Matthews mit einem Anklang von aufgebrachtem Erstaunen, das ich etwas naiv finde. Matthews scheint anzunehmen, daß der USA-Wissenschaft Mißerfolge unbekannt sind.
»Ich für mein Teil habe Proben von befallener Hirnsubstanz entnommen und habe sie zu kultivieren versucht.« Und da Matthews, der sich auf unsicherem Boden fühlt, mich unter seinen dichten, schwarzen Brauen wortlos mustert, füge ich hinzu: »Das Ziel dieser Kultur war, das Virus zu isolieren und zu bestimmen. Doch das Ansetzen der Kultur ist bisher gescheitert, wahrscheinlich deshalb, weil das angesetzte Milieu nicht geeignet war.«
Ich schweige und blicke Matthews an. Er begreift die Tragweite des Gesagten und hat Lust, weitere Fragen zu stellen. Doch da er gleichzeitig befürchtet, seine Unwissenheit preiszugeben, wählt er den klügeren Weg: er reckt sich zu voller Größe auf und schiebt die Kinnladen mit jener verantwortungsvollen Miene vor, die für ihn im Verlaufe seiner politischen Karriere so nützlich gewesen sein muß. Dann wendet er sich massig, monolithisch, ganz so, als ob sein Hals auf seinem Rumpf festgeschraubt wäre, Skelton zu und sagt: »Mr. Skelton, möchten Sie Dr. Martinelli Fragen stellen?«
Ich weiß nicht, wovon Skelton sich ernährt, aber sicher nicht |10|von Milch und Nächstenliebe. Er mustert mich eingehend. Das bißchen gelbliche Haut, die er auf dem Gesicht hat, legt sich in Falten, und seine Zähne werden sichtbar. Ein Totenkopf, der lacht. Ein eiskaltes Lächeln. Ich mustere ihn meinerseits. Sein Oberkörper ist so schmal, daß man sich fragt, wie die Natur es fertigbrachte, Lungen und Herz darin unterzubringen. Das alles wird nur durch Bosheit zusammengehalten. Allein die Augen dieses Mannes! Im Grunde ist er, von seinem natürlichen Gift abgesehen, ebenfalls auf mich wütend. Auch ihn hat man übergangen. Von der Rangordnung her hätte er, nicht Cresby, mich mit dieser Mission betrauen müssen. Und diese Beleidigung, dessen bin ich mir in dieser Sekunde sicher, zählt mehr als alles andere, was ich über die Gesundheit der Nation zu sagen hätte.
»Dr. Martinelli, ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, die vielleicht den Vorteil haben werden, Ihren mündlichen Vortrag abzukürzen«, sagt er mit schwacher, brüchiger und ziemlich rasselnder Stimme.
Wie höflich. Ich habe kaum angefangen und bin schon zu ausführlich.
»Nach dem, was Sie eben gesagt haben, war es in den Vereinigten Staaten nicht möglich, einen Impfstoff gegen die Enzephalitis 16 zu entwickeln«, fährt Skelton fort.
»Weder in den Vereinigten Staaten noch, soweit uns bekannt ist, im Ausland.«
»Haben die erprobten Therapien Auswirkungen auf die Enzephalitis 16?«
»Nein. Soweit man sie anwenden konnte.«
»Warum diese Einschränkung?«
»Die Inkubationszeit der Krankheit beträgt ungefähr eine Woche. Und während dieser Zeit äußert sie sich nur durch Störungen des Verdauungsapparates, der Augen, der Sprache und der Bewegungsfähigkeit. Doch diese Störungen sind geringfügig. Sie werden nicht von Fieber begleitet und hindern den Kranken nicht daran, seinen gewohnten Tätigkeiten nachzugehen. In den meisten Fällen sucht er nicht einmal den Arzt auf. Und wenn die Krankheit zum Ausbruch kommt, ist es zu spät.«
»Wie kommt sie zum Ausbruch?«
»Auf eine äußerst brutale Weise. Der Kranke verliert das Bewußtsein |11|und fällt ins Koma. Das war übrigens der Grund, der uns darauf brachte, daß es sich um eine neue Krankheit handelte. Keine bekannte Enzephalitis nimmt ihren Verlauf auf so mörderische Weise.«
»Ist es gelungen, die Krankheit sofort nach Auftreten der von Ihnen beschriebenen kleineren Störungen durch Verabreichung von Antibiotika und Kortison unter Kontrolle zu bringen?«
»Unseres Wissens nicht.«
»Wenn der Kranke ins Koma fällt, können Sie da etwas unternehmen?«
»Nein.«
»Kann es zu einer spontanen Heilung kommen?«
»Wenn es eine gab, erfolgte sie vor dem Koma und hat sich unseren Nachforschungen entzogen.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, war der Ausgang der Krankheit in allen Fällen, die Sie beobachtet haben oder von denen Sie Kenntnis erhielten, tödlich?«
»Ja.«
Skelton befeuchtet sich die Lippen und fährt fort: »Wie verbreitet sich die Enzephalitis 16?«
»Sie ist vom ersten Tag der Inkubation an ansteckend. Da der Kranke sich nicht voll im klaren darüber ist, bereits angesteckt zu sein, und da die Inkubationszeit eine Woche beträgt, kann er in dieser Zeit eine große Zahl von Menschen aus seiner Umgebung infizieren«, füge ich hinzu.
Ich weiß wohl, warum ich das sage. Die Presse hat die Enzephalitis 16 noch nicht erwähnt. Sie kennt nicht einmal den Namen, den wir ihr gegeben haben. Dieses Schweigen erscheint mir katastrophal. Ich möchte, daß die Regierung meinen Bericht veröffentlicht und schleunigst die unumgänglichen prophylaktischen Maßnahmen einleitet. Wenn man vermeiden will, daß die Epidemie sich wie ein Ölfleck ausbreitet, muß man selbstverständlich die Kontakte von Personen weitgehend einschränken – welchen ökonomischen Schaden auch immer solche Entscheidung nach sich zieht.
»Ich möchte auf eine wichtige Tatsache aufmerksam machen«, fahre ich fort. »Grob geschätzt ist die Zahl der Fälle nicht hoch. 1275 Fälle in zwei Monaten für ein Ballungsgebiet wie New York, das scheint nicht übermäßig viel zu sein. Ich |12|möchte Sie vor diesem Optimismus warnen. Nicht die Zahl der Fälle ist alarmierend, sondern das Tempo der Ausbreitung in den erfaßten Städten. Wenn diese Ausbreitung sich weiter so fortsetzt, kann sie eine Epidemie befürchten lassen.«
Ich habe kein Blatt vor den Mund genommen. Im Gegenteil, ich habe das Problem mit allem angebrachten Nachdruck auf den Tisch gepackt und dabei ganz offensichtlich die ziemlich dicke Haut des Staatssekretärs Matthews verletzt. Obwohl er seine Augen unter den dichten Brauen verbirgt, lese ich in ihnen einen gewissen Grad von Erregung. Einen Augenblick später streckt er seine Arme vor und sagt, die beiden Handflächen nach oben gekehrt, mit einem Gemisch von Bestürzung und Ungläubigkeit: »Aber ist denn eine große Epidemie noch möglich?«
Ich will das Eisen schmieden, solange es heiß ist.
»Herr Staatssekretär, wenn Sie mir gestatten, offen zu sein. Ihre Frage enthält eine optimistische Annahme. Sie denken in der Tat, daß beim gegenwärtigen Stand der Medizin eine solche Epidemie bald unter Kontrolle sein würde.«
»Und habe ich unrecht?«
»Sie könnten unrecht haben. Nehmen wir an, es handelt sich um ein Virus, das man weder isolieren noch identifizieren kann.«
»Zum Beispiel?« fragt Skelton mit seiner schwachen, knarrenden Stimme.
»Die asiatische Grippe von 1918.«
»Dr. Martinelli, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die virologische Forschung seit 1918 ungeheure Fortschritte gemacht hat«, sagt Skelton mit einer Miene, als hätte er mich bei einem Fehler ertappt.
»Das stimmt«, erwidere ich lebhaft. »Aber das bedeutet keineswegs, daß man von heute auf morgen ein Serum gegen die Enzephalitis 16 finden wird. Die asiatische Grippe raffte immerhin in einigen Monaten zweiundzwanzig Millionen Menschen dahin.«
»Wieviel sagten Sie?« fragt Matthews.
»Zweiundzwanzig Millionen.«
»Weitaus mehr als der Erste Weltkrieg auf allen kriegführenden Seiten«, sagt Cresby.
Was Cresby sagt, trifft zu, aber nach seinem triumphierenden |13|Ton zu schließen, fallen alle diese Toten für ihn nicht weiter ins Gewicht: sie dienen ihm vor allem dazu, einen Punkt gegen Matthews zu gewinnen.
»Fahren Sie bitte fort, Dr. Martinelli«, sagt Matthews mit einer Handbewegung, als ob er eine Wespe verscheuchte.
»Es gibt noch eine andere Tatsache, die ich unterstreichen möchte, das Alter der Kranken. Aus den Statistiken, die wir aufgestellt haben, geht hervor …«
»Einen Augenblick bitte, Doktor«, sagt Mrs. White. »Ich habe Schwierigkeiten mit dem Tonbandgerät. Es nimmt nicht mehr auf.«
Die Blicke meiner drei Gegenüber richten sich gleichzeitig auf Mrs. White. Da sie weder jung noch hübsch ist, hat sie bisher ihre Aufmerksamkeit nicht erregt. In ihren Augen ist sie eine ältere Frau von untergeordneter Stellung, die nicht mehr Bedeutung als ein Tisch hat. Außer daß ein Tisch keinen Stuß macht und daß Mrs. White Stuß macht! Weil sie, wohlgemerkt, eine Frau ist! Weil sie es nicht versteht, ein Gerät zu bedienen! Dieses Mal sind sich alle drei einig, man sieht es ihnen an; auch die erhabene Nachsicht, mit der sie hinnehmen, daß weibliche Unfähigkeit den Verlauf von bedeutsamen Staatsangelegenheiten unterbricht, liest man ihnen vom Gesicht ab. Müßten sie nicht ihre Würde wahren, würden sie aufstehen, um dieses verdammte Tonbandgerät mit einem kräftigen Fußtritt wieder in Gang zu setzen.
Mrs. White spürt in diesem Augenblick, was die Herren denken. Dessen bin ich sicher. Sie weiß, was nicht in Ordnung ist, doch läßt sie sich von deren Meinung so sehr beeinflussen, daß sie wirklich Stuß fabriziert, wie ich von meinem Platz aus sehen kann. Hochrot und mit Tränen in den Augen, muß sie sich sehr zusammennehmen, um ihren Fehler zu korrigieren, nicht ohne mit zittrigen Fingern doppelt soviel Zeit zu verwenden, als nötig ist.
»Ich bin bereit«, sagt sie schließlich und richtet sich mit puterrotem Gesicht und feuchten Augen auf.
Kurze Pause. Meine Gegenüber konzentrieren sich von neuem auf mich. Da alles wieder läuft, existiert Mrs. White nicht mehr.
»Ich sprach vom Alter der Kranken«, fahre ich fort. »Dazu möchte ich auf eine Sache aufmerksam machen. In den neunundzwanzig |14|Städten, die wir in die Untersuchung einbezogen hatten, liegen die Fälle in einer Streuung zwischen zwölf und fünfundsiebzig Jahren.« Das sagt meinen Zuhörern gar nichts, außer Cresby natürlich, weil er den Bericht gelesen hat. »Ich möchte erläutern, was an dieser Beobachtung erstaunlich ist. Aus unserer Erhebung geht in der Tat hervor, daß sich unter den Fällen, die in den USA oder im Ausland registriert wurden, kein einziger Junge im vorpubertären Alter befindet. Andererseits haben wir sehr wenig Fälle über siebzig, und dabei handelt es sich um rüstige Greise, die sich ein aktives sexuelles Leben bewahrt haben.«
In Skeltons langem, abgezehrtem Gesicht sehe ich einen höhnischen Funken aufblitzen, und er sagt mit schwacher, aber giftsprühender Stimme: »Dr. Martinelli, Sie scheinen zwischen der Enzephalitis 16 und der Sexualität eine Verbindung herstellen zu wollen. Sind Sie nicht im Begriff, sich nach der Mode zu richten?«
Sein Ton ist so aggressiv, daß mich die Lust überkommt, mit einer deftigen Unverschämtheit zu erwidern. Zum Beispiel: wenn Sexualität eine Mode ist, haben Sie sich wohl nicht sehr danach gerichtet. Statt dessen lege ich meine Handflächen auf den Tisch und sage mit gleichförmiger Stimme:
»Die Verbindung zwischen der Spermatogenese und Krankheiten, die auf den ersten Blick nichts mit dem Genitalsystem zu tun haben, ist nicht zu leugnen. Ihnen ist ebenso wie mir bekannt, daß – nach einer Untersuchung von Wissenschaftlern des medizinischen Zentrums Syrakus – Männer, die sich einer Vasektomie unterzogen, um ihre sexuellen Beziehungen unfruchtbar zu machen, für Arthritis, Gelenkrheumatismus und multiple Sklerose besonders anfällig sind.«
»Die Untersuchung von Syrakus ist mir bekannt«, sagt Skelton. »Aber in Anbetracht der geringen Anzahl untersuchter Fälle sieht das Forscherteam seine Schlußfolgerungen nicht als gesichert an.«
»Ich auch nicht«, versetze ich trocken.
»Alles in allem kommt es wenig auf die Art der Verbindung zwischen den beiden Phänomenen an«, sagt Matthews mit einer Sachlichkeit, für die ich ihm dankbar bin. »Tatsachen bleiben Tatsachen. Dr. Martinelli, Sie sagten, daß sich nach Ihren Statistiken kein einziger Junge im vorpubertären Alter unter |15|den Opfern der Enzephalitis 16 befindet. Würden Sie das gleiche von den Mädchen sagen?«
In diesem Augenblick wendet sich Cresby Matthews zu und stößt mit einer mich verwirrenden Arroganz ein kurzes höhnisches Lachen hervor. Er hätte diese Frage ganz bestimmt nicht gestellt: er hat meinen Bericht gelesen. Ich blicke ihn an. Er frohlockt. Dieser Bursche ist ein Imperialist. Ihm liegt nicht nur daran, Bescheid zu wissen. Er will siegen und verachten.
Eine Reaktion, die wenig mit der Ernsthaftigkeit des Problems zu tun hat. Schließlich sind wir nicht hier, um Matthews zu kontern, sondern um ihn dahin zu bringen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Ich sehe Matthews an und sage in jenem höflichen Ton, an dem er es mir gegenüber so sehr hat fehlen lassen: »Ich bin froh, daß Sie diesen Punkt hervorheben. Es ist ein sehr wichtiger Punkt. Weder in den USA noch im Ausland befindet sich unter den Opfern der Enzephalitis 16 ein Wesen weiblichen Geschlechts.«
Skelton und Matthews sind wie versteinert, besonders Staatssekretär Matthews. Vierschrötig und wie ein Koloß preßt er seine schweren behaarten Pranken gegeneinander; die Ellbogen auf dem Tisch, schiebt er sein Raubtiergebiß vor, sieht mich unter seinen dichten Brauen an und sagt in aggressivem Ton: »Ist es möglich, daß die Enzephalitis 16 sich an Frauen nicht heranwagt?«
Obwohl mir seine Formulierung wenig wissenschaftlich erscheint, antworte ich geduldig: »Das ist nicht der einzige Fall von Immunität der Frau gegenüber einer Krankheit, die man beim Mann beobachtet. Beispiel: die Hämophilie.«
»Was denn«, sagt Matthews, völlig durcheinandergebracht, »was hat die Hämophilie mit der Enzephalitis 16 zu tun?«
»Gar nichts«, sagt Cresby vernichtend. »Dr. Martinelli ist im Begriff, einen Vergleich zwischen zwei Immunitäten aufzustellen. Frauen sind gegenüber der Hämophilie und der Enzephalitis 16 völlig immun.«
»Und wie erklären Sie diese Immunität?« fragt Matthews mit jener gleichsam entrüsteten Naivität, die mir schon vorher an ihm aufgefallen war.
»Ich kann sie überhaupt nicht erklären«, sage ich. »Aber die Erfahrung beweist es.«
|16|Es folgt ein langes, drückendes Schweigen. Man braucht Zeit, um eine solche Tatsache zu verdauen. Mich setzt jedoch nicht das Schweigen in Erstaunen, sondern Mrs. White, besser gesagt: die Art, in der wir sie betrachten. Sie ist verdutzt, plötzlich alle männlichen Blicke auf sich gerichtet zu sehen. O nein, mit ihren fünfzig Jahren, grau von Kopf bis Fuß, und nicht einmal Spuren vergangener Schönheit, macht sie sich keine Illusionen! Aber sie ist es nicht gewöhnt, angesehen zu werden, weder so beharrlich noch von so vielen Männern auf einmal. Sie wird rot, irgendwie fühlt sie sich ihrer Immunität schuldig und deutet ein schüchternes, entschuldigendes Lächeln in Richtung des Staatssekretärs an. Dies eine Mal antwortet Matthews nicht mit dem zähneentblößten, strahlenden Lächeln des Berufspolitikers. Er sieht Mrs. White unverwandt und voller Groll lange an.
Ich bin sicher, daß das alles in Wirklichkeit nur zwei oder drei Sekunden dauert, aber als ich mir die Sitzung später wieder ins Gedächtnis rufe, sehe ich diesen Augenblick immer vor mir.
Aus meiner Unterredung mit Matthews ist nichts herausgekommen. Drei Wochen nach unserer Begegnung hat er die Öffentlichkeit noch nicht alarmiert, und es wurde keine der prophylaktischen Maßnahmen ergriffen, die ich gefordert hatte. Am meisten setzt mich in Erstaunen, daß sich die Presse bis jetzt nicht rührt. Wie so oft, haben für sie die außenpolitischen Angelegenheiten gegenüber den inneren den Vorrang. In diesem Augenblick haben die Massenmedien nur Augen und Ohren für Thailand und die folgenschweren Initiativen, die der Präsident dort ergriffen hat. Man reagiert gar nicht einmal mit Schweigen auf die Enzephalitis 16, sondern mit Desinteresse. Hier und da lese ich wohl irgendwelche Artikelchen über die Krankheit, aber nichts, was wirklich den Ernst der Situation zum Ausdruck bringt.
Den Neurologen entgeht er jedoch nicht. Meine Post und die Anrufe, die ich erhalte, bezeugen es. Diese Ärzte sind jedoch der Administration gegenüber sehr respektvoll, wie ich es selbst vor drei Wochen war: Sie vertrauen ihr und verlassen sich darauf, daß die von mir geleitete Kommission die erforderlichen Anordnungen trifft. Was die öffentliche Meinung betrifft, |17|mache ich eine niederschmetternde Entdeckung: Die Zahl der Todesfälle ist noch nicht hoch genug, um sie für das Problem empfänglich zu machen. Mehr noch, die Leute haben den Eindruck, daß eine Epidemie irgendwas ist, was noch in Afrika, Asien, schlimmstenfalls in Lateinamerika ausbrechen kann, aber nicht in den Vereinigten Staaten. Als ich gegenüber einem Redakteur der Washington Post ein Wort über meine Unruhe fallenließ, bin ich auf höflichen Skeptizismus gestoßen. Bei ihm wie bei vielen anderen schälen sich für mich Ansichten heraus, die einander ergänzen und sich in ihrer Wirkung steigern: blinder Glaube an die US-Medizin und ein anderer, nicht weniger blinder Glaube an die Fähigkeit der Administration, eine nationale Gefahr abzuwenden.
Ich muß sagen, die Verantwortung, die auf mir lastet und auf die ich völlig unvorbereitet war, bestürzt und erschreckt mich. Die Unruhe nagt so an mir, daß ich auf dem besten Wege bin, den Schlaf zu verlieren, und ich verbringe meine Nächte damit, mich zu fragen, was ich tun soll.
Mit Unbehagen stelle ich fest, daß Anita mir keine Hilfe ist. Seit die Präsidentschaftswahlen heranrücken, sehe ich sie immer weniger, und wenn ich sie sehe, spricht sie mit mir nur über die Wahlen oder über Thailand. Wenn es mir endlich gelingt, das Gespräch auf die Enzephalitis 16 und die Dringlichkeit einer Prophylaxe zu bringen, weicht sie einer klaren Antwort aus: Das HEW werde nicht zögern, die Maßnahmen zu ergreifen, die ich empfehle, sagt sie. Ein bißchen Geduld, Ralph. Es gibt nicht nur »deine« Epidemie.
Und ich komme schließlich zu der Überzeugung, daß meine Kommission und ich selbst einer Administration, die aus mir unbekannten Gründen nichts unternehmen kann oder will, als Alibi dienen. Am 28. September fasse ich – ohne Anita etwas zu sagen, die mit Zähnen und Krallen dagegen ankämpfen würde – einen Entschluß. Ich teile ihn meinen Kollegen mit und bitte Cresby um eine Unterredung, weil ich ihn davon in Kenntnis setzen will.
Der junge Glatzkopf ist nicht so quirlig wie gewöhnlich. Oh, gewiß, seine tiefschwarzen kleinen Augen sind unverändert lebhaft. Doch hat er angespannte Züge, eine sorgenvolle Nase und verbitterte Lippen. Ich sage ihm von vornherein, daß ich mich nicht länger zum Komplizen des Schweigens und der |18|Untätigkeit des HEW hergeben will: Ich lege mein Amt als Vorsitzender der Kommission nieder.
Die Überraschung: Cresby versucht nicht, mich davon abzubringen. Mit einer nicht zu überbietenden Kaltblütigkeit macht er mir Enthüllungen, die mich aus seinem Munde in Erstaunen versetzen. Die Unbeweglichkeit des HEW ist nicht, wie ich glaubte, auf Matthews zurückzuführen, sondern auf den Präsidenten. Er ist Opfer seiner eigenen Geschicklichkeit geworden. Zuerst hat er von dem Desinteresse profitiert, das die Presse für die Enzephalitis 16 bekundete; er hat meine Statistiken verschwiegen und meinen Bericht auf Eis gelegt. Warum? Weil er nach seiner Veröffentlichung gezwungen gewesen wäre, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn unpopulär gemacht hätten. Und wegen Thailand, wo er eine Art heimlichen Krieg führt, der niemandem entgeht, ist er schon unpopulär genug. Jetzt kann er meinen Bericht nicht mehr an die Öffentlichkeit bringen, ohne ein großes Geschrei auszulösen. Wegen dieser verspäteten Veröffentlichung würde man wütend über ihn herfallen, ihm alle Toten zur Last legen, und er würde die Präsidentschaftswahlen gegen Senator Sherman verlieren.
Ich höre. Ich bin sprachlos. Ich bin erstaunt, daß die Aussicht, wiedergewählt zu werden, für den Präsidenten Vorrang vor den Menschenleben hat, die er hätte retten können, wenn die notwendigen Maßnahmen rechtzeitig ergriffen worden wären. Cresby fängt an zu lachen: »Doktor, Sie tun dem Präsidenten Unrecht! Sie glauben, daß er in seiner Wiederwahl sein … persönliches Interesse sucht? Nicht im geringsten. Sie wissen nichts von der großen Mission, mit der sich der Präsident von Gott beauftragt glaubt: den amerikanischen Einfluß in Südostasien zu bewahren. Ganz einfach – wenn Thailand kracht, ist es wie ein Riegel, der aufspringt, und alles stürzt zusammen. Und allein der Präsident kann Thailand retten. Wenigstens glaubt er es. Sie verstehen, was im Hinblick darauf eine kleine Epidemie bedeutet, die hier in den USA erst vierzigtausend Menschen das Leben gekostet hat – weniger als die Verkehrsunfälle in einem Jahr.«
Eine merkwürdige politische Philosophie. Niemals zählt das, was uns hier zu schaffen macht, sondern was am andern Ende der Welt geschieht. Auf der anderen Seite gefällt mir die zynische Art nicht, in der dieser lebhafte junge Mann über seinen |19|Chef spricht. Dieser Cresby handelt alles zu sehr von oben ab, einschließlich der Enzephalitis 16. Er hat unrecht. Er selbst mag vielleicht unter einem Glücksstern geboren sein, aber die Krankheit ist nicht wie die Armut: So was holt man sich.
Ich sage es ihm. Ich weise noch darauf hin, daß nicht die Zahl der Fälle wichtig ist, sondern die Schnelligkeit ihrer Verbreitung.
Da macht mir Cresby unter Andeutungen einen Vorschlag, der mich verblüfft. Da ich ja beabsichtige, mein Amt niederzulegen – was sollte mich daran hindern, der Öffentlichkeit meinen vertraulichen Bericht zugänglich zu machen? Letzten Endes gehört dieser Bericht mir, da ich ihn abgefaßt habe.
Ich nehme diesen erstaunlichen Vorschlag mit Kälte auf. Mein Bericht ist kein persönliches Werk, sondern die kollektive Arbeit einer Kommission, von der man Geheimhaltung gefordert hatte. Dieses Geheimnis zu verletzen, würde mich vor ein ernsthaftes ethisches Problem stellen.
Darauf verlasse ich Cresby, ohne mich weiter zu äußern; ich bin hellhörig geworden, und mir stehen die Haare zu Berge. Mir schwant, daß sich der geniale junge Mann mit seinem Präsidenten überworfen hat und im Begriff ist zu manövrieren. Das Ziel ist klar: Er versucht, meine Gewissensskrupel auszunutzen, um seinen ehemaligen Chef zu Fall zu bringen. Und während er mich bei diesem Sturz mitreißen würde, bliebe er selbst außer Reichweite.
Ich rufe Anita an und bitte sie, zu mir zu kommen. Zuerst sagt sie nein: zuviel Arbeit. Ich lasse ein Wort über mein Gespräch mit Cresby fallen, und sofort sagt sie hastig: Okay, Ralph, ich bin um zehn bei dir.
Abends natürlich. Ich habe eine Menge Zeit. Ich bringe meinen zehnjährigen Sohn Dave ins Bett, besser gesagt, ich überwache sein Zubettgehen mit Diskretion. Er verdankt sein Leben nicht Anita – in deren Karriere Kinder nicht eingeplant sind –, sondern meiner ersten Frau, Eileen, die mit zweiunddreißig Jahren, als Dave vier war, an Septikämie starb.
Ich dusche mich und ziehe mir ebenfalls einen Pyjama an: einen dieser Pyjamas, die Anita so amüsieren, weil ich sie nach Maß arbeiten lasse. Vergeblich habe ich ihr erklärt, daß ein Mann wie ich, der nicht allzugroß ist, unmöglich Hosen tragen kann, die im Schritt zu lang sind.
|20|Um halb zehn gehe ich in Daves Zimmer, um ihn zu überzeugen, daß er das Licht ausmachen muß. Ein friedliches Bild. Der Airedaleterrier Buz – zur Zeit in Pension bei uns, denn er gehört einer Nachbarin – hat sich am Fußende des Bettes ausgestreckt, die Schnauze auf den Pfoten. Da er schon im Einschlafen begriffen ist, bereitet er mir einen minimalen Empfang: er öffnet nur ein Auge, und sein Schwanz schlägt gegen den Teppich. Dave rührt sich nicht. Er liest und stützt sich dabei auf ein zusammengedrücktes Kissen. Seine schwarzen Wimpern werfen einen dichten Schatten auf seine Wangen. Ich setze mich ans Fußende seines Bettes und betrachte ihn. Für sein Alter ist er eher klein, aber ganz gut gebaut; er hat ein ovales Gesicht, matte Haut und welliges, dunkelbraunes Haar. Die Statur, den Gesichtsschnitt, den Teint und die Wimpern hat er von mir. Die Augen sind Eileens Augen. Seit sechs Jahren vertiefe ich mich jeden Abend in diesen Anblick.
Es war nicht leicht, mir mein Leben einzurichten. Ich habe eine ausgezeichnete Nachbarin, die Dave morgens zur Schule bringt und ihn abends abholt; eine andere Nachbarin, die kinderlos ist, paßt bis zu meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus auf ihn auf.
Da ich gerade von meinen Nachbarn spreche – in der ersten Zeit nach meinem Einzug in unser Haus in Wesley Heights fragten sie sich, wenn sie einen Empfang gaben, »ob man die Martinellis einladen müßte«.
Dieses Zögern hielt nicht lange an. Dank Eileen bin ich von ihnen bald akzeptiert worden. Dank auch – ich zitiere – »meinem italienischen Charme«. Was darauf hinausläuft, daß sie schließlich mit einem Pluszeichen versahen, was sie, bevor sie mich kennenlernten, mit einem Minuszeichen versehen hatten. Auch das ist Rassismus, nur umgekehrt. Gut. Von dem Augenblick an, wo es freundschaftlich zugeht, will ich nicht den Überempfindlichen spielen. Vor meinen Nachbarn passiert es mir sogar, daß ich noch aufdrehe und italienischer als die Italiener bin. Sie sind hingerissen. Vor allem die Frauen.
»Ich mache aus, Ralph«, sagt Dave und belohnt mich damit für den Takt, mit dem ich ihn gewähren ließ, ohne ein Wort zu sagen.
Ich stehe auf und fahre mit der rechten Hand über Daves Kopf; dem Wunsch widerstehend, ihn zu umarmen (er mag es |21|nicht), gehe ich ins Wohnzimmer zurück, um auf meine bessere Hälfte zu warten, die ich so selten sehe.
In den Augen meiner Freunde, vor allem derer, die Eileen gekannt haben, scheint meine Wiederverheiratung unter solchen Bedingungen nicht gerechtfertigt. Sie haben recht. Ich entschuldige mich damit, daß ich keine andere Wahl hatte. Ich habe Anita geheiratet, weil mich meine ehemalige Schwiegermutter, die das Erziehungsrecht auf Dave beansprucht, der Unmoral beschuldigte, als sie von meiner Verbindung zu Anita erfuhr. Zwischen dieser Beschuldigung und mir ist jetzt die Wand einer Heiratsurkunde aufgerichtet.
Es ist eher ein dünner Vorhang. Das Zusammenleben ist nicht gerade alltäglich. Ich bin »die Glucke«, wie Anita sagt, ich habe von meinen italienischen Vorfahren den Familiensinn; damit bringe ich diese unsichtbare Ehefrau einfach zur Verzweiflung! Aber Anita ist mit dieser Situation völlig zufrieden. Und warum sollte sie es nicht sein? Sie hat es so gewollt.
Zehn Uhr: Da ist sie, dreißig Jahre, Haar mahagonifarben, Augen grün, Nase »fein ziseliert«. So jedenfalls beschreibt sie sich selbst in ihren Anwandlungen von Eitelkeit.
Sie kommt wie der Wind zur Tür herein und stürzt auf mich zu, ganz aufgeregt: Sie läßt mich kaum zu Wort kommen, so begierig ist sie, mich zu hören.
Sie ist doppelt entsetzt, aber in unterschiedlicher Schattierung. Mein Rücktritt geht noch an. Aber meinen Bericht der Presse übergeben! Das werde ich nicht tun! Das wäre scheußlich! Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen! Außerdem habe ich moralisch nicht das Recht! Der Bericht gehört nicht mir!
Ich warte, bis sich die Wogen glätten – bin aber trotzdem ein bißchen erstaunt, daß Anita die Moral für eine Administration bemüht, die nicht den kleinsten Finger rührt, um die öffentliche Gesundheit zu schützen. Als sie mit ihrem Tadeln am Ende ist, mache ich sie darauf aufmerksam, daß sich unter den gegebenen Umständen nicht eine, sondern zwei Pflichten ergeben: die formelle Pflicht, die sie so gut definierte – übrigens die gleiche, die ich selbst Cresbys Empfehlungen entgegenhielt –, und die wirkliche Pflicht gegenüber den Menschen dieses Landes, sie nämlich um jeden Preis vor der drohenden Gefahr zu warnen.
Nachdem das gesagt ist, besänftige ich ihren Schrecken. Von der Originalschrift meines Berichts, die im Besitz der Kommission |22|ist, habe ich zwar eine Kopie für mich behalten, doch wird sie in meinem Safe in der Bank unter Verschluß bleiben. Auf keinen Fall werde ich den Bericht veröffentlichen: Ich hätte viel zu große Angst, in der Öffentlichkeit eine Panikwelle auszulösen. Allerdings gedenke ich, falls das HEW sich weiterhin nicht rührt, mit der Presse Kontakt aufzunehmen – in meiner Eigenschaft als Arzt und Privatmann, nicht als ehemaliger Vorsitzender der Kommission.
Anita sieht mich an. Jetzt ist sie beruhigt und zufrieden. Sie setzt sich neben mich auf die Couch, ihre grünen Augen schillern, und zwar auf eine mir wohlbekannte Art. Diese Gerechtigkeit muß ich Anita widerfahren lassen: der schlimmste politische oder private Ärger nimmt ihr nie auf lange Zeit die Lust, mit einem Mann zu schlafen oder zu essen. Sobald der Ärger nachläßt, regt ein Hunger den anderen an, sie verwüstet mein Bett und plündert meinen Kühlschrank.
Ich bin also keineswegs erstaunt, sie wenige Minuten später in meiner Kochnische zu finden, wo sie Eier mit Schinken verschlingt, die sie sich eben gebraten hat. Ich nehme die Gelegenheit wahr, da sie den Mund voll hat und zuhören muß, um erneut mit allem Nachdruck und mit Leidenschaft für die Dringlichkeit der Maßnahmen, die ich fordere, zu plädieren. Und als sie mit dem Essen fertig ist, folge ich ihr, weiterplädierend, bis ins Schlafzimmer.
»Mein guter Ralph«, sagt Anita, die sich im ersten Glück der Verdauung bäuchlings quer über mein Bett gelegt hat, »dir sind ebensogut wie mir die letzten Nachrichten aus Thailand bekannt: Wir sind für einen zweiten Krieg in Südostasien reif. Ergebnis: Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen ist der Kurs des Vaters (so nennt sie den Präsidenten selbst bei mir aus Furcht vor einer Abhöranlage) sehr gesunken. Selbstverständlich werde ich dem Vater Bericht erstatten. Er muß wissen, welche Rolle Cresby bei alledem spielt. Vater hätte, nach meiner Meinung, Cresby nicht vor den Wahlen abkanzeln sollen. Diese kleine Natter weiß zuviel. Ralph, ich bitte dich, mach nicht so ein Gesicht! Du mußt verstehen! In der Politik ist man gezwungen, Entscheidungen zu treffen! Es gibt zwangsläufig Prioritäten. Zuerst Thailand retten, und um Thailand zu retten, die Wahlen gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt kann man also deine Enzephalitis nicht aufs Tapet bringen, man hat zu lange |23|gewartet, das wäre der schlimmste Fehler, man würde sagen: Und jetzt erst alarmiert ihr die Öffentlichkeit? Alle würden über uns herfallen, und Sherman hätte die Wahl gewonnen.«
Ich plädiere weiter, aber es ist völlig sinnlos. Aus Höflichkeit oder um das Thema zu wechseln, erkundigt sich Anita nach Dave. Es geht ihm nicht besonders. Etwas anämisch, Dave. Jetzt, da ich zurückgetreten und arbeitslos bin, werde ich mir vielleicht acht Tage nehmen, damit er eine Luftveränderung bekommt. Anita lächelt, und weil mich dieses Lächeln ärgert (ich weiß genau, was sie über meine Beziehungen zu Dave denkt), frage ich sie ziemlich aggressiv, ob sie es für eine Frau völlig normal findet, keine Kinder zu haben.
»Normal?« sagt sie verächtlich. »Ich weiß nicht, was das heißen soll, normal. Und ich sehe keinen Grund, warum meine Eierstöcke über meinen Lebenslauf entscheiden sollten. Bei mir entscheidet der Kopf.«
Daraufhin schläft sie ein, auf der Stelle, wie ein Wasserhahn, den man zudreht. Abgesehen von ihrer großen Begabung, ist Anita eine robuste Natur. Aber wahrscheinlich nicht von übertriebener Sensibilität geplagt. Als ich ihr die Ausbreitung der Enzephalitis 16 schilderte und ihr vom Tode Dr. Morleys erzählte, der das Reanimationszentrum des Krankenhauses leitete, in dem ich gearbeitet habe, zeigte sie sich nicht sehr betroffen. Dabei kennt sie ihn, sie hat mehrmals mit mir bei ihm gegessen.
Es ist klar, in diesen Dingen haben wir nicht die gleiche Wellenlänge, können sie nicht haben. Morleys Tod hat mich erschüttert, nicht zuletzt, warum soll ich es nicht zugeben, weil sein Schicksal das meine hätte sein können, wenn ich im Krankenhaus geblieben wäre, anstatt eine Kommission zu übernehmen.
Ich sehe Anita an. Ihr schönes, mahagonifarbenes Haar ist strahlenkranzförmig aufgelöst, sie schläft, wie sie sich hingelegt hat, quer über meinem Bett. Da ich sie nicht wecken will, werde ich mich mit der Couch im Wohnzimmer begnügen. Sie schläft völlig friedlich, ihr Gesicht wirkt selbst im Schlaf beherrscht. Klar, sie wird an der Enzephalitis 16 nicht sterben. Dieser Gedanke quält sie weder im Wachen noch im Träumen. Anita hat in dieser Hinsicht keine Angst. Nicht um sich und, wie ich fürchte, auch nicht um mich.
|24|Am nächsten Tag schicke ich mein Rücktrittsgesuch ab, und mittags ruft Anita mich an. Ein Anruf im Telegrammstil (die ständige Angst, abgehört zu werden). »Ralph, ich habe Vater informiert, den Bericht zu veröffentlichen kommt nicht in Frage, aber Matthews könnte im Fernsehen auftreten, um die Leute zu warnen und ihnen einige Empfehlungen zu geben.«
Ich hänge auf. Das ist ein halbherziges Versprechen, das eine halbherzige Maßnahme ankündigt. Gut. Ich werde, wie vorgesehen, für acht Tage wegfahren, und falls sich bis zu meiner Rückkehr nichts getan hat, bin ich entschlossen, endlich zu handeln.
Auf Jamaika, in einem abgelegenen Winkel der Blue Mountains, mittlere Höhenlage, miete ich ein kleines Bauernhaus ohne Komfort, ohne Radio, ohne Fernsehen, sogar ohne Stromanschluß, doch man hat von dort aus einen wundervollen Blick auf den südöstlichen Teil der Insel.
Nach diesem Ausflug in das primitive Leben, von dem Dave und ich erholt zurückkehren, lande ich in Washington, und sobald ich mein Gepäck bekommen und den Zoll passiert habe, kaufe ich die New York Times. Bestürzt lese ich darin auf der zweiten Seite lange Auszüge aus meinem Bericht.
Fiebernd kaufe ich alle Tageszeitungen. Ich überfliege sie. Welche erstaunliche Veränderung! Acht Tage zuvor sprach man nur von Thailand und den Präsidentschaftswahlen. Und heute gibt es nur ein Thema, ein einziges: die Enzephalitis 16. Überall lange Zitate aus meinem Geheimbericht und – implizit oder explizit – Anschuldigungen des Weißen Hauses, wegen des Verschweigens, wegen seiner Untätigkeit und seiner Unfähigkeit.
Denn ohne Frage, das ist eine »Indiskretion«, und für die Presse, die nicht an mich herankam, besteht kein Zweifel, daß ich der Autor bin und mich aus dem Staub gemacht habe. Selbstverständlich formuliert das niemand so. Es genügt zu sagen, daß ich mein Amt niedergelegt habe und »verschwunden« bin.
Zu Hause angelangt – es ist neun Uhr abends –, rufe ich Luigi Fabrello an, meinen Anwalt. Gellendes Geheul im Apparat: Wo warst du bloß? Ich habe gar keine Zeit, den Mund aufzumachen. Luigi heult von neuem: Kein Wort jetzt, ich komme.
Eine Stunde später steht er vor meiner Tür, dunkle Augen, tragisches Haar, römische Züge und auf den Wangen so schwarze |25|und kräftige Stoppeln, daß er immer wie unrasiert aussieht. »Mach dich darauf gefaßt, jeden Moment verhaftet zu werden«, sagt Luigi.
Nachdem er seinen kleinen Auftritt gehabt hat, beruhigt sich Luigi, hört mir zu und verfaßt mit mir, jedes Wort auf die Goldwaage legend, eine Erklärung für die New York Times, in der ich die Tatsachen richtigstelle. Dann entfernt er sich majestätisch, mit meinem Text, und empfiehlt mir, mit Anita erst am nächsten Tag in Verbindung zu treten, wenn meine Erklärung erschienen ist.
Doch am nächsten Tag – es ist ein Sonnabend – habe ich keine Zeit, Anita meine Rückkehr mitzuteilen. Um acht Uhr kommen zwei Polizisten – glücklicherweise schläft Dave noch – , und der ältere (der weit eher wie ein Universitätsprofessor aussieht, nicht wie einer von der Polizei) sagt höflich zu mir:
»Dr. Martinelli, ich habe ihnen nur eine einzige Frage zu stellen. Trifft es zu, daß Sie nach Ihrem Rücktritt eine Kopie Ihres Berichts behalten haben?«
»Ja, das stimmt.«
»Darf ich Sie bitten, mir diese Kopie zu zeigen?«
»Das ist heute nicht möglich. Sie liegt in meinem Safe in der Bank. Und die Bank hat geschlossen.«
»Wann haben Sie diese Kopie in Ihren Safe gebracht?«
»Am Tage meines Rücktritts: am 28. September.«
»Und sind Sie seitdem wieder in der Bank gewesen?«
»Nein. Ich bin am 29. nach Jamaika abgereist und erst gestern abend zurückgekehrt.«
Er nickt mit liebenswürdiger Miene. Ein merkwürdiger Polizist. Fünfzig Jahre, nachdenkliche Augen hinter einer dicken Brille, hohe Stirn, gutmütiges Gesicht und nicht zu überbietende höfliche Manieren.
»Gut«, sagt er. »Wenn es Ihnen recht ist, holen wir Sie Montag früh ab, um Ihren Safe in der Bank zu öffnen. Und darf ich Sie bitten, Dr. Martinelli, bis dahin in Washington zu bleiben und keine Journalisten zu empfangen.«
Sie gehen. Ich bin außer mir. Die Tatsache, daß ich nach meinem Rücktritt eine Kopie meines Berichts behalten habe, belastet mich ohne Zweifel. Doch ich habe es nur Anita gesagt. Offensichtlich hat sie mich verraten.
Ich nehme den Hörer ab und rufe sie an.
»Bist du es, Ralph?«
Die in der Stimme mitschwingende Freude schneidet mir ins Herz. Ich reiße mich zusammen und sage sehr kurz, ohne die Stimme zu heben: »Anita, ich habe dir nur eins zu sagen. Nach diesem kleinen Bravourstück von Denunziation, das du dir geleistet hast, kann für mich keine Rede mehr davon sein, dich zu sehen, dich zu hören oder mit dir zu sprechen.«
Ich hänge auf. Meine Beine zittern, und der Schweiß rinnt mir über die Wangen.
Ich verbringe ein sehr schlechtes Wochenende. Dieser sanfte Polizist verheißt mir nichts Gutes. Ich bin darauf gefaßt, am kommenden Montag verhaftet zu werden, und ohne Luigis Rat wäre ich fast versucht, sofort zu fliehen und mich mit Dave irgendwo zu verstecken. Ich sehe eine grausame Ungerechtigkeit darin, daß ich in dieser Affäre als einziger versucht habe, meine Pflicht zu tun, und nun als einziger vom Arm des Gesetzes bedroht werde.
Nicht weniger bin ich über Anitas Verhalten bestürzt, auch weil ich das Gefühl habe, daß ich übereilt und zu brutal Schluß gemacht habe, ohne ihr Zeit zu lassen, sich zu erklären. Ich kann einfach nicht glauben, daß sie mich verraten hat, sosehr ich mir das einzureden versuche.
Und noch etwas. Am Sonnabend nachmittag, als ich im Taxi durch das Zentrum fuhr, sah ich einen Mann plötzlich auf dem Bürgersteig zusammenbrechen. Das konnte durchaus etwas ganz anderes als die Enzephalitis 16 sein. Doch ich ließ das Taxi nicht halten. Der Selbsterhaltungstrieb siegte über meine berufliche Pflicht. Seither denke ich unablässig an dieses Versagen, und ich kann es mir nicht verzeihen.
Endlich kommt der Montag; gleich um neun erscheint der ältere Polizist, allein. Mit liebenswürdiger Miene nennt er erneut seinen Namen, V. C. Moore, doch sitzt er während der ganzen Fahrt zur Bank schweigend neben mir. Ich öffne meinen Safe und reiche ihm die Kopie des Berichts.
Er blättert darin, und zwar mit System. Auf einem kleinen Zettel hat er Seitenzahlen notiert. Seine Prüfung dauert nicht länger als fünf Minuten. Danach schließt er die Akte und gibt sie mir mit sanftem Lächeln zurück.
|27|»Dr. Martinelli, jetzt sind Sie völlig aus der Affäre heraus. Und ich bin froh darüber. Ich habe niemals wirklich an Ihre Schuld geglaubt. Ihr psychologisches Profil, so wie wir es kennen, ließ in keiner Weise darauf schließen. Auf Wiedersehen, Dr. Martinelli.«
Unvermittelt macht er sich aus dem Staube, verschwindet wie durch eine Falltür, und ich bleibe allein vor meinem geöffnetem Safe zurück und bin überrascht, wieder auf freiem Fuß zu sein. Moore hat mir nichts erklärt, und er ist so schnell verschwunden, daß ich keine Zeit hatte, ihn zu fragen, warum mich meine Kopie entlastet.
Die Überraschungen nehmen kein Ende. Zu Hause ruft mich eine Sekretärin des Weißen Hauses an: Mrs. Martinelli erwartet mich um dreizehn Uhr im chinesischen Restaurant. Ich habe keine Zeit, ja oder nein zu sagen, sie hängt auf.
So ungeniert diese Art, sich mit mir zu verabreden, sein mag, ich will hingehen; ich fange an, meinen Anruf vom Sonnabend zu bereuen.
Früher verkehrten Anita und ich im Yenching Palace, aber seitdem die Pekinger Chinesen dort fast alle ihre Mahlzeiten einnehmen, schleppt mich Anita, die an Spionagewahn leidet, zu Mr. Twang, der außer seiner guten Küche den zusätzlichen Vorzug hat, daß er uns in der ersten Etage einen gemütlichen kleinen Raum reserviert. Dort thront Anita schon auf einer roten Plüschbank, ausgesucht gekleidet, die Stirn von einer kleinen bunten Lampe mit goldenen Fransen beleuchtet. Ich entschuldige mich wegen meiner Verspätung, setze mich neben sie, lobe ihre Aufmachung. Verlorene Mühe. Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat, daß sich ein Mann von einem Kompliment entwaffnen läßt, niemals aber eine Frau. Anita schaut mich mit ihren grünen Augen an, ohne ein Wort zu sagen.
Waffenstillstand. Mrs. Twang nimmt die Bestellung entgegen. Sie trägt ein schwarzes Seidenkleid mit einem kleinen Schlitz, der ihr rechtes Bein bis zur Wade entblößt, und auf den Lippen ein archaisches Lächeln. Es weicht nicht aus ihrem Gesicht, solange ihr kleiner Zettel nicht voll ist. Danach löst es sich auf, sie neigt den Kopf und zieht sich zurück. Meine Augen folgen dem kleinen Schlitz ihres Kleides.
»Immer noch von dieser dicken Wade fasziniert?« sagt Anita.
|28|Der Angriff ist scharf, und die grünen Augen sind ohne Mitleid. Ich schweige. Ich will das Gefecht nicht mit der Wade von Mrs. Twang einleiten.
»Welche Überraschung!« sagt Anita. »Ich hatte keineswegs damit gerechnet, dich zu sehen. Ich war darauf gefaßt, in Einsamkeit sterben zu müssen.«
»Hör doch, Anita.«
»Was denn, du sprichst mit mir? Und ich glaubte, du wolltest mich nie mehr sehen, sprechen und hören! Wiederhole ich deine brillante Formulierung in der richtigen Reihenfolge?«
»Anita, ich bitte dich.«
»Du bittest mich? Welche Ehre! Ich bin also wieder sichtbar, hörbar, wortbegabt!«
»Und wie!«
»Selbstverständlich kann ich schweigen, wenn es dich stört, daß ich den Mund aufmache.«
»Nein. Ich glaube im Gegenteil, daß eine Aussprache unbedingt nötig ist.«
»Eine Aussprache! Mit einer Denunziantin!«
»Wenigstens was mich betrifft, habe ich dir einiges zu sagen.«
»Noch so ein kleines Bravourstück von Denunziation, das du vielleicht aufgedeckt hast?«
»Hör auf, Anita, ich bitte dich, es ist wichtig.«
»Wichtig für wen?«
»Anita, es gibt einen neuen Gesichtspunkt.«
»Diesen neuen Gesichtspunkt kenne ich. Es ist die Art, wie du mich behandelst.«
»Der neue Gesichtspunkt betrifft nicht dich.«
»Oh, mein Gott! Eine Rivalin!«
»Hör auf, Anita!«
»Keine Phallokratie, Doktor! Auch als Paria habe ich das Recht, mich zu äußern.«
»Anita, hast du Moore gesagt, daß ich von dem Bericht eine Kopie behalten hatte? Ja oder nein?«
»Ja, Euer Ehren. Und so habe ich Euch entlastet.«
»Du weißt es also?«
»Sicher. Nachdem Moore deine Bank verlassen hatte, rief er mich an.«
»Und wie kommt es, daß meine Kopie ausreicht, meine Schuldlosigkeit nachzuweisen?«
|29|»Langsam, mein Herr. Zuerst Ihre Entschuldigung.«
»Entschuldigung vor jeder Erklärung?«
»Sicher. Welches Verdienst wäre es schon, wenn du dich hinterher entschuldigst?«
»Ich entschuldige mich.«
Die grünen Augen heften sich auf mich. Sie sind keineswegs besänftigt. Anita sagt aufgebracht:
»Ralph, du warst am Telefon ekelhaft, einfach ekelhaft.«
»Ich habe mich schon entschuldigt.«
»Oh, wie leicht das ist! Man sagt: ich entschuldige mich, und man ist quitt. Alles ist vergessen!«
»Oh, nein!« sage ich verzweifelt. »Entschuldigung hin, Entschuldigung her, es wird noch oft von diesem Anruf die Rede sein!«
Mrs. Twang erscheint auf der Bildfläche und trägt lächelnd ein Tablett, mit Schalen und kleinen Tellern überladen, die sie auf dem Tisch verteilt. Ihre Gesten sind von der gleichen Art wie ihr Lächeln. Präzise, schnell, leicht.
Sie geht hinaus. Was meine Entschuldigungen nicht bewirkten, schaffen die Krapfen mit Krabben. Anita schlingt, und ihre schlechte Laune legt sich.
»Selbstverständlich habe ich dich keinen Augenblick für den Urheber der Indiskretion gehalten«, sagt sie mit vollem Mund.
»Warum?«
Sie kaut, schlingt und sagt in kaum spürbar verächtlichem Ton: »Dave.«
»Wieso Dave?«
»Gefängnis riskieren und Dave deiner Schwiegermutter ausliefern?«
»Daran habe ich nicht gedacht.«
»Du hast daran nicht bewußt gedacht.«
Sie angelt sich mit ihren Stäbchen einen zweiten Krapfen und stopft ihn in sich hinein. Ich habe noch nicht mit dem Essen angefangen. Ich sehe sie an. Sie fasziniert mich gleichermaßen durch ihren Appetit und die Kenntnis, die sie von meinen Reaktionen hat.
»Zweiter Punkt: In der Fotokopie, die die New York Times hat, wurden die Tippfehler mit der Hand korrigiert.«
»Und?«
»Du bist ein Faulpelz.«
»Ja, wenn du einen Bericht oder einen Artikel in drei Exemplaren schreiben läßt, korrigierst du niemals die Tippfehler in deinem persönlichen Exemplar. Ich war also sicher, daß die an die New York Times geschickte Fotokopie nicht von deinem Exemplar angefertigt worden ist, und ich habe Moore gebeten, das nachzuprüfen.«
Ich fühle mich ein bißchen erdrückt: Ihr entgeht auch gar nichts. Sie erinnert sich an alles, und im gegebenen Augenblick handelt sie. Und ich habe sie in dem Augenblick, als sie für mich in die Bresche sprang, durch den Dreck gezogen.
»Anita, was soll ich jetzt, wo ich es weiß, tun?« frage ich. »Mich dir zu Füßen werfen? Mich im Staube winden?«
Sie legt ihre linke Hand auf meine rechte und sagt mit einer Herzlichkeit, die an der Grenze der Herablassung liegt: »Du bist charmant, Ralph, das ist deine einzige Entschuldigung.«
Dabei verschlingt sie einen Krapfen. Ich schweige, nicht übermäßig zufrieden. Ich neige zu der Annahme, daß ihre Großzügigkeit mich demütigt.
»Wer hat diese Fotokopie an die New York Times geschickt? Cresby?«
»Wer sonst?«
»Hat Moore Beweise?«
»Nein. Und außerdem, was macht das schon? Vater ist sowieso erledigt.«
Und bei diesem »sowieso« sieht sie seltsamerweise nicht sonderlich betrübt aus. Im Gegenteil, sie ist voller Elan und aufgeräumt … Ich sehe sie an. Ich bin immmer noch nicht dazu gekommen, mit meiner Mahlzeit zu beginnen. Dabei wäre es höchste Zeit. Nachdem sie ihre Krapfen verschlungen hat, ist sie im Begriff, sich über meine herzumachen. Was sie nicht hindert, gleichzeitig zu sprechen.
»Du warst zehn Tage fort, Ralph. Ebensowenig wie die Presse kennst du die letzten Statistiken über die Enzephalitis 16. Es ist entsetzlich (aber sie sieht nur mäßig entsetzt aus). Und es gibt Schlimmeres, Ralph, viel Schlimmeres. Wir wissen, daß die großen Versicherungsgesellschaften erwägen, die Lebensversicherungsverträge aufzukündigen.«
»Haben sie das Recht dazu?«
»Sie werden es sich nehmen. Vater ist fällig, Ralph. Seine |31|Quote ist bei der letzten Gallup-Umfrage auf 32 Prozent gesunken.«
»Aber Senator Sherman hat auch einige Probleme. Ich habe Sonnabend in der Presse gelesen, daß sein Vize einen Infarkt hatte. Sherman muß so schnell wie möglich einen anderen Stellvertreter finden. Das ist nicht so einfach.«
»Schon passiert. Er hat sich entschieden«, sagt Anita.
»Woher weißt du das?«
»Sie hat mich angerufen.«
Ich sehe Anita an.
»Sie? Es ist eine Frau? Eine Frau, eine Vizepräsidentin?«
»Ich glaube, daß sich Sherman unter den gegenwärtigen Umständen (sie betont das) gleichzeitig als sehr realistisch und sehr geschickt erwies, indem er eine Frau zum Vizepräsidenten machte«, sagt Anita.
Sie klemmt einen Krapfen zwischen ihre beiden Stäbchen und verschlingt ihn.
»Wer ist es?«
»Sarah Bedford.«
Ich schneide eine Grimasse. Es gibt viele Spielarten von LIB1, Sarah Bedford gehört zu der radikalsten.
»Und was hat sie dir am Telefon gesagt?«
»Daß sie sehr gut versteht, daß ich im Augenblick an Vaters Seite bleibe, um ihn in seiner Niederlage zu trösten. Aber nach den Wahlen zählt sie auf mich.«
»Als Sekretärin?«
»Als Beraterin.«
Kurze Pause.
»Das ist ein Aufstieg«, sage ich, abweisender als beabsichtigt.
Aber Anita bemerkt meine Zurückhaltung nicht. Sie hört mir nicht zu. Sie sieht mich kaum. Ihre grünen Augen glänzen lebhaft, triumphierend wirft sie ihr mahagonifarbenes Haar zurück und sagt mit Feuer: »Es ist ein wunderbarer Aufstieg, Ralph! Aber nicht nur für Sarah und für mich! Für die Frau! Überleg doch, Ralph! Wenn Sherman stirbt, wird Sarah die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten.«
Ich überlege, da man mich ja dazu auffordert. Ich empfinde |32|keine besondere Sympathie für Sherman. Ich habe ihn zwei- oder dreimal auf dem Bildschirm gesehen, er ist ein Mann von fünfundvierzig Jahren, von athletischer Gestalt und jünger aussehend. Niemand hätte auch nur eine Sekunde lang auf den Gedanken kommen können, daß der Tod ihn in absehbarer Zeit bedrohen würde – gäbe es nicht, wie Anita taktvoll sagt, die Umstände. Und ich möchte schwören, Anita ist nicht die einzige, die sich diesen Tod ausmalte, ihn voraussah und sogar herbeiwünschte. Zu irgend etwas ist das Unglück also nütze, weil es – wie waren ihre Worte? – diesem »wunderbaren Aufstieg« dient.
»Laß mir trotzdem ein oder zwei Krapfen«, sage ich nach einer Weile.
Anita hört auf zu kauen, wirft einen Blick auf den Teller, sieht mich an und fängt an zu lachen. Ich lache auch, etwas verspätet und ohne Freude.
Erfüllter Wunsch. Eingetretene Prophezeiung. Die Epidemie rafft Präsident Sherman einen Monat nach seiner Wahl dahin, und Sarah Bedford nimmt das Schicksal der Vereinigten Staaten in ihre festen kleinen Hände.
Zu diesem Zeitpunkt bin ich nicht mehr in Washington. Ich wohne also weder dem Aufstieg Sarah Bedfords noch dem gleichzeitigen Aufstieg Anitas bei. Mich hat der Helsingforth-Konzern engagiert, und ich leite in Blueville (Vermont) ein Laboratorium für virologische Forschungen über die Enzephalitis 16. Dave ist bei mir.