KAPITEL 15
Der Weg nach Ursann
Am nächsten Morgen ritten Rijana und Ariac weiter in Richtung Norden. Sie dachten darüber nach, in Catharga zu überwintern. Allerdings wurde es langsam ziemlich gefährlich in den Wäldern. Nach einigen Tagen kreuzten immer mehr Soldaten ihren Weg. Rijana glaubte zu wissen, dass sie das ihren Eltern zu verdanken hatte. Sie war zwar noch immer nachdenklicher gestimmt als sonst, aber Ariac sah erleichtert, dass sie wohl wirklich mit ihren Eltern abgeschlossen hatte und nicht mehr ganz so traurig war. Einige Tage lang regnete es ununterbrochen. Die beiden waren sehr froh um ihre Elfenmäntel, die auch den stärksten Regen nicht durchließen. Einmal kämpften Rijana und Ariac gegen eine Gruppe von drei Soldaten, die sich hinterrücks angeschlichen hatten. Die Männer in den roten Umhängen konnten von Rijana und Ariac aber schnell erledigt werden, ohne dass den beiden selbst etwas passiert war. Dann hörte der Regen auf, und Rijana und Ariac mussten wachsam sein, denn ihre Spuren waren auf dem weichen Boden gut zu sehen. Eigentlich wollten sie in Richtung Westen abbiegen, um nach Catharga zu gelangen, aber ihre Pläne wurden durchkreuzt.
Es war ein schöner, sonniger Herbsttag. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und der Boden dampfte nach einem Regenschauer. Rijana und Ariac trabten nebeneinander durch die weit auseinander stehenden Bäume des nördlichen Gebietes von Northfort. Plötzlich tauchten westlich von ihnen Soldaten in roten Umhängen auf. Ariac parierte Nawárr erschrocken durch und blickte sich um. Auch von Süden her kamen mehrere Soldaten.
»Wir müssen fliehen«, rief er, »es sind zu viele.«
Rijana nickte und wendete Lenya in Richtung Norden. Ariac löste seinen Bogen vom Sattel. »Schnell, reite los, ich halte noch ein paar auf«, rief er.
Rijana galoppierte an. Hinter sich hörte sie Schreie, und als sie sich umdrehte, kam zu ihrer Erleichterung Ariac hinterhergeprescht. Sie galoppierten eine ganze Zeit lang im Zickzack durch die Bäume, aber die Soldaten ließen sich nicht abschütteln. Ariac hielt kurz an und hob den Bogen. Rijana, die Nawárrs Sprünge nicht mehr hinter sich hörte, drehte sich kurz um und sah erschrocken, wie Ariac plötzlich getroffen wurde und sich überschlagend vom Pferd fiel.
»Ariac!«, schrie sie panisch und wendete ihr Pferd.
Schon kamen die Soldaten näher. Erleichtert sah sie, dass Ariac sich gerade mühsam wieder aufrappelte. Mit ihrem Bogen schoss sie einen Soldaten vom Pferd.
»Kannst du reiten, Ariac?«, fragte sie mit ängstlich aufgerissenen Augen.
Er nickte, presste sich eine Hand auf die Schulter und zog sich wieder in den Sattel. Die beiden galoppierten in rasendem Tempo durch den Wald. Rijana warf immer wieder ängstliche Blick nach hinten, aber Ariac hob beruhigend die Hand. Als die Soldaten ein wenig zurückgefallen waren, hielt Rijana abrupt an.
»Was ist mit dir?«, fragte sie ängstlich.
»Nichts«, erwiderte Ariac mit zusammengebissenen Zähnen.
»Aber du blutest ziemlich heftig«, sagte sie und blickte auf sein durchgeweichtes Hemd. »Wir sollten das zumindest verbinden.«
Ariac schüttelte den Kopf. »Wir müssen weiter, sie sind hinter uns.«
Tatsächlich hörte man bereits wieder Schreie und galoppierende Hufe. Rijana wollte noch etwas sagen, aber Ariac galoppierte bereits an ihr vorbei, immer weiter in Richtung Norden durch die Bäume hindurch. Er sprang über Bäche und umgekippte Bäume. Er galoppierte am Ufer eines Sees entlang in der Hoffnung, die Soldaten würden so ihre Spur verlieren. Auch als es bereits dämmerte, hielt er nicht an. Wahrscheinlich hatten sie jetzt die Grenze nach Errindale passiert, denn es wurde steiniger, die Wälder noch lichter, und der Boden war mit blühendem Heidekraut bewachsen. Man hörte schon seit einiger Zeit keine Rufe oder Pferde mehr. Endlich hielt Ariac hinter einer Gruppe Felsen an. Er ließ sich vom Pferd rutschen und sagte keuchend: »Ich glaube, wir haben sie abgehängt, wir können kurz ausruhen.«
Rijana sprang von ihrer Stute und nahm Ariacs Gesicht in ihre Hände. Er atmete heftig und hatte die linke Hand gegen die rechte Schulter gepresst.
»Was ist los? Hat dich ein Pfeil erwischt?«
Er schüttelte den Kopf und ließ sich langsam auf den Boden sinken.
»Ein Armbrustbolzen, aber er ist zum Glück durchgegangen.«
Rijana betrachtete seine Schulter im schwindenden Licht.
»Aber es blutet so heftig«, sagte sie unglücklich und begann, in den Satteltaschen nach den Kräutern zu kramen, die Leá ihnen mitgegeben hatte.
»Es ist nicht schlimm«, murmelte er und lehnte den Kopf gegen einen der Felsen.
Rijana hatte endlich saubere Stoffstreifen und etwas von dem Kraut, das Blutungen stoppte, gefunden. Sie zerstampfte die Kräuter zu einem Brei und begann, Ariacs Hemd aufzuschnüren. Er grinste sie müde an.
»Was hast du vor?«
Sie schnaubte und sagte: »Deine Schulter verbinden, was sonst?«
»Schade, wenn du sonst mein Hemd aufschnürst, dann …«
»Ariac!«, rief sie empört und begann, die Kräuter in beide Seiten der Wunde zu drücken.
Er stöhnte unterdrückt auf und murmelte: »Sonst ist es angenehmer.«
Rijana schüttelte den Kopf, wickelte einige Streifen Stoff um seine Schulter und zog fest an.
»Ich sollte dir einen Tee kochen«, murmelte sie und streichelte ihm über das Gesicht.
Ariac schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich, sie könnten das Feuer sehen.« Er nahm ihre Hand und sagte: »Danke, mir geht es gut. Ein Durchschuss ist besser, als wenn der Bolzen noch drinsteckt. Er hat nicht einmal den Knochen erwischt.«
Rijana machte ein zweifelndes Gesicht und blickte ihn ängstlich an. »Aber du hast ziemlich viel Blut verloren.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht schlimm.«
»Bist du durstig?«
Er nickte und wollte sich erheben. Rijana drückte ihn sanft zurück und ging zu den Pferden, um den Wasserschlauch zu holen. Ariac trank durstig und ließ sich zurück an den Felsen sinken.
»Danke«, flüsterte er und schloss die Augen.
Rijana beobachtete ihn besorgt. Als ganz in der Nähe ein Geräusch zu hören war, schreckten beide alarmiert hoch. Aber es war nur ein Reh, das durch das Unterholz brach. Rijana packte Ariac am Arm und sagte: »Leg dich hin und schlaf, ich passe auf.«
Ariac lächelte sie an. »Mach dir keine Gedanken, ich bin wirklich in Ordnung. Also gut«, gab er schließlich nach und wickelte sich in die Decke.
Rijana stand auf, stellte sich vor die Felsen und blickte in die Nacht hinaus. Mehrmals ging sie zu ihm, weckte ihn aber nicht auf. Zum Glück blieb alles ruhig.
Als der Morgen dämmerte und die Pferde unruhig wurden, erwachte Ariac von selbst. Er setzte sich auf. Ihm war ein wenig schwindlig, und seine Schulter tat ihm weh, aber zumindest verlor er kein Blut mehr.
Kurz darauf kam Rijana zurück. Er blinzelte sie an: »Warum hast du mich nicht geweckt?«
Statt einer Antwort legte sie ihm eine Hand auf die Stirn und sagte erschrocken: »Du hast Fieber.«
»Ach was«, erwiderte er und erhob sich schwankend. Vor seinen Augen verschwamm alles, wahrscheinlich hatte Rijana Recht.
»Leg dich wieder hin«, verlangte sie.
Aber Ariac schüttelte den Kopf und schwankte zu Nawárr.
»Vielleicht habe ich ein wenig Fieber, aber das ist nicht weiter schlimm. Wir müssen weg, die Soldaten können nicht weit hinter uns sein.«
Rijana nahm seine Hand, die um einiges wärmer war. »Du kannst doch jetzt nicht reiten«, sagte sie entsetzt.
»Es geht«, erwiderte er und hob mit zusammengebissenen Zähnen den Sattel hoch.
»Warte«, erwiderte Rijana, »ich mach das für dich.«
Seufzend ließ er sich auf einen niedrigen Felsbrocken sinken.
Rijana sattelte die Pferde auf und beobachtete Ariac besorgt, als der sich mühsam in den Sattel zog.
»Aber sag, wenn du nicht mehr weiterkannst«, verlangte sie.
Ariac nickte und folgte Rijana, die im Schritt durch die Bäume ritt.
»Wir müssen galoppieren«, verlangte Ariac nach einer Weile.
»Aber …«, rief sie nach hinten, doch er nickte nachdrücklich. Wenn sie den Soldaten endgültig entkommen wollten, mussten sie sich beeilen.
Sie ritten eine ganze Zeit lang durch den Wald. Ariac drängte Rijana immer wieder weiterzureiten. Gegen Mittag glaubten sie, erneut Pferdehufe zu hören, und galoppierten noch, bis die Sonne zu sinken begann. Dann hielt Rijana energisch hinter einem Hügel an. Ariac sah reichlich blass aus, seine Augen glänzten fiebrig, und er saß zusammengesunken auf dem Pferd.
»Steig ab«, verlangte sie und hielt ihm eine Hand hin.
»Wir sollten noch ein wenig weiter«, murmelte er, ließ sich jedoch langsam nach unten gleiten.
Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, wollte das aber nicht zeigen und atmete einmal tief durch. Dann schwankte er zum nächstbesten Baum und lächelte Rijana aufmunternd zu, die ihm den Wasserschlauch hinhielt.
Sie wickelte den Verband ab und sagte: »Die Wunde hat sich etwas entzündet.«
»Nicht so schlimm«, murmelte Ariac und lehnte den Kopf gegen den Baumstamm.
Rijana holte wieder einige Kräuter hervor, von denen sie glaubte, dass sie Wunden schlossen und gegen Entzündungen halfen, aber ganz sicher war sie sich nicht.
»Ich hoffe, das hilft«, murmelte sie.
»Natürlich«, antwortete Ariac mit einem aufmunternden Lächeln. In der Nähe hörte Rijana einen kleinen Bach.
»Ich bin gleich zurück«, sagte sie.
Als Rijana zurückkam, war Ariac scheinbar eingedöst. Sie entzündete ein kleines Feuer und begann, einen Tee aus Weidenrinde zu kochen. Anschließend ging sie zu Ariac und legte ihm ein kaltes Tuch auf die heiße Stirn.
Er öffnete etwas mühsam die Augen, und sie flüsterte: »Trink das bitte.«
Er runzelte die Stirn. »Was ist das?« »Tee aus Weidenrinde«, antwortete sie und hielt ihm eine Schale hin.
Ariac erhob sich ein wenig und sagte missbilligend: »Du solltest doch kein Feuer entzünden.«
»Ich mache es gleich wieder aus«, erwiderte sie, »trink das, dann sinkt dein Fieber.«
Er seufzte und trank die Schale mit dem Tee aus. Rijana schüttelte den Rest des Tees in die beiden Schüsseln und deckte sie zu. Anschließend löschte sie das Feuer und setzte sich neben Ariac.
»Wie geht es dir?«, fragte sie ängstlich.
Er lächelte und nahm ihre Hand in seine. »Ganz gut, bitte mach dir keine Sorgen.«
Sie nahm das bereits wieder heiße Tuch von seiner Stirn. »Aber du hast Fieber«, sagte sie unglücklich.
»Das geht vorbei«, antwortete er und legte seinen Kopf an ihre Schulter. »Es ist schön, dass du hier bist«, murmelte er und war kurz darauf eingeschlafen.
Rijana ließ ihn vorsichtig auf den Boden sinken, holte die beiden Decken und legte sie über ihn. Sie lief noch einmal auf den Hügel, aber alles war ruhig. Anschließend tauchte sie noch einmal die Tücher ins kalte Wasser und legte sie Ariac auf die Stirn, woraufhin er leise stöhnte, kurz aufwachte, aber gleich wieder einschlief.
Später in der Nacht erwachte er, als Rijana ihre Hand auf seine Stirn legte.
»Trink noch etwas, dann kannst du wieder schlafen«, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf, setzte sich auf und trank dann von dem Tee.
»Nein, jetzt schläfst du«, sagte er kurz darauf.
»Ariac, du bist verletzt, du brauchst den Schlaf«, erwiderte sie.
Er lächelte sie liebevoll an. »Ich habe solche Sachen schon ganz allein durchgestanden. In Ursann hatte ich niemanden, der mir Wasser gebracht oder Tee gekocht hat.«
Sie setzte sich neben ihn und blickte ihn überrascht an. Er hatte noch nie von Ursann gesprochen.
»Aber sie müssen euch doch geholfen haben, wenn ihr verletzt wart«, sagte sie entsetzt.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, jeder war auf sich gestellt. Nur die Starken haben überlebt. In Ursann hast du dich entweder allein zur Ruine von Naravaack zurückgeschleppt, oder du bist von den Krähen gefressen worden.«
Rijana schüttelte fassungslos den Kopf und nahm seine Hand. Ariac fuhr fort und schien in eine andere Zeit zu blicken. »Ich war vielleicht fünfzehn, als einer der älteren Jungen mir einfach mitten in den Bergen das Schwert in den Rücken gerammt hat.« Er lächelte bitter. »Da musste ich auch allein zurechtkommen.«
»Das kann doch nicht sein«, flüsterte Rijana. »Aber ihr wart doch Gefährten. Jemand hätte dir helfen müssen.«
»In Ursann herrschen andere Gesetzte, wobei es mir ja noch gut erging.«
»Wieso?«, fragte sie.
»Solange du nicht siebzehn bist, achten sie sogar noch ein wenig auf dich, denn du könntest ja einer der Sieben sein. Wenn sich herausstellt, dass du es nicht bist, lassen sie dich gnadenlos verrecken.«
Rijana drückte Ariacs Hand. »Das ist ja furchtbar. Ich habe früher oft an dich denken müssen, aber ich hatte keine Ahnung, wie schrecklich es dir ergangen ist.«
Ariac lächelte müde. »Du hast mich, ohne es zu wissen, vor dem Verrücktwerden gerettet.«
Sie runzelte die Stirn. Ariac erzählte nun von den grausamen Bestrafungen, den Peitschenhieben, den vielen Tagen und Nächten in dem engen Verlies oder auf dem eiskalten Turm. Er holte den Stein aus der Tasche, den er immer bei sich getragen hatte.
»Das war meine letzte Verbindung zu meinem alten Leben, die mich immer daran erinnert hat, wer ich wirklich bin«, sagte er zum Schluss. »So konnten Scurr und Worran mich nicht vollständig brechen und zu ihrem Werkzeug machen.« Er runzelte die Stirn. »Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie behaupteten, ihr hättet meinen Clan umgebracht.«
Rijana standen Tränen in den Augen. Sie drückte seinen Kopf an ihre Schulter und streichelte ihm über das Gesicht.
»Es tut mir so leid. Das muss furchtbar gewesen sein.«
Er nickte schläfrig. »Aber jetzt ist es vorbei, jetzt weiß ich, wo ich hingehöre.«
»Ich werde dir helfen, das alles zu vergessen«, flüsterte sie und streichelte ihn, bis er wieder eingeschlafen war.
 
Am Morgen war das Fieber fast weg, und auch Ariacs Schulter sah besser aus.
Er zwinkerte Rijana zu. »Siehst du, habe ich doch gleich gesagt.«
Sie lächelte erleichtert und umarmte ihn fest. Rijana musste an die Dinge denken, die Ariac ihr in der Nacht zuvor erzählt hatte. Er selbst konnte sich kaum noch erinnern. Das Ganze war zu einer diffusen Mischung aus Worten und Fieberträumen verschwommen. Die beiden brachen rasch auf und ritten den ganzen Tag. Rijana verband noch einmal Ariacs Schulter, und er versicherte ihr, dass es ihm gut ging. Diesmal glaubte sie ihm sogar, denn seine Gesichtsfarbe sah schon etwas gesünder aus. Trotzdem war er am Abend erschöpft, und Rijana bestand darauf, dass er als Erstes schlief. Sie hoffte, dass er bis zum Morgen nicht aufwachte, aber Ariac erhob sich, als der Mond hoch am Himmel stand. Rijana stand hinter eine Gruppe Felsen und blickte auf die kleine Lichtung hinaus. Ariac trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Warum schläfst du denn nicht?«, fragte sie missbilligend.
»Jetzt bist du dran. Du warst beinahe drei Tage lang auf.«
»Das macht nichts«, sagte sie und streichelte ihm über das Gesicht. Allerdings musste sie zugeben, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte.
»Du bist so gut zu mir«, sagte er und lächelte sie an.
»Das ist doch selbstverständlich!«, erwiderte sie empört.
»Nein, das ist es nicht, aber jetzt geh schlafen.«
Rijana nickte zögernd, gab ihm noch einen Kuss und schwankte zu den Decken. Seufzend ließ sie sich nieder und war beinahe augenblicklich eingeschlafen.
Im Morgengrauen weckte Ariac sie sanft. Rijana blinzelte und streckte sich. Sie hatte gut geschlafen.
»Wie geht es deiner Schulter?«, fragte sie.
»Gut«, antwortete er und versuchte, sie vorsichtig zu bewegen, was ihm allerdings kaum gelang. »In ein paar Tagen ist alles in Ordnung.«
»Das hoffe ich«, antwortete sie und begann ihre Sachen zusammenzupacken. Sie bestand auch darauf, Ariacs Pferd zu satteln. Er lehnte sich grinsend an einen Felsen und sagte: »Also wenn du so weitermachst, werde ich faul und verweichlicht …«
Sie schüttelte lachend den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Regen lag in der Luft. Zum Glück waren keine Soldaten zu sehen.
»Wir sollten weiter in den Norden reiten«, sagte Ariac, während sie durch den einsetzenden Regen ritten. »Hoffentlich finden wir eine Höhle oder so etwas, wo wir den Winter über bleiben können.«
Rijana nickte und sagte nachdenklich: »Unser Proviant geht auch langsam zu Ende. Wir sollten uns etwas in einem kleinen Dorf kaufen.«
Ariac nickte zögernd. »Aber es ist nicht ganz ungefährlich, falls uns jemand sieht …«
Rijana schüttelte den Kopf. »Mich sucht niemand. Ich gehe ins Dorf und kaufe die Sachen.«
Das begeisterte Ariac zwar nicht sonderlich, aber Rijana hatte wohl Recht. Ohne Brot, Mehl und Sonstiges würde der Winter karg werden. Sie reisten weiter durch das menschenleere Land. Hier gab es nur kleine Haine, aber dafür viele Hügel und riesige Felsbrocken. Einmal trafen die beiden auf einen winzigen Hof mitten im Wald. Die Bauern waren sehr nett, hatten jedoch nichts abzugeben. Sie beschrieben ihnen den Weg zu einigen Höfen, die weiter im Osten lagen, dort hätten die Bauern vielleicht mehr zu verkaufen.
Das Wetter wurde immer schlechter. Eisiger Wind wehte über das Land, und häufig war auch schon etwas Schnee zwischen die Regentropfen gemischt. Rijana und Ariac waren durchgefroren, mies gelaunt und erschöpft. Es war immer schwieriger, einen geeigneten Unterschlupf für die Nacht zu finden. Auch die Pferde wirkten unruhig.
Endlich erblickten die beiden in der Ferne ein kleines Gebäude. Ganz tief im Wald lag es versteckt, wo keine Straße mehr zu sehen war. Es war aus Lehm gebaut mit uralten Holzbalken und einem Strohdach. Aus einem Kamin drangen Rauchschwaden heraus.
Ariac wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Geh hinein, ich warte hier«, schlug Ariac vor.
Rijana nickte und rannte durch den Regen auf das Haus zu. Kurz darauf kam sie zurück. »Ariac, das ist eine Schenke. Komm, wir können uns reinsetzen und uns aufwärmen.«
»Und wenn mich jemand erkennt?«, fragte Ariac unsicher.
»Ich habe durch die Fenster gesehen. Es sind keine Soldaten dort. Komm schon!«
Ariac zögerte kurz, aber dann sah er Rijanas hoffnungsvolles Gesicht und wollte ihr die Gelegenheit, eine kurze Zeit im Warmen zu verbringen, nicht nehmen.
»Gut«, seufzte er. »Ich werde die Kapuze auflassen.« Rijana nickte mit einem erleichterten Lächeln, und die beiden führten ihre Pferde auf das Gasthaus zu.
»Ich glaube, hier ist Broderick aufgewachsen«, erzählte sie. »Die Schenke zum Finstergnom – das hat er immer erzählt.«
Ariac nickte und blickte das alte Haus misstrauisch an. Aber scheinbar führte wirklich keine Straße hierher. Ein gebeugter Mann trat aus der Tür und blickte die beiden überrascht an.
»Du liebe Zeit, wo kommt denn ihr her bei diesem Wetter?«
»Wir wollen uns nur ein wenig ausruhen«, antwortete Rijana.
Der Alte nickte und winkte ihnen mitzukommen. »Eure Pferde sind auch klatschnass, stellt sie in die Scheune«, schlug er vor.
Rijana und Ariac folgten ihm zögernd. In einer alten Scheune, etwas rechts von der Schenke, standen zwei Ackergäule und ein Reitpferd angebunden, die träge die Köpfe hoben.
»Danke«, sagte Rijana freundlich, und die beiden begannen, ihre Pferde abzusatteln. Nawárr und Lenya machten sich sogleich gierig über das Heu her, welches der alte Mann ihnen brachte.
»Ihr habt schöne Pferde«, sagte er bewundernd und versuchte, einen Blick unter die Kapuzen der beiden Fremden zu erhaschen. »Wo kommt ihr her?«
»Aus Northfort«, antwortete Rijana, da ihr gerade nichts Besseres einfiel. Der alte Mann nickte und fragte nicht weiter nach. Er führte sie in eine kleine, uralte Gaststube. Einige Männer saßen an einem Tisch und spielten Karten. Hinter der Theke stand eine rothaarige Frau, die einige Krüge abtrocknete. Sie war klein, ziemlich rundlich und hatte ein hübsches Gesicht. In einem Eck spielte ein kleines Kind mit ein paar Holzklötzen.
»Kalina, bring den Leuten hier heiße Suppe und einen Tee.« Er zwinkerte ihnen zu. »Unser dunkles Bier könnt ihr später versuchen.«
Rijana lachte leise. Broderick hatte immer vom Bier aus Errindale geschwärmt. Sie setzten sich an den Tisch, nah ans flackernde Feuer. Rijana zog schließlich ihren Umhang aus und hängte ihn zum Trocknen auf. Ariac behielt seinen lieber an. Kalina, die rothaarige Frau, kam näher und stellte ihnen freundlich lächelnd Suppe, Brot und dampfenden Tee hin.
Rijana und Ariac langten mit Appetit zu. Das warme Essen tat ihnen gut. In den letzten Tagen hatten sie kaum einmal ein Feuer entzünden können.
»Ich glaube, das ist das Mädchen, in das Broderick verliebt ist«, sagte Rijana irgendwann.
»Willst du ihr sagen, wer du bist?«, fragte Ariac und streckte die Beine aus. Allerdings behielt er immer die Tür im Auge.
»Ich weiß nicht«, antwortete Rijana unsicher. »Sie würde sicher gerne etwas von ihm hören.«
Ariac nickte, aber Rijana zögerte noch immer. Immer wieder ging die Tür auf, und jedes Mal zuckte Ariac zusammen und war bereit, sein Schwert zu ziehen. Doch es waren nur Bauern, die ihren Abend in der Taverne beschließen wollten. Draußen regnete es noch immer in Strömen, und Rijana fragte hoffnungsvoll: »Soll ich fragen, ob sie Zimmer vermieten?«
Ariac zögerte, aber eine Nacht im Trockenen konnte nicht schaden. Rijana stand auf und stellte sich an die Theke. Der alte Mann, der ihnen den Stall gezeigt hatte, hob überrascht die Augenbrauen.
»Du liebe Zeit, ein so hübsches Mädchen habe ich lange nicht mehr gesehen.«
Kalina schnaubte empört, aber er nahm sie in den Arm und sagte: »Du bist auch hübsch, aber dich sehe ich jeden Tag.«
»Das sieht dein Ziehsohn wohl etwas anders«, murmelte Kalina wütend und verzog das Gesicht.
»Ich werde Broderick die Ohren lang ziehen, wenn er mal wieder hier auftaucht«, knurrte der alte Mann.
»Der taucht nicht mehr auf, Finn, das kannst du mir glauben«, schimpfte Kalina und warf wütend ein Handtuch in die Ecke.
Rijana zog überrascht die Augenbrauen zusammen.
»Warum soll er nicht mehr zurückkommen?«, fragte sie, ohne weiter nachzudenken. Broderick hatte immer mit so viel Liebe und Begeisterung von dem Mädchen aus der Schenke gesprochen.
»Weil dieser Mistkerl keinen einzigen meiner Briefe beantwortet hat«, schimpfte Kalina, und ihre grünen Augen funkelten. »Nur wegen ihm habe ich Schreiben gelernt. Wenn er jemals hier auftaucht, dann hänge ich ihn an seinen eigenen Ohren auf.« Kalina hatte sich richtig in Rage geredet. Sie begann wie wild die Theke zu polieren. »Lässt mich einfach mit dem Kind sitzen und taucht jahrelang nicht auf, so ein verfluchter Hurensohn.«
Rijana riss die Augen auf. »Broderick hat ein Kind?«
Kalina nickte, dann fragte sie überrascht. »Kennst du ihn?« Sie blickte Rijana von oben bis unten an. »Hat er dich etwa auch geschwängert?«
Rijana schüttelte rasch den Kopf und beugte sich über die Theke. »Ich war mit ihm auf Camasann, aber bitte erzähle es nicht herum.«
Kalina blieb der Mund offen stehen. »Du kennst Broderick wirklich?«
Bevor Kalina, die knallrot anlief und wohl wieder zu einer neuen Schimpftirade Luft holte, etwas sagen konnte, erzählte Rijana: »Er hat dir sehr oft geschrieben und immer geschimpft, weil du nicht geantwortet hast. Am Ende war er furchtbar traurig, weil er schon befürchtet hatte, du hättest einen anderen.«
Kalina schnaubte, aber dann blickte sie Rijana eindringlich an.
»Ich habe ihm immer wieder geschrieben. Gut, die Postreiter sind nicht sehr zuverlässig, aber ich hätte doch zumindest einen einzigen Brief erhalten müssen.« Kalina wirkte nun sehr nachdenklich und ging zu dem kleinen Jungen. Sie nahm ihn auf den Arm.
Rijana musste grinsen. »Also, dass er Brodericks Sohn ist, kann man wohl kaum verkennen.«
Der Kleine hatte ein breites, fröhliches Gesicht und das gleiche Lachen, das sich übers ganze Gesicht zog. In Kalinas Augen sammelten sich plötzlich Tränen. »Dann habe ich ihm vielleicht Unrecht getan, aber warum kommt er denn nicht mehr her?«
Rijana seufzte. »Es ist nicht einfach, wenn man im Dienst von König Greedeon steht. Er bestimmt, wo man kämpfen muss.«
Kalina nickte und wischte sich über die Augen. »Geht es ihm denn gut?«
»Ich habe ihn im Frühling das letzte Mal gesehen, und da ging es ihm gut«, antwortete Rijana nachdenklich.
»Wenn du ihn einmal wiedersiehst«, sagte Kalina unsicher, »würdest du ihm dann sagen, dass er einen Sohn hat und dass ich auf ihn warte? Der Kleine heißt Norick.«
Rijana nickte lächelnd. »Natürlich, und ich glaube, es gibt nichts, das ihn mehr freuen wird.«
Auch auf Kalinas Gesicht zeichnete sich nun ein Lächeln ab. Sie schniefte noch einmal und ließ den Kleinen herunter. »So, und jetzt versuchst du unser berühmtes Bier.«
»In Ordnung«, antwortete Rijana. »Habt ihr auch Zimmer?«
Kalina bestätigte dies, und Finn, Brodericks Ziehvater, der gerade die anderen Gäste bedient hatte, kam zurück.
»Ihr könnt zwei Zimmer haben, wenn ihr wollt.«
»Eines reicht«, antwortete Rijana und errötete ein wenig. Kalina lachte ihr strahlendes, freundliches Lachen. »War dein Freund auch mit auf Camasann?«
Rijana schüttelte den Kopf. »Bitte sprich ihn nicht darauf an.«
Gerade kamen weitere Männer und Frauen herein. Ariac sprang hektisch auf, da ihm der Blick auf Rijana versperrt war, aber sie bahnte sich bereits ihren Weg durch die Menschen zu ihm.
»Alles in Ordnung, sie haben Zimmer, und Kalina bringt uns Bier.«
Ariac setzte sich erleichtert wieder hin.
»Was ist denn?«, fragte er, als Rijana vor sich hin lächelte.
Leise lachend schüttelte sie den Kopf. »Broderick hat einen Sohn.«
»Oh«, rief Ariac aus.
»Aber er wusste gar nichts davon«, sagte Rijana nachdenklich. »Es ist komisch, er hat ihr immer geschrieben, aber sie hat keine Briefe bekommen. Es ist genau wie bei Tovion und Nelja.«
Ariac runzelte die Stirn und dachte einige Zeit nach. »Kann es sein, dass König Greedeon verhindern wollte, dass ihr Kontakt nach draußen habt? Keiner wusste, dass König Scurrs Soldaten die nördlichen Länder besetzt haben. Das ist doch merkwürdig, oder?«
Zunächst wollte Rijana widersprechen, aber dann nickte sie. »Ich glaube, du hast Recht. Das sind zu viele Zufälle auf einmal. König Greedeon spielt ein merkwürdiges Spiel.«
In der Schenke wurde es immer lauter und voller. Finn brachte zwei Krüge mit Bier. Eine Gruppe von Männern und Frauen setzte sich zu Ariac und Rijana an den Tisch. Bald packten einige Männer eine Geige, eine Harfe und eine Trommel aus. Irgendjemand fing an zu singen, und bald klatschten und tanzten alle mit, zumindest, soweit es der enge Raum zuließ. Die Musik ging direkt ins Blut, und Rijana begann schon bald mitzuklatschen. Ein alter Mann mit langen weißen Haaren führte einen wilden Tanz auf, und alle klatschten im Takt der Musik mit. Immer wieder zog er eine der wenigen Frauen in die Mitte, sodass die Stimmung noch ausgelassener wurde. Schließlich kam er zu Rijana und wollte sie an der Hand nehmen. Doch Ariac sprang auf und stellte sich zwischen die beiden. Unter seiner Kapuze hervor funkelte er den Alten wild an.
Der hob die Hände und krächzte: »Ich wollte deinem Mädchen nichts tun, ich dachte nur, sie möchte ein wenig tanzen.«
Rijana legte Ariac eine Hand auf den Arm und nickte ihm beruhigend zu.
»Er tut mir nichts.«
Ariac setzte sich zögernd und beobachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen, wie der Alte Rijana mit in den Raum zog und die beiden im Takt der Musik zu tanzen begannen. Die Tänze wurden immer wilder, sodass Rijana irgendwann atemlos zurückkam und sich neben Ariac auf die Bank fallen ließ.
»Es ist schön hier«, keuchte sie, und ihr Gesicht strahlte.
Ariac nickte. So entspannt und glücklich hatte er Rijana lange nicht mehr gesehen. Er selbst war noch immer misstrauisch und auf der Hut. So schnell konnte er sich nicht entspannen.
»Komm mit«, rief sie und zog ihn auf die Füße.
»Nein, warte«, widersprach er, aber Rijana zog ihn einfach mit in den Kreis und klatschte in die Hände, während einige Männer einen wilden Tanz aufführten. So ging es eine ganze Zeit lang, bis plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein atemloser, klatschnasser Junge in den Raum schrie: »Soldaten, Soldaten!«
Auf der Stelle erstarb die Musik, und alle blickten sich hektisch um. Ariac packte Rijana an der Hand und wollte schon verschwinden, aber ein Bauer hielt sie auf.
»Nicht«, warnte er, »sie sind schon ganz nah. Wenn ihr flieht, bringen sie euch um. Setzt euch und verhaltet euch unauffällig.«
Ariac zögerte, aber schließlich zog er Rijana in ein dunkles Eck. Auch sie zog sich ihre Kapuze über den Kopf. Die übrigen Leute legten ihre Instrumente zur Seite und setzten sich mit gesenkten Köpfen an die Tische. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis eine Gruppe von Soldaten in roten Umhängen hereinkam. Der Anführer blickte ungehalten in die Runde und setzte sich an einen der freien Tische. »Essen und Bier!«, schrie er, und seine dreiundzwanzig Untergebenen setzten sich zu ihm. Sie schubsten einige Bauern von einem der anderen Tische weg und stellten ihn mit an den ihren.
Ariac spannte sich an – er kannte den Anführer. Es war Morac. Groß, mit kantigen, verbissenen Gesichtszügen und den kleinen gemeinen Augen blickte er selbstgefällig um sich.
»Ich glaube, ich kenne den Mann«, sagte Rijana leise.
Ariac nickte kaum merklich. »Das ist Morac«, flüsterte er zurück. »Er war damals mit auf dem Wagen, als Brogan uns nach Camasann bringen wollte.«
Erschrocken riss Rijana die Augen auf. Sie erinnerte sich. Morac war ein grober, ungehobelter Junge und sehr fies zu Ariac gewesen. Jetzt wirkte er noch brutaler und glich eher einem Ork als einem Menschen. Morac war wirklich einer von Scurrs Soldaten geworden. Gerade schlug er einem seiner Männer ins Gesicht, der sich erdreistet hatte, zuerst von der Platte mit dem geräucherten Fleisch zu nehmen.
Rijana schauderte, als sie daran dachte, dass Ariac vielleicht auch so hätte werden können.
Morac und die anderen führten sich auf wie Tiere. Sie warfen absichtlich Geschirr herunter, schmissen Knochen auf den Boden und schimpften über das schlechte Bier. Schließlich stand Morac selbst auf und kam auf einen der Bauern zu, der mit gesenktem Kopf am Tisch saß.
»Ihr habt Instrumente hier, spielt etwas für uns.«
Der Mann zögerte und blickte seine Freunde hilfesuchend an. Morac verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, trank aus seinem Krug und warf diesen anschließend auf den Boden.
»Na los, macht Musik für uns.«
Er zog wahllos weitere Männer auf die Füße.
Ariac versteifte sich, als Morac in seine Richtung kam, und auch Rijana hielt die Luft an.
»Wenn ich ›Jetzt‹ rufe, rennst du in die Küche, dort ist sicher ein Hinterausgang«, flüsterte Ariac und packte unter dem Tisch sein Schwert so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Rijana nickte nervös. Gegen zwanzig Mann hier auf dem engen Raum hatten sie kaum eine Chance.
Aber im letzten Moment schwankte Morac, der augenscheinlich schon ziemlich betrunken war, zu seinen Männern zurück, und die Bauern begannen zögernd und ziemlich langsam zu spielen.
Morac leerte einen weiteren Bierkrug.
»Hört mit dem Katzengejammer auf«, schrie er in den Raum und spuckte dabei eine Fontäne aus Bier durch die Gegend. »Das hält ja kein Mensch aus!«
Augenblicklich verstummten die Spieler. Morac stand auf, wischte mit einer Handbewegung die Essensreste vom Tisch und bedeutete seinen Männern zu gehen.
»Wir suchen uns eine andere Taverne, hier ist es ja fürchterlich«, schimpfte er und stapfte, gefolgt von seinen Männern, hinaus in den Nebel.
Kurze Zeit war alles ganz still, dann ging ein allgemeines Aufatmen durch die Anwesenden. Scurrs Männer hatten ein fürchterliches Chaos hinterlassen, aber alle waren froh, dass sie fort waren. Finn kam zu Rijana und Ariac an den Tisch.
»Diesmal hatten wir Glück. Die Letzten haben gleich drei Männer getötet und die halbe Einrichtung zerstört.«
»Warum unternimmt niemand etwas gegen die Blutroten Schatten?«, fragte Ariac.
Finn schnaubte. »Gegen Scurrs Männer kann man gar nichts unternehmen. Seitdem sie die nördlichen Länder unter Kontrolle haben, werden die Zustände immer schlimmer. Im Norden von Gronsdale hat es Aufstände gegeben, aber sie wurden alle von Orks überrannt.«
Ariac und Rijana blickten sich fassungslos an. Von diesen Dingen hatten sie nichts gewusst. Plötzlich wurde Finns Miene jedoch etwas freundlicher.
»Und ihr kennt wirklich unseren Broderick?«
Beide nickten einstimmig, Finn lächelte daraufhin.
»Dann sagt ihm doch bitte Grüße von uns allen, wenn ihr ihn wiederseht. Und er soll uns doch mal wieder besuchen.«
»Das kann noch dauern«, murmelte Ariac.
Aber Rijana nickte dem alten Mann beruhigend zu. »Natürlich werden wir ihm Grüße ausrichten.«
Finn rückte näher heran und fragte neugierig: »Wenn ihr aus Camasann kommt, habt ihr dann auch die Sieben kennen gelernt?«
Rijana blickte Ariac verblüfft an. Scheinbar hatte Broderick gar nichts davon erzählt, dass er eines der Kinder Thondras war.
Rijana nickte zaghaft, woraufhin Finn sie ehrfürchtig betrachtete.
»Und, wie sind sie? Sind sie mächtig und stark? Können sie uns allen helfen?«
Auf einmal bekam Rijana ein furchtbar schlechtes Gewissen. Die Menschen hier setzten alle Hoffnung in sie.
Rijana legte dem alten Mann ihre schlanke Hand auf den Arm. »Sie sind sich im Moment noch ein wenig uneinig, aber eines Tages werden sie euch sicher helfen.«
Finn nickte und lächelte Rijana an. »Darauf hoffen wir alle.«
Er schlurfte weiter zu einem der anderen Tische, wo sich die Bauern aufgeregt unterhielten. Es war schon spät, als die meisten aufbrachen.
Kalina kam zu Rijana und Ariac. »Soll ich euch euer Zimmer zeigen?«, fragte sie.
Die beiden nickten, denn sie waren ziemlich müde. Kalina ging auf die Tür zu. Draußen herrschte dichter Nebel, der einem jegliche Sicht nahm. Sie führte die beiden zu einem Anbau und schloss eine knarrende Holztür auf.
»Hier ist es. Das Zimmer ist klein, aber sauber.« Sie blickte die beiden unsicher an und entzündete eine Kerze.
»Es kostet ein Kupferstück pro Nacht, aber wenn ihr nichts habt, könnt ihr auch umsonst hier schlafen, schließlich seid ihr ja Brodericks Freunde.«
Rijana schüttelte entschieden den Kopf und fasste in ihren Beutel. Sie holte ein Goldstück und eine schmale Goldkette heraus.
»Hier, Broderick würde es so wollen, wenn er wüsste, dass er einen Sohn hat.« Kalina stieß einen leisen Schrei aus. »So etwas Wertvolles habe ich noch nie gesehen!« Sie blickte Rijana fassungslos an. »Das kann ich nicht annehmen.«
Aber die schüttelte den Kopf. »Nimm es, ihr könnt es sicher brauchen.«
Kalina starrte immer wieder von dem Gold auf Rijana und ging rückwärts zur Tür, dann schüttelte sie sich und ging nach draußen.
Ariac grinste und schlug seine Kapuze endlich zurück.
»Ich glaube, du hast sie …«
Er wurde unterbrochen, als die Tür ruckartig aufging. »Ich wollte euch noch sagen …«, rief Kalina, dann erstarrte sie. »Du liebe Zeit, ein Steppenkrieger!«
Ariac wich erschrocken zurück und hatte bereits seine Hand am Schwert. Rijana ging jedoch zu ihm und legte ihm eine Hand um die Hüfte.
»Wir gehören zusammen. Er wird niemandem etwas tun.«
Kalina nickte unsicher und kam ganz herein. Vorsichtshalber schloss sie die Tür. Dann musterte sie Ariac mit einer Mischung aus Neugierde und Angst.
»Nun gut«, sagte Kalina. »Meine Großmutter sagte immer, man solle einen Menschen nie nach seinem Aussehen, sondern nach seinen Taten beurteilen.«
Rijana blickte Kalina ernst an. »Ich habe einige Zeit in der Steppe gelebt. Die Steppenleute sind freundlich und friedfertig. Ich habe niemals ehrlichere und herzlichere Menschen kennen gelernt.«
Kalina wirkte unsicher und starrte auf Ariacs Tätowierungen.
»Gut, ich werde nichts sagen, aber passt auf, nicht alle Leute sind verschwiegen. Ach ja«, sie grinste, »falls ihr morgen noch etwas essen wollt, dann kommt zu der kleinen Hütte neben den Ställen, dort lebe ich. Schlaft gut.« Sie warf noch einen verwirrten Blick auf Rijana, dann verschwand sie.
Ariac entspannte sich ein wenig.
»Glaubst du, sie hält ihr Wort?«
Rijana nickte und gab ihm einen Kuss. Dann sperrte sie die Tür von innen ab. »Sie ist nett, und wie es aussieht, halten Finn und sie von Scurrs Soldaten nicht allzu viel.«
Rijana nahm ihn an der Hand und zog ihn zu dem Bett.
»Jetzt komm schon, ich habe noch nie mit dir in einem Bett gelegen.«
Schließlich gab er seufzend nach, aber in dieser Nacht blieb er immer mit einem Ohr wach. Der Morgen begann so neblig, wie der Abend aufgehört hatte. Rijana und Ariac aßen in Kalinas Hütte und brachen anschließend auf. Kalina nannte ihnen noch einen Bauern, wo sie Proviant kaufen konnten. Der kleine Norick winkte den beiden zum Abschied unbeholfen mit seinen kleinen dicken Händen hinterher.
Die Reise führte weiter durch den nebligen Wald von Errindale. Zum Glück hatte Kalina ihnen den Weg beschrieben, denn bei dieser schlechten Sicht hätte niemand eine Himmelsrichtung bestimmen können. Stumm trabten Rijana und Ariac durch die Bäume. Der Nebel schien alles zu schlucken, eine gespenstische Stille lag über dem Land. An einem kleinen Bauernhof erstand Rijana eine Menge Proviant, der hoffentlich eine Weile reichen würde.
Die alte Bäuerin war sehr nett. Sie riet Rijana und Ariac, auf dem schmalen Weg hinter ihrem Haus zu bleiben, der in Richtung Norden führte. Die beiden hatten ein ungutes Gefühl dabei, denn auch auf den schmalen Wegen ritten häufig Soldaten, aber sie hatten wohl keine andere Wahl, wenn sie sich nicht verirren wollten. So lauschten alle beide in die unheimliche Stille nach den Geräuschen von Hufen. Selbst am Abend hatte sich der Nebel noch nicht gelichtet. Rijana und Ariac ritten von dem immer schmaler werdenden Weg herunter in den Schutz einiger Felsen. Hier sattelten sie die Pferde ab und schafften es mit einiger Mühe, ein Feuer zu entzünden. Alles war feucht und klamm. Rijana kochte aus Kräutern einen Tee, und die beiden setzten sich dicht aneinandergeschmiegt auf den Boden. Es war ziemlich kalt. Nachdem die beiden gegessen hatten, wickelten sie sich in ihre Decken. Es machte nicht sehr viel Sinn, Wache zu halten, denn man sah ohnehin nichts. So mussten sie sich auf ihre Pferde verlassen, die sie hoffentlich warnen würden. Ariac legte Rijana einen Arm um ihre Schultern.
»Hast du Angst?«
Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich an seine Schulter.
»Solange du bei mir bist, nicht.«
Er lächelte und streichelte ihr mit klammen Fingern über die Wange. »Ich hoffe, wir finden bald eine Höhle oder etwas Ähnliches. Notfalls muss ich uns eine Hütte bauen.«
Rijana nickte und lächelte zu ihm auf. »Das wird sich finden. Es schneit ja noch nicht.«
Ariac nickte, aber er machte sich trotzdem Gedanken. Rijana war bereits eingeschlafen, als Ariac sie an der Schulter rüttelte.
»Wach auf«, flüsterte er. »Irgendetwas ist in der Nähe.«
Er stand leise und mit fließenden Bewegungen auf und zog sein Schwert. Rijana schüttelte den Schlaf ab und lauschte in die Finsternis. Man glaubte, ein leises Flüstern in den Bäumen und Büschen zu hören. Die Pferde standen mit hocherhobenen Köpfen in der Nähe und bewegten die Ohren unruhig.
»Was ist das?«, flüsterte Rijana. Ihr stellte sich Gänsehaut auf.
Ariac zuckte die Achseln und lief vorsichtig um den Felsen herum. Rijana folgte ihm dichtauf. Immer wieder glaubte man, ein Flüstern oder ein Heulen zu hören, aber es kam immer aus einer anderen Richtung. Ariac packte sein Schwert fester und ging zögernd weiter in den Nebel hinein. Langsam wurde das Heulen und Flüstern etwas deutlicher. Ariac drehte sich so abrupt um, dass Rijana vor Schreck einen leisen Schrei ausstieß.
»Bleib hinter mir und lauf notfalls weg.«
Rijana schluckte. In diesem unheimlichen Nebel würde sie mit Sicherheit nicht von Ariacs Seite weichen. Er schlich weiter und blieb plötzlich hinter einem dicken Baum stehen. Auf einer Lichtung, die in ein seltsames Licht getaucht war, sah man eine durchscheinende Gestalt vor einem Köper knien, der am Boden lag. Immer wieder jammerte und heulte sie leise.
»… warum nur, warum tun die Menschen so etwas?«, jammerte das Wesen gerade.
»Was ist das?«, flüsterte Ariac zu Rijana gewandt. Man hörte es kaum, aber das Wesen fuhr herum und verzerrte das Gesicht zu einer Fratze. Ariac hob sein Schwert, aber Rijana drückte seinen Arm herunter.
»Nicht, das ist ein Waldgeist.«
Das Wesen kam langsam schwebend näher. Man sah es kaum. Es war sehr schlank und durchsichtig, hatte ein kleines, blasses Gesicht und ganz helle, grünliche Haare, die mit Blättern durchsetzt waren. Der Waldgeist schwebte langsam näher und begann dann zu verblassen. Rijana trat vor, aber Ariac hielt sie am Arm fest. Er kannte solche Wesen nicht.
»Warte«, rief Rijana jedoch. »Geh nicht fort, wir tun dir nichts, und wir lieben den Wald.«
Der Waldgeist nahm wieder etwas festere Formen an und kam weiter auf Rijana zugeschwebt. Seine Augen schienen Rijana tief in die Seele zu blicken. Dann breitete sich ein Lächeln auf dem schmalen, spitzen Gesicht des Waldgeistes aus.
»Du hast Recht, du bist in den Wäldern geboren.« Der Waldgeist schwebte auf Ariac zu, der sich versteifte. »Du bist ein Kind der Steppe.« Das Wesen seufzte. »Dort gibt es kaum Bäume, das ist traurig, aber die Windgeister sagten mir, es sei auch dort sehr schön.«
»Rijana, was soll das?«, flüsterte Ariac, ihm war unwohl zumute.
Aber Rijana nickte ihm beruhigend zu. Dann wandte sie sich an den Waldgeist und deutete nach vorn auf den Boden. »Was ist geschehen?«
Der Waldgeist, der, wie man meinen konnte, weibliche Züge hatte, begann zu zischen und zu jammern. »Sie haben das Mädchen getötet. Geschändet und getötet.« Eine Träne lief die Wange des Waldgeistes hinab. »Menschen sind grausam. Warum tun sie das? Sie zerstören, sie vergiften, sie überrennen alles. Sie sind nicht besser als Orks.«
Rijana nahm Ariac an der Hand. Zögernd folgte er ihr. Im Moos auf der Lichtung lag eine junge Frau, deren gebrochene Augen noch immer in Entsetzen aufgerissen waren. Ganz offensichtlich war sie vergewaltigt und anschließend mit einem Dolch erstochen worden.
Rijana würgte und versteckte ihr Gesicht an Ariacs Schulter. Er streichelte sie und fragte: »Wer war das?«
Der Waldgeist kam auf ihn zugeschwebt, das Gesicht noch immer vor Wut verzerrt. »Männer, Männer in roten Umhängen. Sie können nur zerstören, sie sind böse.«
Rijana hob den Kopf. »Das wissen wir. Und wir wollen gegen sie kämpfen.«
Der Waldgeist blieb nun auf der Stelle stehen, oder eher schweben.
»Ihr seid anders«, murmelte er, oder sie, wie Rijana vermutete. »Ich heiße Shin«, sagte der Waldgeist und wirbelte um Rijana herum. »Ich kenne dich, du hast einmal einen kleinen Vogel gerettet.«
Rijana runzelte die Stirn, dann lächelte sie. Sie war vielleicht fünf Jahre alt gewesen, als sie einen kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen war, wieder hineingesetzt hatte. »Das stimmt, mein Name ist Rijana, und er heißt Ariac.«
Shin wirbelte um die beiden herum, dann beugte sie sich wieder über das tote Mädchen und begann zu jammern.
»Was ist das für ein Wesen?«, flüsterte Ariac ungeduldig, ihm war das alles nicht geheuer.
»Shin ist ein Waldgeist«, erklärte Rijana. »Sie zeigen sich eigentlich nie, außer manchmal bei Nebel oder wenn sie sehr erzürnt sind. Sie beschützen die Bäume und den Wald. Sie gelten als die Hüter des Lebens. Wenn ein Leben unrechtmäßig genommen wird, dann werden sie sehr wütend.«
Mit gerunzelter Stirn blickte Ariac auf den Waldgeist, der nun wieder zu ihnen kam und sehr traurig wirkte.
»Meine Welt wird bald verschwinden. Keine Elfen mehr, die Bäume werden gefällt, Orks in den Bergen.« Shin heulte leise auf. »Keine Waldlinge mehr. Ich mochte sie, die kleinen Kerle waren immer so lustig.«
Rijana schluckte, der Waldgeist sah furchtbar traurig aus.
»Dann geh doch ins Land der tausend Flüsse, dort gibt es noch Elfen und Waldlinge.«
Shin begann um sie herumzutanzen und zu lachen, aber dann hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss bleiben und auf mein Land achten. Zumindest so lange, bis sich die Welt wandelt.«
Rijana und Ariac blickten sich ahnungslos an. Sie wussten nicht, was der Waldgeist meinte. Shin seufzte und setzte sich auf einen umgefallenen, mit Moos überzogenen Baumstamm.
»Das Land ist erzürnt, es wird sich erheben. Ihr müsst vorsichtig sein.«
Rijana nickte vorsichtig. »Wann wird es geschehen?«
Shin seufzte und fuhr zärtlich über das Moos. »Es geschieht schon die ganze Zeit über, aber wann sich die Welt endgültig wandelt, das weiß ich nicht.«
»Das haben die Elfen doch auch schon gesagt«, murmelte Ariac, und Rijana nickte.
Plötzlich fuhr Shin auf und zischte wie der Blitz in den Nebel. Rijana und Ariac blickten sich verwirrt an. Was sollte das jetzt? Aber kurz darauf kehrte Shin zurück.
»Schnell, ihr müsst fort, es kommen Menschen in roten Umhängen. Ihr müsst fliehen, sonst seid auch ihr tot.«
Ariac packte Rijana am Arm und zog sie mit sich. Shin folgte ihnen und leuchtete ihnen mit ihrem besonderen Licht den Weg zu ihren Pferden. Die beiden sattelten hastig und verwischten ihre Spuren. Dann trabten sie, geführt von Shins Licht, durch den Nebel. Hier und da glaubten sie, das Klappern von Hufen und das Klirren von Waffen zu hören, aber alles war gedämpft und schien weit weg zu sein. Langsam musste es Morgen werden. Der Nebel begann sich zu lichten, und Shin löste sich langsam auf.
»Seid auf der Hut«, flüsterte sie in den Wind, der sich erhob, »die Welt wird sich wandeln.«
Schon war der Waldgeist verschwunden.
»Danke«, flüsterte Rijana ihr hinterher, dann galoppierte sie mit Ariac über eine mit Felsen übersäte Grasebene auf einen weiteren kleinen Hain zu. Sie ritten schnell und warfen immer wieder nervöse Blicke über die Schulter, aber es war nichts zu sehen. Als gegen Mittag die Sonne blass am Himmel stand, hielten sie erschöpft an einem kleinen See an. Das Wasser kräuselte sich im leichten Wind, und ein paar Enten schwammen friedlich umher. Sie suchten sich einen geschützten Platz hinter einer Hecke und aßen etwas Brot und Käse. Ariac stellte sich noch einmal auf einen Felsen und blickte nach Süden, aber es waren keine Soldaten zu sehen.
Rijana lehnte sich müde zurück und schloss ihre Augen.
»Schlaf ein wenig«, sagte Ariac leise. »Ich wecke dich später.«
Da sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, war sie schon bald eingeschlafen. Ariac musterte sie liebevoll und dachte über die Sache mit dem Waldgeist nach. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es solche Wesen überhaupt gab.
»Dafür weiß ich, wo ein Troll am verletzlichsten ist, dass man Feuerechsen besser aus dem Weg geht und wie man einen Ork am besten tötet«, murmelte er bitter. Auf Camasann hatte man anscheinend sehr viel nützlichere Dinge gelernt.
Irgendwann wurde er selbst schläfrig, ihm fielen die Augen immer wieder zu. Schweren Herzens weckte er Rijana, die in der Mittagssonne so friedlich schlief. Sie blinzelte und lächelte ihn an.
»Tut mir leid, aber ich muss auch kurz schlafen.«
»Natürlich«, sagte sie bestimmt und stand auf. Sie gab ihm einen Kuss und stellte sich neben die Pferde, die das saftige Gras zupften.
Lenya kam zu ihr und stupste sie an.
»Na, meine Schöne, das schmeckt gut, oder?«, sagte Rijana und lehnte sich gegen ihr Pferd.
Die Reise war anstrengend und gefahrvoll, aber trotzdem war sie irgendwie glücklich. Sie hatte ein wunderbares Pferd, und Ariac war bei ihr. Mehr wollte Rijana eigentlich nicht. Aber sie wusste auch, dass sie noch eine Aufgabe zu erfüllen hatten, und sie vermisste ihre Freunde. Wie mochte es Saliah und den anderen gehen?
 
Falkann, Rudrinn, Saliah, Tovion und Broderick waren zu dieser Zeit noch immer auf der Insel Silversgaard und überwachten die Überfahrten zum Festland. Immer wieder wurden sie von König Scurrs Kriegsschiffen angegriffen, und hin und wieder gelang es auch einem Piratenschiff, etwas Silber zu stehlen. Alles in allem waren die fünf jungen Leute sehr unzufrieden, weil ihnen die Zustände auf der Insel nicht gefielen. Die Sklaven wurden mehr als schlecht behandelt, und man hörte immer wieder Gerüchte, dass nicht alle Minenarbeiter Mörder oder sonstige Verbrecher waren, die ihre Strafe abarbeiten mussten. Aber die Wahrheit bekamen sie nicht heraus. Falkann hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, aber gleichzeitig auch einen furchtbaren Hass auf Ariac. Er vermisste Rijana mehr, als er jemals vor irgendjemandem zugegeben hätte. Besonders Broderick machte sich Sorgen um ihn, denn er kannte Falkann einfach zu gut und wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Saliah schien langsam über den Tod des jungen Soldaten hinwegzukommen, und Rudrinn tat alles, um sie aufzuheitern. Tovion vermisste Nelja, und auch Broderick war wütend, dass er keinerlei Nachricht von Kalina erhalten hatte. Aber hier auf der Insel bekam ohnehin niemand einen Brief. Also hielten die fünf Freunde Wache, beluden Schiffe und schossen mit Bögen auf Scurrs Kriegsflotte. Alle waren besorgt, weil sie nichts von Rijana hörten. Die Krieger von König Greedeon suchten unaufhörlich, konnten sie aber nicht aufspüren.
 
König Scurr galoppierte an diesem Tag über eine der wenigen geheimen Straßen, die es in Ursann gab. Er war ungehalten. König Greedeon hatte ihm den Steppenjungen ausliefern wollen, aber der war verschwunden. Scurr hatte natürlich selbst seine Soldaten in die Steppe geschickt und ließ Ariac auch sonst überall suchen. Aber bis auf die Spur, die sie an der Grenze zu Northfort entdeckte hatten, war nichts mehr von Ariac zu hören. Auch Worran hatte getobt und selbst eine Gruppe von Soldaten in die Steppe geführt. Seine Blutroten Schatten hatten am schlimmsten unter den Clans gewütet, aber er hatte Ariac nicht finden können. Seitdem war der grausame Ausbilder in Gronsdale unterwegs und suchte den Norden ab. Gleichzeitig sollte er die Armee der Orks inspizieren, die sich in den nördlichen Bergen sammelte.
Scurr war bis an die Grenzen von Ursann geritten, um sich mit einem sehr wichtigen Mann zu treffen. Dieser wartete bereits mit einer Eskorte von fünf Mann, allesamt in unauffällige graue Umhänge gehüllt, an der vereinbarten Stelle in einem der steinigen Talkessel.
»Ich habe eine Aufgabe für Euch«, begann Scurr mit seiner leisen, aber durchdringenden Stimme.
»Natürlich«, kam die nervöse Antwort des anderen.
»Findet heraus, was Greedeon als Nächstes mit den Sieben vorhat.« Scurr verzog sein knochiges Gesicht. »Nun ja, eigentlich sind es momentan nur fünf.«
»Angeblich sollen sie derzeit auf Silversgaard sein«, erwiderte Scurrs heimlicher Verbündeter eifrig.
»Das weiß ich«, erwiderte Scurr ungehalten, sodass der kleinere Mann zusammenzuckte. »Aber er wird wohl kaum deren Talente auf Dauer auf dieser verdammten Insel vergeuden. Findet es heraus, wenn Ihr der neue König meines erweiterten Reichs werden wollt.«
Sofort nickte der andere eifrig, und seine Augen begannen gierig zu glänzen.
»Und«, fuhr König Scurr eindringlich fort, »berichtet mir sofort, falls ein Steppenkrieger und eine hübsche junge Frau in Eurem Land auftauchen. Haltet sie fest und liefert sie mir aus.«
»Natürlich, hoher König, natürlich«, beeilte sich der andere zu sagen und wollte sein Pferd schon wenden.
»Wartet«, rief Scurr ihm hinterher und warf ihm einen Beutel mit Gold und Silber zu.
»Danke, mein Herr, vielen Dank!«
 
Noch am Nachmittag ritten Rijana und Ariac weiter, denn die Pferde waren unruhig geworden, und sie befürchteten, dass die Soldaten noch immer auf ihrer Spur waren. Das Wetter wurde wieder schlechter. Es regnete mehrere Tage hintereinander, und in den Nächten schneite es häufig. Immer weiter ritten die beiden nach Norden, wo das Land karger wurde und man den hohen Vulkan ausmachen konnte, der vor einiger Zeit ausgebrochen war. Die Erde bebte in letzter Zeit immer öfter.
Sosehr sich Rijana und Ariac bemühten, sie konnten die Blutroten Schatten, die sie verfolgten, einfach nicht abhängen. Immer wieder erhaschten sie von weitem einen Blick auf die Verfolger. Was sie nicht wussten, war, dass die Männer gar nicht auf ihrer Spur waren, denn die sollten nur eine Gruppe Orks aus den nördlichen Gebirgen holen und vor dem Winter nach Ursann bringen.
Also flüchteten Rijana und Ariac weiter nach Norden in der Hoffnung, irgendwann einen Unterschlupf für den Winter zu finden. Es war bereits der zweite Herbstmond, und eiskalte Stürme fegten über das Land.
Nach einigen Tagen hatte es endlich aufgehört zu regnen, aber Rijana, Ariac und ihre Pferde waren erschöpft. Zudem begann es leicht zu schneien. Als Rijana sich kaum noch im Sattel halten konnte, wollte Ariac gerade vorschlagen, Rast zu machen, doch plötzlich nahm er das Aufblitzen eines roten Umhangs in der Ferne wahr. Er fluchte und trieb Nawárr in Galopp. Rijana folgte seufzend. Durch ein zerklüftetes Tal flüchteten die beiden. Rechts und links ragten hohe Berge auf, und einzelne verkrüppelte Bäume säumten den Weg zwischen den Felsen hindurch. Plötzlich war ein dumpfes Grollen zu hören, und die Erde begann zu beben. Ariac hielt erschrocken an, und auch Rijana zügelte ihr Pferd.
»Wir sollten absteigen«, sagte Ariac und wollte schon herunterspringen, als die Erde derart heftig erbebte, dass er hinfiel. Rijana hatte zu lange gezögert. Lenya stieg erschrocken und rannte panisch davon. Nawárr riss sich los und folgte der Stute, die kopflos nach Süden stürmte.
»Spring ab!«, schrie Ariac Rijana hinterher, aber er kam bei den heftigen Beben nicht einmal mehr auf die Füße. Um ihn herum krachten Bäume, und Steine fielen von den Bergen herunter. Ariac hielt sich krampfhaft an einem Felsen fest und hoffte, nicht unter einem herabfallenden Brocken zermalmt zu werden. Von Rijana oder den Pferden sah er nichts mehr. Dann wurden die Erdstöße etwas schwächer. Ariac stand auf und rannte panisch zwischen den herabgefallenen Bäumen und Felsen umher.
»Rijana!«, schrie er dabei immer wieder hektisch.
Und dann bebte es erneut so heftig, dass sich Risse im Boden auftaten. Ariac sprang im letzten Augenblick über einen Felsspalt, der ihm beinah den Weg abgeschnitten hätte. Dann stolperte er weiter, bis er endlich Rijanas Umhang unter einem Baum hervorragen sah. Rijana hing über einem Felsspalt und konnte sich, offensichtlich mit letzter Kraft, an einem dicken Ast festhalten. Ariac rannte zu ihr.
»Warte, ich helfe dir!«, rief er.
Rijana war erleichtert, Ariacs Stimme zu hören. Nach einem weiteren Beben rutschte der dicke Baumstamm weiter nach unten. Rijana schrie auf, und Ariac sprang zur Seite. Erschrocken sah er, dass der Baum kurz davor war, weiter in die Tiefe zu stürzen. Als es einen Moment ruhig war, kletterte er dennoch vorsichtig den Abhang hinunter und blickte in Rijanas ängstlich aufgerissene Augen.
»Kannst du dich hochziehen?«, fragte er. Er stand auf einem schmalen Vorsprung, wagte aber nicht, auf den Baum zu steigen, da dieser sonst vielleicht unter seinem Gewicht abstürzen würde.
Rijana schüttelte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, als würden ihr die Arme aus den Gelenken gerissen. Ariac fuhr sich nervös über die Augen. Es ging mindestens dreißig Fuß in die Tiefe. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den Baumstamm. Er schien zu halten.
»Nicht, Ariac«, sagte Rijana und biss sich auf die zitternde Lippe. »Du stürzt sonst mit ab.«
Er ließ sich nicht abhalten und balancierte Schritt für Schritt über den Stamm. Dann streckte er ihr die Hand hin. »Na los, ich ziehe dich hoch.«
Zögernd ließ Rijana eine Hand los, aber in diesem Moment gab es einen weiteren Stoß, und sie musste mit ansehen, wie Ariac mit den Armen ruderte und in die Tiefe stürzte. Rijana stieß einen verzweifelten Schrei aus, aber da krachte sie auch schon mitsamt dem Baum hinunter.
 
Ariac konnte nur mühsam die Augen öffnen. Er schnappte nach Luft und bekam Panik, als er merkte, dass er nicht atmen konnte. Er versuchte sich aufzurichten, aber sein Rücken schmerzte zu sehr. Keuchend ließ er sich wieder nach hinten sinken und zwang sich, ruhig einzuatmen. Endlich strömte etwas von der kostbaren Luft in seine Lungen. Vorsichtig setzte er sich auf und bemerkte, dass er in einem kleinen Busch lag. Dann sprang er auf, ohne auf seine Schürfwunden und Prellungen zu achten. Wo war Rijana?
Er erkannte den dicken Baum, der herabgefallen war, und stieß einen verzweifelten Laut aus, als er einen Arm aus den Ästen herausragen sah. Der Baum musste sie zerquetscht haben. Aber dann sah er, dass der Stamm nicht ganz den Boden erreicht hatte, sondern zwischen Felsen eingekeilt war. Rijana lag darunter. Er rannte zu ihr und nahm ihre Hand. Sie hatte eine heftig blutende Wunde am Kopf, ihr ganzer linker Arm war aufgeschürft und bog sich in einem unnatürlichen Winkel weg. Er beugte sich ängstlich über sie und merkte erst nach einer kleinen Ewigkeit, dass sich ihre Brust ganz schwach hob und senkte.
Erleichtert atmete er aus, streichelte ihr vorsichtig über das Gesicht und fragte: »Rijana, hörst du mich?« Aber sie gab keinen Laut von sich.
Ariac schloss kurz die Augen, dann schnitt er mit seinem Dolch Streifen aus dem Umhang und machte ihr einen Verband um Kopf und Arm. Er bemühte sich, vorsichtig zu sein und auf ihren gebrochenen Arm zu achten. Rijana gab ein Stöhnen von sich, jedoch ohne die Augen zu öffnen.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Es tut mir so leid!« Ariac blickte sich um. Noch immer erschütterten leichte Beben den Boden. Der Baum würde sich nicht ewig in dieser Position halten. Vorsichtig zog er Rijana darunter hervor und legte sie etwas abseits ab. Aber auch hier war es gefährlich, Felsen konnten in den Felsspalt stürzen und Bäume herunterfallen. Ariac kämpfte mit der Panik. Er wusste nicht, was Rijana fehlte. Er hatte keine Kräuter, die Pferde waren fort und damit auch die Decken. Außerdem war es ziemlich kalt. Ariac zog seinen Umhang aus und legte ihn über Rijana, deren Verband bereits durchgeweicht war.
»Bitte wach doch auf«, sagte er leise und streichelte ihre Wange. Aber sie rührte sich nicht, sodass Ariac sie schließlich so vorsichtig wie möglich auf die Arme nahm und durch den neu entstandenen Felsspalt trug, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden. Ariac schnaufte heftig. Rijana war nicht sehr schwer, aber auf Dauer strengte ihr Gewicht ihn doch an. Außerdem hatte er selbst Schmerzen. Er musste einen besseren Ort finden. Endlich, als es schon dämmerte, konnte er das Ende des Felsspalts sehen. Das einzige Hindernis, das er noch überwinden musste, war ein steiler Abhang. Allerdings würde er das mit Rijana auf dem Arm wohl kaum schaffen. Erschöpft ließ Ariac sich und Rijana zu Boden sinken. Dann wickelte er sie in seinen Umhang und lehnte sich an den Fels. Er wusste nicht weiter, sie hatten nicht einmal etwas zu trinken.
 
Am Morgen begann es leicht zu regnen. Ariac wurde von den Tropfen auf seinem Gesicht geweckt. Rijana lag bewegungslos in seinen Armen. Er beugte sich ängstlich über sie. Zu seiner Erleichterung atmete sie. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete er sich auf und blickte sich um. Es gab keinen anderen Weg als den Abhang hinauf. Erneut versuchte er Rijana zu wecken, aber sie reagierte nicht. Anschließend schnallte er ihr den Schwertgurt ab und legte ihn sich selbst an. Dann nahm er sie erneut auf die Arme und bemühte sich, den Abhang hinaufzustolpern. Auf der Hälfte konnte er nicht mehr, sodass er Rijana heftig atmend hinuntergleiten ließ. Erschöpft setzte er sich auf das Geröll. Doch dann begann sie leise zu stöhnen und ihre Augen zu öffnen. Ariac richtete sich wieder auf und nahm ihre Hand.
»Rijana, endlich«, rief er erleichtert.
Sie blinzelte und verzog das Gesicht, dann drohten ihr die Augen wieder zuzufallen.
Ariac klatschte ihr leicht gegen die Wange. »Nicht einschlafen, bitte wach auf.«
»Was ist denn«, murmelte sie.
»Rijana, wie geht es dir? Was tut dir weh?«, fragte er besorgt.
Sie hob mühsam die Augenlider. »Weiß nicht«, murmelte sie. »Wo sind wir? Wo sind denn Saliah und die anderen?«
»Was?«, fragte er erschrocken und richtete sie vorsichtig auf, woraufhin Rijana stöhnte.
»Entschuldige«, sagte er und nahm sie vorsichtig in den Arm. »Kannst du aufstehen? Wir müssen den Berg hinauf.«
Rijana blinzelte erneut verwirrt und nickte dann. Langsam und unsicher kam sie auf die Füße. Sie konnte kaum stehen, und um sie herum drehte sich alles, aber sie biss die Zähne zusammen. Ariac stützte sie und schob sie den steinigen Abhang hinauf. Endlich hatten sie eine mit Gras überzogene Ebene erreicht. Rijana lächelte ihn noch einmal an, aber dann knickten ihr die Beine weg, und sie verlor das Bewusstsein. Ariac fing sie erschrocken auf und drückte sie an sich. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich jetzt befanden oder was aus ihren Pferden geworden war. Schließlich hob er Rijana auf und trug sie in die Richtung des nächsten Waldes, um Schutz zu finden. Es regnete immer stärker, und bald mischten sich Schneeflocken unter die Tropfen. Als er endlich den Waldrand erreicht hatte, war er zu Tode erschöpft und vollkommen durchgeweicht. Er legte Rijana unter einen Baum und deckte sie mit seinem Umhang zu. In der Nähe plätscherte ein kleiner Bach. Ariac brach ein Stück Rinde von einem dicken Baum ab und rannte zum Bach. Dann schöpfte er Wasser und hielt es Rijana an die Lippen.
»Bitte trink das«, sagte er verzweifelt, aber sie schluckte nur reflexartig und wachte nicht auf. Ariac ging selbst zum Bach, um zu trinken, dann ließ er sich zitternd neben sie sinken. Nach einiger Zeit begann es heftiger zu schneien. Ariac erhob sich steifgefroren, legte sich seinen Umhang über und hob Rijana auf. Er musste einen besseren Unterschlupf finden, sonst würden sie beide erfrieren. Außerdem brauchte er Kräuter. Allerdings wusste er selbst, dass er keine Ahnung davon hatte, welche Heilkräuter in Errindale wuchsen. Er kannte nur die wenigen, die in Ursann und in der Steppe zu finden waren, aber darum kümmerte er sich später. Zunächst würde er einen trockenen Platz suchen.
Ariac war den Tränen nahe, als er in der einbrechenden Dunkelheit noch immer nichts gefunden hatte. Rijana war nicht wieder aufgewacht, und er selbst konnte kaum noch weiter.
Als er dann eine kleine Holzhütte erblickte, aus deren Kamin Rauch aufstieg, glaubte er schon zu halluzinieren, rannte aber dann mit letzter Kraft darauf zu und klopfte mit einer Hand heftig an die Tür.
Eine verängstigte Frau mittleren Alters öffnete. Sie hatte grau durchzogene Haare, die zu einem Knoten aufgesteckt waren, und blickte die beiden überrascht an.
»Bitte helft ihr«, stieß Ariac hervor. »Ich komme aus der Steppe, aber ich tue Euch nichts. Bitte, helft ihr, ich … ich tue Euch nichts.«
»Was hat denn das Mädchen?«, fragte die Frau, ohne auf Ariacs Gestammel einzugehen, und schob die beiden in die Hütte. »Leg sie dort hin!« Sie deutete auf ein schmales Bett in einem kleinen Raum, in dem das Feuer im offenen Kamin prasselte. »Ich heiße übrigens Elsa.«
Ariac ließ Rijana vorsichtig auf das Bett sinken und blickte sie besorgt an. Sie sah blass aus, und die Verbände waren durchgeweicht.
Elsa beugte sich über sie und sagte zu Ariac, dessen Gesicht man unter der Kapuze nicht sah: »Ich hole die Kräuterfrau. Zieh ihr die nassen Kleider aus und wasch die Wunden aus. Ich bin bald zurück.«
Ariac nickte, ohne weiter auf Elsa zu achten, die rasch verschwand. Er zog Rijana den Umhang aus, unter dem alles trocken geblieben war. Dann schnitt er den Ärmel ihres Hemdes auf und wusch mit ängstlichem Gesicht die Wunde an ihrem Arm und am Kopf aus. Er war gerade fertig, als die Tür wieder aufging und eine alte, runzlige Frau mit grauen Haaren hereinkam. Ohne ein Wort setzte sie sich zu Rijana auf das Bett und sah sich ihre Verletzungen an. Dann fasste sie in einen Beutel und holte einige Kräuter heraus.
»Koch sie, Elsa«, befahl die Alte.
Elsa nickte und warf die Kräuter ins Wasser, dann packte sie den verstörten Ariac am Arm und drückte ihn auf einen Holzstuhl am Feuer.
»Du musst dich auch umziehen, sonst wirst du krank. Bist du auch verletzt?«
Er schüttelte mechanisch den Kopf und blickte auf Rijana, die bewegungslos im Bett lag.
»Gib mir deinen Umhang«, verlangte Elsa und zog ihm seine Kapuze vom Kopf. Als sie die Tätowierungen sah, wich sie instinktiv zurück.
Ariac hob seine Hände beschwichtigend. »Ich tue Euch nichts, wirklich, ich kann auch gehen, aber bitte helft Rijana.««
Elsa nickte beruhigend und entspannte sich ein wenig. »Entschuldige bitte, ich bin nur erschrocken. Ich habe keine Vorurteile gegen andere Völker. Ich war nur etwas verwirrt.«
»Solange er kein verfluchter Rotmantel ist, ist mir alles lieb«, murmelte die alte Frau und begann Rijanas Arm zu richten.
Ariac verzog das Gesicht und blickte sie ängstlich an. Elsa lächelte und reichte ihm eine Tasse mit Kräutertee.
»Muria ist eine der besten Kräuterfrauen, die es gibt.«
Ariac nickte unsicher und verbrannte sich die Zunge an dem heißen Tee. Er hustete und merkte plötzlich, wie er zitterte. Elsa begann in einer Holztruhe zu kramen.
»Du bist zwar größer, als mein Mann es war«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, »aber die Sachen sind trocken.« Sie deutete auf den Nebenraum. »Du kannst dich dort umziehen.«
Ariac zögerte. Er wollte Rijana nicht allein lassen, aber im Moment war die Kräuterfrau wohl ohnehin noch mit ihr beschäftigt. Er ging nach drüben und zog sich mit einiger Anstrengung die Kleider aus. Jetzt, wo Rijana in Sicherheit war, merkte er erst, was ihm selbst alles wehtat. Er konnte die Arme kaum hochheben, um sein schmutziges Hemd auszuziehen, und stöhnte unterdrückt, als er das frische Hemd wieder anziehen wollte.
Elsa kam herüber und schlug eine Hand vor den Mund.
»Du meine Güte, du bist ja am ganzen Körper grün und blau.« Ariac, der es nicht schaffte, sein Hemd über den Kopf zu bekommen, fluchte leise.
»Muria wird sich das nachher ansehen«, versprach Elsa.
»Nicht nötig«, murmelte er und ließ kraftlos die Hände sinken.
Elsa kam mit gerunzelter Stirn näher und deutete auf seine Schulter mit der kaum vernarbten Wunde. »Wurdest du angeschossen?«
»Das ist schon einige Zeit her«, antwortete er müde.
Elsa kam lächelnd näher und half ihm das Hemd anzuziehen, dann stolperte er wieder in den anderen Raum, wo Muria Rijana gerade eine Flüssigkeit verabreichte.
Leise stöhnend setzte er sich neben Rijana auf den Boden.
»Was fehlt ihr?«
Muria seufzte. »Sie hat ziemlich viel Blut verloren, und ihr Arm ist gebrochen. Ob ihr sonst noch etwas fehlt, kann ich nicht sagen. Ist sie schon mal aufgewacht?«
Ariac nickte und nahm Rijanas Hand in seine. »Gestern war sie kurz wach, aber ziemlich verwirrt.«
Die alte Frau nickte. »Das wird die Kopfverletzung sein. Wir werden sehen.«
»Wird sie wieder gesund werden?«, fragte Ariac mit angsterfüllten Augen.
»Ich möchte nichts versprechen«, antwortete die Alte. Dann lächelte sie. »Und jetzt sehe ich mir an, was ich für dich tun kann.«
Ariac schüttelte den Kopf. »Nein, mir fehlt nichts. Bitte hilf ihr.«
Muria seufzte. »Im Moment kann ich nicht mehr für sie tun. Später bekommt sie noch einen Kräutertrunk, dann werden wir abwarten müssen.«
Ariac schloss kurz die Augen und wehrte sich nicht einmal mehr, als Muria entschieden sein Hemd hinaufzog. Dann schüttelte sie missbilligend den Kopf.
»Von wegen, du hast am ganzen Körper Prellungen.«
Sie rührte eine Kräutercreme an, die sie Ariac auf den Rücken schmierte. Er stöhnte auf, als sie über die Abschürfungen und blauen Flecken fuhr.
»Ich hole etwas Stroh, dann kannst du neben ihr schlafen«, sagte Elsa freundlich.
»Danke«, sagte Ariac erleichtert, ließ Rijana aber nicht aus den Augen. Er machte sich Sorgen um sie.
Kurz darauf kehrte Elsa mit einem Bündel Stroh und einigen Decken zurück. Muria gab Rijana noch etwas von dem Kräutertrank, bevor sie sich verabschiedete, aber nicht ohne zu versprechen, am nächsten Morgen mit noch einigen anderen Kräutern zurückzukommen.
Ariac nickte ängstlich. Im Moment machte er sich nicht einmal Gedanken darüber, ob Muria ihn vielleicht an Scurrs Soldaten verraten könnte. Er wollte nur, dass Rijana gesund wurde.
Elsa brachte ihm eine Schale mit Eintopf, die Ariac kaum beachtete.
»Komm, jetzt iss etwas, ihr nützt es nichts, wenn du hungerst.«
Ariac seufzte und begann mechanisch den Eintopf zu löffeln, der ihn endlich von innen aufwärmte. Elsa nickte zufrieden.
»Was ist euch denn passiert?«
Ohne den Blick von Rijana abzuwenden, erzählte Ariac von dem Erdbeben und wie sie abgestürzt waren. Die Soldaten erwähnte er nicht.
»Ja, diese viele Erdbeben in letzter Zeit sind schlimm«, sagte Elsa bedächtig. »Ganze Dörfer wurden schon fortgerissen. Ihr hattet Glück.«
Ariac biss sich auf die Lippe und nickte. Dann streichelte er Rijana über die Wange. »Warum hat es gerade ihr passieren müssen?«
Elsa legte ihm eine Hand auf den Arm. »Solche Dinge passieren. Und jetzt schlaf, ich werde auf sie achten.«
Ariac schüttelte den Kopf. Aber irgendwann, als er auf dem Stroh und den Decken neben Rijanas Bett saß, fielen ihm doch vor Erschöpfung die Augen zu.
Elsa wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Ein Steppenkrieger, noch dazu mit zwei Schwertern, und dieses verletzte Mädchen – was taten die beiden hier so weit im Norden von Errindale?
In der Nacht gab Elsa Rijana noch zweimal von dem Kräutertrunk. Rijana bekam Fieber, wie Elsa besorgt bemerkte, aber gegen Morgen war es schon wieder ein wenig gesunken. Auch der junge Mann wachte im Morgengrauen ruckartig auf und schien für einen Augenblick nicht zu wissen, wo er war.
Elsa lächelte beruhigend. »Du kannst noch schlafen.«
Ariac schüttelte den Kopf und setzte sich neben Rijanas Bett. Er streichelte über Rijanas heiße Stirn und sagte erschrocken: »Es geht ihr schlechter.«
Elsa nickte traurig. »Muria wird bald hier sein.«
Ariac nahm Rijanas Hand und streichelte sie vorsichtig. Elsa beobachtete ihn verwundert. Nach allem, was man hörte, sollten die Steppenkrieger grausame Wilde sein, aber dieser junge Mann hier hatte scheinbar fürchterliche Angst um seine Freundin. Elsa seufzte.
Man soll nicht immer das glauben, was erzählt wird, dachte sie und bereitete einen Haferbrei zu.
Nachdem es heller geworden war, kam auch Muria bald zurück. Sie bereitete neue Kräutertränke zu, wechselte Rijanas Verbände und sagte, dass man jetzt nur noch abwarten könne. Ariac war verzweifelt und konnte nichts essen. Die ganze Zeit über lief er unruhig im Zimmer umher, hielt Rijanas Hand oder versuchte, ihr etwas zu trinken einzuflößen.
»Bitte hilf ihr, ich kann dich bezahlen«, sagte er am dritten Tag, als Muria kam und Rijana noch immer nicht erwacht war.
Die alte Frau lächelte traurig. »Manche Dinge kann man nicht kaufen, junger Steppenkrieger. Ich tue alles, was ich kann, aber jetzt muss sie selbst kämpfen, und nur du kannst ihr dabei helfen.« Sie blickte ihm eindringlich in die Augen. »Ich sehe, dass ihr eine besondere Bindung habt. Ihr gehört zusammen.«
Ariac nickte und nahm Rijana vorsichtig in den Arm. In den letzten Tagen hatte er kaum geschlafen. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen.
Muria schlurfte zu Elsa in die kleine Nebenkammer, wo diese gerade Gemüse für einen Eintopf zerkleinerte.
»Wie geht es dem Mädchen?«, fragte Elsa leise, sodass Ariac es nicht hören konnte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte die Kräuterfrau ehrlich. »Die Verletzungen sind nicht allzu schlimm, aber sie wacht einfach nicht auf.«
Elsa nickte besorgt. »Sie ist noch so jung, wohl kaum erwachsen. Und der junge Mann, der scheint sie wirklich zu lieben.«
Muria nickte. »Ja, aber die beiden haben ein Geheimnis.«
»Das glaube ich auch. Aber obwohl er ein Steppenkrieger ist, scheint er ein guter Mensch zu sein.«
»Das eine schließt das andere nicht aus«, erwiderte Muria mit einem angedeuteten Grinsen. Sie ging wieder hinüber und sah, wie sich der junge Mann rasch über die Augen wischte und sich auf die Lippe biss.
Die alte Frau legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Bleib bei ihr, das spürt sie.«
Ariac nickte und unterdrückte ein Schluchzen. In seinem Leben hatte er sich noch nie so hilflos gefühlt, nicht einmal, als er in Ursann in dem Kerkerloch gesessen hatte.
Nach zwei weiteren Tagen war das Fieber endlich gesunken, und eines Nachts, als Ariac schlaflos auf Rijanas Bett saß und ihr über die Haare streichelte, öffnete sie ganz plötzlich die Augen.
Ariac stieß einen heiseren Laut aus und nahm ihre Hand. »Wie geht es dir?«
Sie blinzelte und brachte ein undeutliches »Durst« heraus.
Er nickte und hielt ihr einen Becher mit Tee an die Lippen. Sie versuchte, sich ein wenig aufzurichten, ließ sich dann jedoch kraftlos wieder zurücksinken.
»Rijana, was ist?«, fragte er erschrocken.
Sie presste die Augen fest zusammen und fragte dann: »Wo sind wir?«
»In einer Hütte in Errindale. Tut dir etwas weh?«
Sie schluckte ein paar Mal krampfhaft und nickte dann. »Mein Kopf.«
Ariac streichelte ihr vorsichtig über die Wange. »Du bist mit dem Baumstamm abgestürzt. Aber ruh dich aus, und sprich nicht so viel.«
Rijana nahm seine Hand. »Bleibst du bei mir?«, murmelte sie.
»Natürlich«, flüsterte er ihr ins Ohr, und ein paar Tränen der Erleichterung tropften auf ihre Haare.
Etwas später kam Elsa dazu, und Ariac erzählte ihr, dass Rijana aufgewacht war.
»Das freut mich«, sagte sie ehrlich. »Jetzt geht es ihr bald wieder gut.«
»Das hoffe ich.« Ariac seufzte und lehnte sich gegen die alten Holzbretter.
»So, und nun isst du endlich mal anständig«, verlangte Elsa streng.
Zögernd stand Ariac auf, streichelte Rijana noch einmal über die Haare und ging dann in den kleinen Anbau, wo er sich an den Tisch setzte. Elsa gab ihm eine Schüssel mit Haferbrei und Früchten, die er diesmal mit mehr Appetit leerte.
»Warum hast du eigentlich keine Angst vor mir?«, fragte er plötzlich.
Elsa lächelte. »Sollte ich das?«
Ariac hob die Augenbrauen. »Die meisten Menschen bekommen Panik, wenn sie mich sehen.«
Elsa hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Welt sich ändert. Früher dachte ich, die Soldaten aus Camasann sind ehrenvoll und beschützen uns, aber das tun sie nicht. Scurrs Soldaten haben alles unter Kontrolle, Orks treiben sich in unserem Land herum, und Gronsdale, mit dem wir eigentlich befreundet waren, führt Krieg gegen uns.«
Ariac zog die Augenbrauen zusammen. »Die Krieger aus Camasann helfen euch nicht?«
Elsa schüttelte den Kopf. »Nein, seit einigen Jahren nicht mehr. Wie du siehst, ändert sich alles, und warum soll ich mich da über einen jungen Steppenkrieger wundern, der sich so rührend um sein Mädchen kümmert?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Na ja, sie ist ja keine vom Steppenvolk …«
Ariac seufzte. »Rijana ist eine Arrowann geworden, wir sind verlobt.«
Elsa wirkte überrascht, dann grinste sie. »Wie gesagt, die Welt ändert sich.«
»Entschuldige, ich habe meinen Namen noch gar nicht genannt«, fiel ihm plötzlich ein. »Ich heiße Ariac.«
»Das dachte ich mir«, erwiderte Elsa lächelnd. »Rijana hat im Schlaf deinen Namen gerufen.«
Ariac stützte den Kopf in die Hände, und seine mehr als schulterlangen Haare fielen ihm vors Gesicht. »Ich hoffe, sie wird wirklich wieder gesund.«
»Bestimmt«, sagte Elsa beruhigend und erhob sich. »Ich muss etwas Holz hacken, sonst wird es zu kalt.«
»Das kann ich doch machen«, bot Ariac an.
Elsa nahm sein Angebot gerne an. Als allein lebende Witwe hatte man es nicht einfach, und die tägliche Arbeit war schwer.
Er kniete sich noch einmal neben Rijana, aber die schien fest zu schlafen. Dann ging er hinaus. Überrascht bemerkte er, dass eine dichte Schneedecke den Boden bedeckte. In der kleinen Scheune hinter dem Haus hackte er einen großen Berg Holz, der einige Zeit halten würde. Gerade wollte er zurück zur Hütte gehen, als er Soldaten sah, die sich langsam näherten. Erschrocken rannte er hinter den Schuppen und überlegte hektisch, was er tun sollte. Sein Schwert war in der Hütte. Was wollten die Soldaten? Hatte Elsa sie etwa doch verraten? Aber da kam die alte Heilerin herbeigeeilt.
»Los, versteck dich in der Scheune in dem geheimen Raum.« Sie öffnete eine Klappe im Boden, und Ariac stieg hinunter. Dort waren Kartoffeln, geräucherter Schinken und Gemüse gelagert.
»Elsa wird behaupten, Rijana wäre ihre Tochter. Sie hat eure Schwerter, den Bogen und deine Sachen versteckt. Bleib hier, bis ich dich hole.«
Ariac nickte nervös. Er musste Muria wohl oder übel trauen.
 
Die Soldaten trabten langsam näher. Sie suchten eine Unterkunft. Auch sie waren von dem Erdbeben überrascht worden. Einige Zeit hatten sie in den Wäldern nach den Reitern der beiden Pferde gesucht, die so kopflos an ihnen vorbei nach Süden gestürmt waren. Dann hatte es zu schneien begonnen, und sie wollten sich irgendwo aufwärmen, bevor sie zum nördlichen Gebirge ritten. Der Hauptmann, ein älterer Krieger, der schon seit langem unter König Scurr diente, ritt zielstrebig auf Elsas Hütte zu und klopfte heftig an die Tür.
Sie öffnete und verbeugte sich pflichtbewusst vor ihm. Er schubste sie zur Seite und betrat die kleine, ärmliche Hütte. Hier hatten seine Männer keinen Platz. Er runzelte missbilligend die Stirn.
»Wer ist das?«, fragte er und deutete auf Rijana.
»Meine Tochter, sie wurde bei dem Erdbeben von einem Baum getroffen, als sie auf der Suche nach Pilzen war.«
Der Soldat hob misstrauisch die Augenbrauen und begann, die Hütte zu untersuchen. Wie selbstverständlich steckte er ein paar verschrumpelte Äpfel und Kartoffeln in seine Taschen.
»Hast du einen Steppenkrieger und ein Mädchen gesehen?«, fragte er streng.
Elsa schüttelte den Kopf und dachte mit einem Blick zu Rijana: Aha, ihr werdet also gesucht.
Der Soldat musterte sie bereits eine Weile, als die Tür aufging und Muria eintrat. Sie verbeugte sich.
»Hoher Besuch aus Ursann.«
Der Soldat blickte sie böse an. »Wer bist du?«
»Die Heilerin.«
»Ist das Mädchen die Tochter dieser Frau?«, fragte er und beobachtete Muria genau.
Sie nickte. »Selbstverständlich, was denkt Ihr denn?«
»Wir suchen einen Steppenkrieger und eine junge Frau aus Camasann.«
Muria lachte laut auf. »Ein Steppenkrieger, hier? Du meine Güte, glaubt Ihr wirklich, in diesen Zeiten würden wir Fremden helfen?« Sie blickte demonstrativ auf seine ausgebeulten Taschen. »Uns bleibt doch selbst kaum etwas zum Leben.«
Der Soldat zog wütend die Augenbrauen zusammen. Er wollte gerade gehen, als Rijana sich unruhig bewegte und leise »Ariac« murmelte.
Der Soldat fuhr herum und beugte sich über sie. »Was hat sie gesagt?«, fragte er streng.
Elsa hielt die Luft an, aber Muria behielt die Nerven. »Sie hat nach ihrer Mutter gerufen, Ariann.« Sie winkte Elsa zu sich. »Na los, geh zu ihr.«
Diese lächelte und beugte sich über Rijana. »Hier bin ich, mein Kind, keine Angst.« Sie hoffte inständig, dass Rijana nichts mehr sagen würde, und goss ihr mit zitternden Händen etwas Kräutertee in den Mund.
»Durchsucht die Scheune hinter dem Haus«, befahl der Soldat und setzte sich auf einen Stuhl. Rijana war zum Glück wieder eingeschlafen. Drei Soldaten stapften durch den Schnee hinter das Haus.
Muria und Elsa warfen sich einen heimlichen Blick zu.
»Wie heißt das Mädchen?«, fragte der Hauptmann.
»Elsa«, antwortete Muria. Es war immer besser, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.
 
Ariac saß mit zum Zerreißen gespannten Nerven in seinem Versteck. Sie kennen Rijana nicht, sie haben sie niemals gesehen, sagte er sich immer wieder.
Plötzlich hörte er Stimmen und Tritte schwerer Stiefel auf den alten Holzbrettern.
Ariac schloss die Augen und befürchtete, dass jetzt alles vorbei war. Die Männer schoben verschiedene Geräte und Holz zur Seite.
»Geht hinauf, auf den Dachboden«, befahl eine Stimme.
Staub rieselte zu Ariacs Versteck hinab, als ein Soldat auf die versteckte Klappe trat. Ariac verspürte den unwiderstehlichen Drang zu niesen. Er hielt sich die Nase zu und hielt die Luft an – er musste sich jetzt zusammenreißen. Eine ganze Weile durchsuchten die Soldaten noch alles. Ariac war mittlerweile der festen Überzeugung, dass sie ihn finden mussten. Doch dann schienen die Soldaten genug zu haben. Ariac hörte Waffen klappern und sich entfernende Schritte. Er atmete aus und nieste unterdrückt.
 
Die Soldaten kehrten zu der Hütte zurück und berichteten, dass sie nichts gefunden hatten. Der Hauptmann zog unbefriedigt die Augenbrauen zusammen. Dann stand er auf und nickte den beiden Frauen zu.
Er verließ die Hütte, sagte jedoch zu einem seiner Männer: »Beobachtet die Gegend.« Er selbst ritt die knappe Meile zu der nächsten kleinen, ähnlich ärmlichen Ansiedlung, klopfte wahllos an eine der Türen und herrschte einen älteren Mann an: »Kennst du eine Ariann und eine Elsa?«
Der alte Mann hob eine Hand ans Ohr. »Hä?!«
»Kennst du eine Elsa?«, schrie der Soldat ungeduldig. Der Alte nickte. »Ja, ja, Elsa, sie wohnt etwas außerhalb des Dorfes.«
»Aha.« Der Hauptmann nickte. Anscheinend hatte die Kräuterfrau die Wahrheit gesprochen. Er ließ seine Männer zurückrufen, und sie ritten weiter nach Norden.
 
Elsa und Muria warteten noch einige Zeit angstvoll.
»Geh hinaus und tu so, als ob du Holz holen würdest«, schlug Muria schließlich vor. »Sie beobachten uns sicher noch.«
Elsa nickte nervös und ging mit zitternden Beinen hinaus. Sie öffnete die Klappe, und Ariac sprang heraus.
»Du kannst noch nicht zurück ins Haus gehen, sie beobachten uns sicher.«
»Ist mit Rijana alles in Ordnung?«, fragte Ariac besorgt.
»Keine Sorge«, versicherte Elsa. »Warte, bis es dunkel ist, und komm dann zum hinteren Fenster. Ich werde dich hineinlassen.«
Ariac hielt Elsas Hand fest. »Danke! Danke, dass du das für uns tust.«
Elsa lächelte traurig. »Scurrs Männer haben meinen Mann und meinen Sohn getötet. Wenn ich jemandem helfen kann, den sie suchen, dann tue ich das.«
»Danke«, sagte Ariac noch einmal und stieg zurück in den kleinen Raum.
Er wartete, bis es dunkel geworden war, und schlich dann wie besprochen zum hinteren Fenster der kleinen Hütte. Elsa öffnete, und er kletterte hinein.
Er setzte sich zu Rijana auf das schmale Bett und streichelte ihr vorsichtig über die Haare.
»Deine kleine Freundin hätte uns beinahe auffliegen lassen«, erzählte Muria mit einem faltigen Grinsen.
»Wieso?«, fragte Ariac.
»Sie hat im Schlaf deinen Namen gesagt«, seufzte Elsa und sagte schnell beruhigend, als sie Ariacs erschrockenes Gesicht sah: »Muria hat gut reagiert und sehr überzeugend gelogen.«
Die alte Frau grinste weiterhin breit. »Es gibt Zeiten, da muss man die Wahrheit sagen, und es gibt Zeiten, zu denen man sie etwas abändern sollte. Und diesen rotgewandeten Mördern lüge ich gern ins Gesicht.«
»Danke«, sagte Ariac und gab Rijana einen Kuss auf die Wange. Dann lächelte er zögernd. »Ich hätte es nicht gedacht, aber es scheint wirklich noch Menschen zu geben, denen man trauen kann.«
Die beiden Frauen lächelten ein wenig verlegen. »Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Am Ende treiben sie sich noch in der Gegend herum.«
»Ich werde mich nicht sehen lassen«, versicherte Ariac.
In diesem Moment schlug Rijana zögernd die Augen auf und lächelte, als sie Ariac sah. Er gab ihr etwas von dem Kräutertrank. »Ich bin hier, keine Angst.«
»Geht es dir gut?«, murmelte sie undeutlich.
»Ja, alles in Ordnung.«
Sie wollte scheinbar noch etwas sagen, aber die Augen fielen ihr zu.
 
In den folgenden Tagen war Rijana immer wieder für kurze Zeit wach. Allerdings war sie noch ziemlich schwach, hatte Kopfschmerzen und wollte nichts essen. Ariac machte sich noch immer Sorgen um sie, aber Muria versprach, dass Rijana auf dem Weg der Besserung war.
Mittlerweile bedeckte dichter Schnee den Boden.Von den Soldaten sah man nichts mehr, sie waren tatsächlich abgezogen.
»Ihr könnt natürlich den Winter hier verbringen. Ich habe genügend Vorräte«, bot Elsa eines Tages an, als Rijana endlich mal wieder aufrecht im Bett saß. »Danke«, sagte Ariac erleichtert und streichelte Rijana über die Stirn, die schläfrig an seiner Schulter lehnte.
»Aber lasst euch nicht zu viel draußen blicken. Im Winter geht zwar kaum jemand weit vor die Tür, und die Leute sind alle sehr nett hier, aber es könnte Gerede geben.«
»Natürlich, wir werden aufpassen«, versprach Ariac.
»Möchtest du noch etwas Suppe, Rijana?«, fragte Elsa mit einem freundlichen Lächeln.
Rijana schüttelte den Kopf. Sie hatte noch immer keinen Appetit und war ständig müde.
»Tut dein Kopf weh?«, fragte Ariac besorgt.
Rijana schüttelte den Kopf, obwohl das nicht so ganz stimmte, und legte sich wieder hin. »Nein, es geht schon.«
Ariac seufzte und deckte sie zu.
Wie an jedem Tag, kam auch an diesem Abend Muria vorbei.
»Wird Rijana wirklich wieder ganz gesund?«, fragte Ariac sofort.
Muria nickte bedächtig. »Ich denke schon, aber sie hat einen harten Schlag auf den Kopf bekommen, das dauert seine Zeit. Aber ihr bleibt ja den Winter über sowieso hier, dann kann sie sich erholen.«
Ariac runzelte die Stirn und hoffte, dass das wirklich stimmte.
Mitten in der Nacht, Ariac schlief wie immer auf dem Strohbett neben Rijana, begann die Erde zu beben.
Rijana fuhr erschrocken auf. »Ariac«, rief sie ängstlich.
Er stand auf und setzte sich neben sie, dann nahm er sie in den Arm und streichelte sie beruhigend. Er konnte spüren, wie sie am ganzen Körper zitterte. Es bebte eine lange Zeit, dann war es endlich vorbei, und Ruhe kehrte wieder ein.
»Es ist vorbei, keine Angst«, sagte er und zog Rijanas Decke höher.
Sie nickte und drückte sich an ihn.
»Was ist eigentlich aus Lenya und Nawárr geworden?«, fragte sie plötzlich.
»Das weiß ich leider nicht«, antwortete Ariac bedauernd. »Sie haben wohl einen ziemlichen Schrecken bekommen und sind davongelaufen. Aber sie sind klug und werden zurechtkommen.«
»Das hoffe ich«, antwortete sie und schlang ihre Arme um Ariacs Oberkörper.
»Danke, dass du bei mir geblieben bist.«
Er zwickte sie empört in die Nase. »Hast du gedacht, ich hätte dich einfach in die Schlucht stürzen lassen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich kann mich kaum noch an etwas erinnern.«
Ariac erzählte ihr, wie sie beide abgestürzt waren und er sie schließlich zu Elsas Hütte gebracht hatte.
Ariac wollte sich wieder nach unten legen. Aber Rijana hielt ihn fest. »Kannst du hierbleiben?«
»Natürlich«, antwortete er, »aber bist du nicht müde?«
»Doch, schon«, erwiderte sie, »aber es ist schön, wenn du bei mir bist.«
Ariac lächelte und nahm sie wieder in den Arm.
 
In den nächsten Tagen ging es Rijana deutlich besser. Sie unternahm ihre ersten wackligen Schritte in der kleinen Hütte und aß ganz langsam wieder normale Portionen. Auch ihre Wunde am Kopf schloss sich endlich. Ihr gebrochener Arm machte noch einige Zeit Schwierigkeiten, aber als der zweite Mond nach dem Unfall vergangen war, konnte sie ihn wieder einigermaßen bewegen. Elsa kümmerte sich rührend um die beiden und fragte nicht weiter, wenn sie merkte, dass Rijana und Ariac über bestimmte Dinge nicht reden wollten. Auch Muria kam hin und wieder vorbei und freute sich, dass es Rijana so gut ging.
Es war ein bitterkalter, harter Winter. Ariac musste zweimal in den Wald gehen und Bäume fällen, damit sie nicht erfroren. Rijana brachte Ariac das Lesen und Schreiben bei, als es ihr wieder gut ging. Auch Elsa wollte es erlernen, und so verging die Zeit wie im Fluge. Sie verbrachten gemütliche Tage am Feuer, während draußen leise der Schnee vom Himmel rieselte. Hin und wieder bebte jedoch die Erde. Und jedes Mal war in Rijanas Augen Panik zu sehen. Zum Glück waren es nur leichtere Beben, sodass keine größeren Schäden entstanden.
Als der Frühling seine ersten Boten schickte, waren Rijana und Ariac sogar ein wenig traurig, dass sie Elsa nun verlassen mussten. Die liebenswürdige Frau war ihnen ans Herz gewachsen. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Als die jungen Leute ankündigten, dass sie in den nächsten Tagen aufbrechen würden, standen Elsa Tränen in den Augen.
»Aber seid vorsichtig, wo auch immer ihr hingeht«, sagte sie und begann, Proviant für die Reise einzupacken.
Rijana trat vor die Tür. Die Sonne des ersten Frühlingsmondes hatte bereits ein wenig Kraft. Sie war wieder vollständig genesen. Von ihrer Verletzung sah man nichts mehr, auch ihren Arm konnte sie wieder normal bewegen. Ariac nahm sie stürmisch in den Arm.
»Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht.«
Sie lachte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Das hast du mir in den letzten Monden schon hundertmal gesagt.«
»Das kann ich nicht oft genug sagen«, erwiderte er ernst. »Ich hatte wirklich Angst um dich, und ich hätte nicht gewusst …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Ich lebe noch und hoffe, dass du mich jetzt mit dir kommen lässt, denn ich wüsste auch nicht, was ich tun soll, wenn dir in Ursann etwas passiert und ich dir nicht helfen kann.«
Ariac zögerte. Den ganzen Winter lang hatte er darüber nachgedacht und mit dem Gedanken gespielt, Rijana vorzuschlagen, dass sie hier bei Elsa bleiben sollte. Andererseits wusste er genau, dass sie darauf nicht eingehen würde.
»Wir werden sehen. Wenn es so weit ist, dann werden wir gemeinsam entscheiden.«
Rijana streckte sich und gab ihm einen Kuss. Das war zumindest vielversprechender als das, was er im Herbst von sich gegeben hatte. Die beiden holten ihre Schwerter und begannen, tief im Wald versteckt, zu trainieren. Ariac beobachtete Rijana genau. Aber zu seiner Erleichterung hatte sie ihre frühere Kraft wieder vollständig zurück und kämpfte sehr geschickt.
»Wenn ich das Schwert von Thondra hätte, das mir gehört, wäre ich noch besser«, sagte er am Schluss nachdenklich.
Rijana lachte auf. »Ich kenne niemanden, der besser ist als du. Selbst Falkann und …«
Sie stockte und biss sich auf die Lippe, sie wollte jetzt nicht an ihre Freunde denken. Ariac nahm sie in den Arm.
»Du wirst sie wiedersehen.«
Rijana nickte und nahm seine Hand. »Und dann werden sie dich endlich auch als den anerkennen, der du bist.«
Seine Augen wurden traurig. »Wer bin ich denn?«
Rijana lächelte ihn an. »Das Beste, was mir jemals passiert ist. Und jedem, der etwas anderes behauptet, dem breche ich die Nase.«
Ariac hob sie hoch, und Rijana lachte leise.
»Dann werden wohl in Zukunft sehr viele Menschen mit gebrochener Nase durch die Länder reisen«, erwiderte er kritisch.
Rijana boxte ihn in die Seite. »Sei nicht so pessimistisch. Die Arrowann sind ein wunderbares Volk, und das werden die Menschen irgendwann erkennen.«
Ariac seufzte. Er konnte sich das nicht vorstellen.
Nachdem sie sich herzlich bei Elsa und Muria bedankt hatten, zogen sie mit reichlich Proviant bepackt am nächsten Morgen los. Die Frauen winkten ihnen lange hinterher und hofften inständig, dass es den beiden jungen Leuten gut ergehen würde.
Rijana und Ariac wanderten in Richtung Westen auf Catharga zu. Eines Tages lagerten die beiden erschöpft unter einem überhängenden Felsen, von dem das Wasser tropfte.
»Wie ärgerlich, dass wir keine Pferde haben«, stellte Ariac fest.
Rijana nickte und zog sich die Decke bis über die Nase. »Ich hoffe, es geht ihnen gut.«
»Sicher«, sagte Ariac lächelnd. »Die beiden sind sehr klug und werden bestimmt irgendwo frei und wild über die Wiesen galoppieren.« Er legte noch einen Ast auf das kleine Feuer. »In Ursann hätten wir sie ohnehin zurücklassen müssen.«
»Wieso?«, fragte Rijana und knabberte an einem Apfel herum.
Ariac zog die Augenbrauen zusammen. »Es gibt nur ganz wenige Wege, auf denen man reiten kann, und die sind streng bewacht«, erklärte er. »Wir müssen über zackige Felsen und durch tiefe Schluchten klettern. Es wird nicht einfach werden.« Ariac wirkte jetzt sehr besorgt.
Rijana lächelte aufmunternd. »Wir schaffen das schon. Vielleicht können wir ja irgendwo Pferde kaufen oder welche von Scurrs Männern stehlen?«
»Hmm«, Ariac überlegte, »wir werden sehen.«
Die beiden waren weiter im Norden, als sie zunächst gedacht hatten. Eines Tages hörten sie ein lautes Donnern und sahen Möwen und sonstige Seevögel am Himmel kreisen. Rijana und Ariac liefen auf eine Klippe hinauf und blickten auf das schäumende Meer. Der Wind nahm einem hier die Luft zum Atmen, die Böen rissen an ihren Kleidern, aber der Ausblick entschädigte sie für alles. Hohe Wellen peitschten an den weißen Sandstrand, und Robben lagen träge in der Sonne.
»Das ist wunderschön!«, rief Rijana begeistert.
»Ich habe das offene Meer noch nie gesehen«, bemerkte Ariac nachdenklich, »nur die Meerenge.«
Rijana setzte sich auf einen Felsen. »Auf Camasann hat es häufig so hohe Wellen gegeben, dann sind wir oft meilenweit am Strand entlanggaloppiert.«
»Das muss schön gewesen sein«, erwiderte Ariac.
Rijana nickte und wirkte ein wenig wehmütig, sprang jedoch gleich wieder auf. »Komm jetzt«, sagte sie, »wir sind wohl zu weit nach Norden gelaufen.«
Nun hielten die beiden auf das Gebirge zu, das sich im Westen gegen den Himmel erhob. Es bildete die Grenze zwischen Catharga und Errindale. Der Aufstieg war schwierig, und jeden Abend rollten sich Rijana und Ariac zu Tode erschöpft in die Decken, die Elsa ihnen mitgegeben hatte. An vielen Stellen lag noch Schnee, und die Bäche waren meist reißend vom vielen Schmelzwasser.
Als der zweite Vollmond des Frühlings am Himmel stand, hatten die beiden endlich die Seite der Bergkette erreicht, die zu Catharga gehörte. Man sah in der Ferne bereits die weiten Grasebenen, die vielen Seen und ganz im Westen, unheilkündend, die schroffen Berge von Ursann. Aber bis dorthin war es noch ein langer Weg. Rijana und Ariac liefen einen steilen Berghang hinab. Hier war wieder viel Wald zu sehen, und sie hatten Glück, denn es gab reichlich Wild. Plötzlich hob Ariac eine Hand und hielt Rijana zurück. Er legte einen Finger auf die Lippen und schlich vorsichtig an den Rand einer Klippe. Rijana folgte ihm, und sie legten sich an die schroffe Felskante. Unter ihnen, in einem Felskessel, am Rande der beginnenden Ebenen, war eine große Menge Orks zu sehen. Rijana und Ariac schätzten die Anzahl der Wesen auf mehr als zweihundert. Dazu waren dort noch etwa zwanzig Soldaten in roten Umhängen versammelt, die scheinbar das Training der Orks überwachten.
Rijana blickte Ariac fragend an, aber der wusste auch nicht, was das sollte. Plötzlich erstarrte er. In der Mitte des Felskessels stand eine wohlbekannte Gestalt, die Befehle brüllte. Unglaublicher Hass wallte in Ariac auf.
»Was ist denn?«, flüsterte Rijana.
Sie erschrak, als er sich zu ihr drehte, seine Augen waren hasserfüllt.
»Worran«, knurrte er.
»Oh!« Rijana schluckte. Dieser Worran musste ein grausamer Kerl sein.
»Ich bringe ihn um«, stieß Ariac mühsam beherrscht hervor.
Rijana packte ihn erschrocken am Arm. »Aber doch nicht jetzt, da sind viel zu viele Soldaten, und sieh dir die ganzen Orks an.«
Ariac schnaubte, aber dann schien er sich zu besinnen.
»Was tun sie mit den Orks, verdammt?«, murmelte er. »Scurr benutzt Orks zum Training der jungen Soldaten, aber das hier? Das sieht aus wie eine kleine Armee.«
Rijana beugte sich weiter über den Abhang. Die Orks waren in Rüstungen gekleidet und prügelten wild aufeinander ein. Immer wieder musste Worran sie trennen und schrie dabei herrisch herum. Sie selbst war noch nie einem Ork begegnet, aber die anderen hatten erzählt, dass diese Wesen sehr stark, wenn auch dumm waren.
Die beiden blieben über Nacht auf der Klippe, aber Ariac konnte nicht schlafen. Er machte sich unablässig Gedanken darüber, was das alles zu bedeuten hatte. Scurr hatte die nördlichen Länder unter seiner Kontrolle. Aber was sollten die Orks?
Auch am Morgen waren Soldaten und Orks noch in dem behelfsmäßigen Lager, und als Rijana und Ariac schließlich aufbrachen, um sie zu umgehen, sahen sie im letzten Moment noch eine weitere Gruppe, die sich von Norden her näherte – noch einmal um die hundert Orks.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte Ariac und wirkte ziemlich besorgt.
Rijana versuchte vergeblich, ihn aufzumuntern, aber er blieb während des gesamten mühsamen Abstiegs schweigsam.
Als sie die Ebenen von Catharga erreicht hatten, hielten sie sich möglichst im Wald auf, da sie immer Angst hatten, entdeckt zu werden. Eines Tages hatten sie Glück und konnten einer Gruppe von Soldaten zwei Pferde stehlen, während die Männer betrunken in einem kleinen Hain lagerten. Daher gelangten sie nun schneller zu den Ausläufern des Gebirges von Ursann. Ariac hatte es von dieser Seite noch nie gesehen und musste zu seinem Ärger feststellen, dass die Berge hier beinahe senkrecht in die Höhe ragten, sodass man sie nicht erklimmen konnte. Die beiden bewegten sich immer weiter nach Süden auf den steilsten und am markantesten aufragenden Berg Ursanns zu – den Teufelszahn. Hier hatte vor über tausend Jahren die letzte Schlacht der Sieben stattgefunden. Ariac war immer schweigsamer und verschlossener geworden, je mehr sie sich Ursann genähert hatten. Und als sie auf den riesigen Catharsee zuritten, wurde auch Rijana unwohl zumute. Was würde sie in Ursann erwarten?
Es war mittlerweile Frühsommer, die Tage waren lang und meist warm. Hier in Catharga wehte immer eine frische Brise. In Ursann würde es bereits wieder stickig und schwül sein.
An diesem Abend lagerten die beiden am nördlichen Ende des riesigen Sees, der hier von Bäumen und Büschen umgeben war.
Ariac blickte auf die klare Oberfläche.
»Vor tausend Jahren haben wir schon hier gekämpft. Ich hätte die Elfen fragen sollen, wer ich war.«
Rijana musste schlucken, auch sie fühlte sich merkwürdig. Sie konnte sich nicht an ihr früheres Leben erinnern, nur hin und wieder kamen ihr Bruchstücke in den Sinn. So wie damals, als sie erfahren hatte, dass sie eine der Sieben war. Rijana umarmte Ariac und blickte zu ihm auf.
»Werden wir wieder in einer Schlacht sterben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ariac seufzend und streichelte ihr über die Haare. »Aber es ist wahrscheinlich.«
Rijana schluckte. »Aber diesmal werden wir zusammenhalten, dann wird sicher alles gut.«
Ariac sah ein wenig unsicher aus. Selbst wenn es ihm gelingen würde, die beiden Schwerter von König Scurr zu stehlen, würden die anderen ihn dann akzeptieren? Oder würden sie ihn noch immer für einen Verräter und Mörder halten?
»Sie sind alle gute Menschen«, sagte Rijana, die wohl Ariacs Gedanken gelesen hatte. Sie drückte seine Hand und sah ihm tief in die Augen. »Sie werden erkennen, dass sie dir trauen können. Du hast mich gerettet und diesen ekelhaften Flanworn nicht umgebracht, das weiß ich.«
Ariac nahm sie in den Arm und seufzte. »Du glaubst mir, aber die anderen sind gegen mich.«
Rijana schüttelte energisch den Kopf. »Sie mögen dich, das habe ich gespürt. Gut, Falkann hat sie ein wenig aufgewiegelt, aber der war eben eifersüchtig.«
»Du hast mich einem Königssohn vorgezogen, eigentlich ist das unglaublich«, sagte Ariac und sah sie liebevoll an.
Rijana grinste halbherzig und ein wenig nachdenklich. »Ich mag Falkann, und vielleicht war ich am Anfang sogar ein wenig verliebt in ihn. Aber ich habe eben erkannt, dass er nur ein guter Freund für mich ist.« Sie seufzte. »Ich hoffe, dass er das eines Tages wieder sein wird und mich nicht hasst.«
»Das wird er sicher nicht«, erwiderte Ariac und streichelte Rijana über das Gesicht. »Wir müssen in Ursann sehr vorsichtig sein, und du musst auf mich hören. Wenn ich sage, dass du irgendwo warten sollst, dann musst du das tun«, verlangte er eindringlich. »Ich kenne mich hier aus, und ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Außerdem habe ich beschlossen, allein in das Schloss von König Scurr zu gehen.«
Rijana schluckte, jetzt wurde es wohl wirklich ernst. Sie nickte zögernd.
»Aber du darfst kein unnötiges Risiko eingehen. Wenn du das Schwert nicht bekommst, dann lässt du es bitte sein!«, verlangte sie nachdrücklich.
Ariac zögerte. Er glaubte nicht, dass die anderen ihm vertrauen würden, wenn er ihnen keinen Beweis seiner Loyalität brachte.
»Wir werden sehen«, sagte Ariac.
 
Sie brauchten zwei weitere Tage, bis sie den See umrundet hatten. Beide überkam ein merkwürdiges Gefühl, als sie an diesem Abend unweit des sandigen Ufers Rast machten. Sie sattelten die Pferde ab und ließen sie frei. Ab hier mussten sie allein weiterziehen. Ariac kannte einen schmalen Pfad unterhalb des Teufelszahns, der in die Berge hineinführte. Jetzt trauten sie sich nicht mehr, ein Feuer zu machen, denn den Schein hätte man bis weit ins Land hinein sehen können, und Ariac wusste, dass Scurrs Späher die Grenzen von Ursann bewachten. Von nun an wären sie ständig in Gefahr.
Ariac fuhr in dieser Nacht aus dem Schlaf hoch. Er glaubte zu ersticken, konnte sich aber an nichts mehr erinnern. Rijana stand in der Nähe und hielt Wache. Über dem See war Nebel aufgezogen, und es herrschte gespenstische Stille. Ariac stand auf und ging zu Rijana.
»Du hättest noch schlafen können«, sagte sie leise und drehte sich zu ihm.
»Ich kann nicht mehr schlafen«, erwiderte er.
»Es ist merkwürdig hier, oder?«, fragte Rijana beinahe unhörbar.
Ariac nickte. Ein komisches Gefühl hatte sich auch bei ihm breitgemacht. Plötzlich platschte es leise im Wasser, und beide fuhren mit erhobenen Schwertern herum. Aber nichts rührte sich mehr, wahrscheinlich war es nur ein Fisch gewesen.
»Leg dich hin«, sagte Ariac leise. »Du solltest dich etwas ausruhen.«
Rijana gab ihm einen Kuss und legte sich auf ihre Decke. Ariac lehnte eine ganze Weile an einem der Felsen. Der Nebel wurde dichter, und plötzlich sah er eine Gestalt. Sie erschien in einem merkwürdigen Licht und kam auf ihn zu. Er kniff die Augen zusammen und dachte zunächst, es wäre Rijana, aber dann bemerkte er, dass es eine sehr viel größere Frau war, die in fließende Gewänder gekleidet war. Aus ihren Haaren floss Wasser.
»Rijana«, rief er warnend und ging mit erhobenem Schwert auf die Gestalt zu.
Eine merkwürdige Stimme hallte in seinem Inneren wider.
»Leg dein Schwert nieder, ich werde euch nichts tun.«
Ariac spannte sich an und behielt das Schwert in der Hand. Die Frau mit den Haaren, die wie fließendes Wasser wirkten, stellte sich direkt vor ihn.
»Komm mit mir, dann bekommst du das, was du suchst.«
Er schluckte verkrampft und versuchte Rijana zu sehen, aber der Nebel war zu dicht.
»Willst du dein Schwert nicht, Dagnar?«, fragte die Frau mit sanfter Stimme, die wie Wassertropfen perlte.
»Wie nennst du mich?«, fragte er kaum hörbar.
»In deinem früheren Leben war dein Name Dagnar.« Bevor er es verhindern konnte, legte sich ihre Hand auf seinen Arm, und er wurde von Erinnerungen durchflutet. Noch einmal sah er die Schlacht am Teufelszahn in den Ebenen von Catharga. Er sah, wie Orks, Trolle und andere Wesen der Finsternis alles überfluteten. Er sah seine Freunde und auch Nariwa. Dann sah er sich selbst in anderer Gestalt, wie er sein Schwert in die dunklen Tiefen des Catharsees warf und anschließend getötet wurde.
Ariac war auf die Knie gesunken und hatte, ohne es zu merken, sein Schwert aus der Hand gelegt. Er bedeckte die Augen mit den Händen und schluchzte.
»Warum tust du das?«, fragte er. »Ich bin eine Sehlja, eine Seenymphe«, erwiderte das Wesen mit sanfter Stimme. »Ich habe das Schwert für dich bewahrt. Ich wusste, dass du eines Tages wiederkommen würdest.«
Ariac stand schwankend auf und blickte die Sehlja verwirrt an.
»Komm mit mir«, sagte sie und winkte ihm zu.
Zögernd und unsicher folgte Ariac ihr. Er blieb bei Rijana stehen, die auf ihrer Decke schlief, und kniete sich neben sie.
»Sie schläft, ihr geschieht nichts, die Nebelgeister werden sie beschützen«, versicherte die Seenymphe.
»Sie war Nariwa, ich konnte sie damals nicht retten«, murmelte Ariac verzweifelt und streichelte ihr über das Gesicht.
»Vielleicht wird es diesmal anders sein«, sagte die Sehlja, »aber du wirst dein Schwert brauchen.«
Ariac stand widerwillig auf, denn er ließ Rijana ungern allein. Dann folgte er der Seenymphe, die ins Wasser stieg und ihm winkte.
»Was soll das?«, fragte er ungehalten.
»Komm mit mir in mein Reich«, verlangte sie.
Ariac warf einen Blick zurück in den Nebel, wo Rijana lag.
»Du musst wieder lernen zu vertrauen«, sagte die Seenymphe sanft. »Du bist auf dem richtigen Weg. Höre auf dein Herz, dann weißt du, was richtig und was falsch ist.«
Ariac schluckte. Er hatte ein gutes Gefühl bei der Nymphe, aber er konnte einfach nicht über seinen Schatten springen. Die Sehlja kam wieder auf ihn zu.
»Hätte ich das Mädchen töten wollen, hätte ich es bereits getan. Komm mit, Sohn Thondras, du brauchst dein Schwert.« Sie blickte ihn durchdringend an. »Wie heißt du in diesem Leben?«
»Ariac«, antwortete er kaum hörbar.
Die Sehlja nickte und lächelte, wobei ihre bläulichen Lippen schneeweiße Zähne entblößten. »Du warst in vielen Leben ein Steppenkrieger, du bist stark.«
Die Seenymphe packte Ariac an der Hand und zog ihn mit sich ins Wasser.
Sie tauchte unter, und er schrie noch: »Warte, ich kann doch nicht …« Aber dann tauchten sie einfach hinab in die schwarze Tiefe des Catharsees.
Ariac glaubte zu ersticken, aber die Sehlja zog ihn mit sich hinab in das dunkle, kalte Reich des Sees. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte ihm zu. Er stieß die letzte Luft aus seinen Lungen, als er merkte, dass er gar nicht zu atmen brauchte. Seepflanzen wogten um ihn herum, die ein merkwürdiges, fahles Licht verströmten. Bunte Fische schwammen vorbei, und die Sehlja zog Ariac bis ganz auf den Grund des Sees. Er konnte es nicht fassen, aber dort unten, ganz in der Tiefe, war ein uraltes Schloss zu sehen. Unzählige symmetrisch geformte Türme wie aus weißem Marmor gefertigt standen dort, so als würde das Schloss noch immer auf seine Bewohner warten. Ariac staunte, aber die Nymphe zog ihn weiter mit sich, hinein in einen mächtigen Thronsaal. Auch hier drinnen wankten Wasserpflanzen in der leichten Strömung. Die Nymphe hielt auf eine kunstvoll verzierte Truhe zu. Sie bedeutete Ariac mit einigen Zeichen, näher zu kommen. Nun hatte er Boden unter den Füßen und lief schwebend und ein wenig schwerfällig auf die Truhe zu und öffnete sie. Dort lag ein Schwert, das silbern leuchtete und wie das von Rijana mit kunstvollen Runen verziert war. Als er es packte, zogen seine vielen früheren Leben wie im Zeitraffer an ihm vorbei. Dann wurde alles schwarz um ihn.
Ariac erwachte, als er wie von weitem Rijanas erschrockene Stimme hörte. Sie rüttelte ihn panisch an der Schulter und schrie unablässig. Er wollte sagen, dass sie aufhören sollte, aber dann schlug sie ihm hart auf den Rücken, und er spuckte einen Schwall Wasser aus. Anschließend musste er husten. Dann richtete er sich mühsam auf.
Rijana war erleichtert. »Ariac, was ist denn nur los?« Dann stockte sie und deutete mit verwirrtem Blick auf das Schwert, das er umklammert hielt.
Ariac versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er lag am Ufer des Sees, die Sonne ging gerade im Osten auf, und er war klatschnass.
»Unglaublich«, sagte er und fuhr sich durch die nassen Haare. »Wenn ich dieses Schwert nicht hätte, würde ich sagen, dass ich einen vollkommen verrückten Traum gehabt habe.« Er blickte Rijana an, die ihn verwirrt musterte. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
Sie nickte. »Ich habe ganz fest geschlafen, und als ich aufgewacht bin, da warst du weg. Dann fand ich dich am See und dachte schon, du wärst ertrunken.«
Ariac schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich auf den dunklen, stillen See hinaus. Anschließend erzählte er ihr von der Sehlja und was ihm passiert war. Zunächst wirkte Rijana skeptisch, aber dann berührte sie ehrfürchtig sein Schwert.
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte sie.
Ariac nickte, dann nahm er ihre Hand. »Mein Name war damals Dagnar, ich … ich konnte dich nicht retten, sie haben dich getötet.« In seinen Augen stand Panik.
Rijana nahm ihn in den Arm. »Dann weiß ich endlich, warum ich mich gleich zu dir hingezogen gefühlt habe. Du hast sicher alles getan, was du konntest.«
»Aber was ist, wenn es wieder passiert?«, fragte Ariac und blickte sie verzweifelt an.
»Dann ist es unser Schicksal«, erwiderte sie traurig, aber kurz darauf lächelte sie wieder. »Ich bin froh, dass wir uns wiedergefunden haben.«
Ariac nahm sie noch einmal fest in den Arm. Er nahm sich vor, sehr gut auf sie zu achten.
Anschließend schwang er das Schwert, das wirklich zu ihm zu gehören schien. Er warf sein altes Schwert in den See, damit es niemand finden konnte. Dann machten sie sich auf den Weg in die dunklen, kargen Berge von Ursann. Südlich des Teufelszahns kletterten sie einen kaum erkennbaren Pfad bergauf. Ariac sah im letzten Augenblick eine Wache und zog Rijana in einen Felsspalt. Sie hielten die Luft an und warteten. Der Mann mit dem roten Umhang lief vorbei, ohne die beiden zu entdecken.
Sie liefen weiterhin bergauf und bemühten sich, keine Geräusche zu machen. Jedes Mal zuckten sie zusammen, wenn sich irgendwo ein Stein löste. Über ihren Köpfen kreisten Aasgeier. Irgendwann wurde der Pfad undeutlicher, und Ariac richtete sich nach der Sonne. König Scurrs Schloss lag im Süden, sie mussten also einen Weg durch die Berge finden.
Mehr als einmal retteten ihnen die Umhänge der Elfen das Leben, denn in dieser kargen und unwirtlichen Gegend fand man nur wenig Schutz. Mit den Umhängen konnten sich Rijana und Ariac beinahe perfekt der Umgebung anpassen.Viele Tage stiegen sie bergauf und bergab, über karge Felsen und durch stachelige Büsche. Sie hatten zwar genügend Proviant, mussten ihn jedoch einteilen, denn es gab nur wenig Wild zu jagen, und auch das Wasser wurde langsam knapp.
An einem Tag trafen die beiden auf zwei umherstreifende Orks. Die Kreaturen hatten steinerne Keulen dabei und gingen sofort auf Rijana und Ariac los.
»Pass auf«, rief er, »sie sind dumm, aber kräftig. Du musst den geeigneten Moment abwarten.«
Rijana nickte, packte ihr Schwert fest und umtänzelte den Ork geschmeidig, während dieser versuchte, auf sie einzuschlagen. Immer wieder brachte sie ihn mit Finten aus dem Gleichgewicht, und als er schließlich grunzend über einen Stein stolperte, trieb sie ihm ihr Schwert in den Nacken. Keuchend richtete sie sich auf und blickte in Ariacs grinsendes Gesicht, der an einem Felsen lehnte, einen toten Ork zu seinen Füßen.
»Du kämpfst wirklich gut«, sagte er bewundernd.
Rijana strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.
»Hast du die ganze Zeit zugesehen?«, fragte sie empört.
Ariac nickte und duckte sich, als ein Stein geflogen kam.
»Du hättest mir helfen können«, schimpfte sie und zog die Augenbrauen wütend zusammen.
Ariacs Grinsen wurde noch breiter. »Es ist ein Genuss, dir zuzusehen.«
Rijana schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. Ariac kam zu ihr und nahm sie in den Arm.
»Wenn du wirklich in Gefahr gewesen wärst, hätte ich dir selbstverständlich geholfen, aber du hattest doch alles unter Kontrolle.«
Sie schüttelte den Kopf, grinste jedoch kurz darauf schon wieder.
»Das war mein erster Ork.«
»Kompliment«, sagte Ariac und verbeugte sich leicht. Er betrachtete sein Schwert, das in der Sonne glitzerte. »Es ist anders, mit diesem magischen Schwert zu kämpfen.«
»Da hast du Recht«, antwortete Rijana und steckte ihres wieder zurück in die einfache Lederscheide, die sie um ihren Gürtel trug. »Ohne dieses Schwert hätte ich mit einem Ork wohl mehr Schwierigkeiten gehabt.«
 
Es folgten einige heiße und drückend schwüle Tage, und das, obwohl die heißeste Zeit des Sommers eigentlich noch bevorstand. Ariac hatte beinahe vergessen, wie unangenehm es hier in Ursann war. Rijana keuchte heftig, wenn sie bergauf liefen. Sie hatte das Gefühl zu ersticken.
An einem dieser stickigen Tage erreichten sie einen Hügelkamm, und Ariacs Gesicht, das in den letzten Tagen immer ernster geworden war, je weiter sie nach Ursann eindrangen, verfinsterte sich noch mehr.
»Naravaack«, erklärte er, und Rijana blickte schaudernd auf die Überreste einer Burg in dem mit Geröll übersäten Tal. Die Ruine stand auf einer Anhöhe, auf der überall Soldaten und auch Orks umherliefen.Vor der Ruine waren jede Menge halb verwüsteter Gräber zu sehen. Rijana packte Ariac am Arm.
»Komm weiter, das ist vorbei.«
Er blieb noch kurz stehen und dachte an die vielen furchtbaren Jahre, die er dort verbracht hatte, dann folgte er Rijana.
Die folgenden Tage wurden immer gefährlicher. Ständig mussten sich die beiden vor Scurrs Blutroten Schatten verstecken, die in den Bergen umherzogen. Auch eine ungewöhnlich große Anzahl Orks war unterwegs, viele in Rüstungen und mit Schwertern.
»Verdammt, jetzt nimmt er sogar schon Orks in seinen Dienst«, schimpfte Ariac, als sie sich gerade hinter einem Felsen versteckt hatten und einen Trupp von etwa fünfzig stinkenden Kreaturen beobachteten, die nach Süden zogen.
»Hat er das früher nicht getan?«, fragte Rijana vorsichtig. In den letzten Tagen war Ariac noch schweigsamer und nachdenklicher geworden.
»Nein«, erwiderte er knapp. »Nur zum Training.«
Die beiden warteten, bis der Trupp vorbei war. Sie traten hinter dem Felsen hervor und wollten schon weitergehen, als plötzlich ein Nachzügler vor ihnen stand und grunzte.
Rijana und Ariac stellten sich nebeneinander und zogen ihre Waffen. Der Ork schwang sein hässliches, schartiges Schwert und stürmte auf die beiden los. Er schlug hart zu und kämpfte ungewöhnlich gut für einen Ork, aber für Rijana und Ariac mit ihren magischen Schwertern stellte er keine ernsthafte Bedrohung dar. Bald lag er in seinem eigenen Blut am Boden. Sie zerrten ihn hinter einen Dornenbusch und erstarrten, als plötzlich zwei Zwerge über ihnen standen. Einer hatte eine Axt, der andere einen kunstvoll geschmiedeten Kriegshammer, den er drohend erhoben hatte.
»Lasst eure Waffen stecken«, sagte der eine Zwerg, der grau-blonde Haare hatte und einen Helm trug.
Ariac schob sein Schwert seufzend zurück, behielt jedoch die Hand am Knauf.
»Was tut ihr hier?«, fragte der Zwerg.
»Das Gleiche könnten wir euch fragen«, erwiderte Ariac mit finsterem Gesichtsausdruck.
Der Zwerg schnaubte und redete in der Zwergensprache auf den zweiten Zwerg ein, der pechschwarze, lockige Haare hatte. »Warum habt ihr den Ork getötet?«, fragte der blonde Zwerg mit gerunzelter Stirn.
»Orks gehören nicht zu unseren besten Freunden«, gab Ariac sarkastisch zurück.
Rijana zog ihre Kapuze herunter. »Wir sind Feinde der Orks, und ich denke, das seid ihr auch.«
Die Zwerge blickten sich überrascht an. »Ein Mädchen? Ein Mädchen und ein Steppenkrieger mitten in Ursann. Was hat das zu bedeuten?«
»Zwerge gehören auch nicht gerade zu den gewöhnlichen Bewohnern Ursanns, oder?«, fragte Ariac schneidend.
Rijana stieß ihn in die Seite, dann überzog sich ihr Gesicht mit einem Lächeln. »Wir kennen einen eurer Verwandten, Bocan. Er hat gesagt, wenn wir in Schwierigkeiten sind, dann sollen wir seinen Namen nennen. Jeder Zwerg würde uns helfen.«
»Bocan?«, fragte der Schwarzhaarige ungläubig.
Ariac schnaubte. »Ich wusste gleich, dass man einem Zwerg nicht trauen kann, wahrscheinlich ist er gar nicht der Sohn des Zwergenkönigs.«
Beide Zwerge stießen einen empörten Schrei aus und kamen mit wütenden Gesichtern auf Ariac zu.
»Natürlich ist Bocan der Sohn des Zwergenkönigs!«, knurrte der eine und schwang drohend seinen Hammer.
Ariac zog sein Schwert, und sein Gesicht spannte sich an. Aber Rijana trat zwischen die beiden.
»Jetzt hört doch auf. Wie es aussieht, stehen wir auf der gleichen Seite.«
Der blonde Zwerg spuckte auf den Boden, senkte jedoch seine Waffe.
»Ich heiße Rijana, und das ist mein Gefährte Ariac«, lenkte Rijana ein.
»Breor«, knurrte der grau-blonde Zwerg, »mein Freund heißt Roock.«
Der Zwerg mit den schwarzen Haaren und dem schwarzen Bart deutete eine Verbeugung an und zwinkerte Rijana zu. Anscheinend war er der Umgänglichere.
»Was tut ihr hier?«, fragte sie freundlich und bot den beiden ein Stück geräucherten Schinken an, was ihre Gesichter noch etwas freundlicher machte.
»Wir haben ein paar dieser grässlichen Orks verfolgt, die einige unseres Volkes in den nördlichen Bergen getötet haben«, knurrte Breor, und Roock nickte wütend.
»Ihr kämpft gut, für Menschen zumindest. Wo wollt ihr hin?«, fragte Roock.
»Das geht euch nichts an«, knurrte Ariac düster.
»Zum Schloss von König Scurr«, antwortete Rijana, die glaubte, dass sie den Zwergen trauen konnte.
»Zu König Scurr?«, fragte Roock entsetzt und legte eine Hand zurück auf seine Axt.
Rijana nickte und sagte beruhigend: »Wir sind gegen ihn, wir haben nur eine Aufgabe zu erfüllen, aber darüber können wir nicht sprechen.«
Ariac war nicht sehr begeistert darüber, dass Rijana alles verriet, aber sie lächelte ihm beruhigend zu.
Breor fuhr sich durch den dichten Bart, der sein ganzes Gesicht bedeckte.
»Das schafft ihr niemals. Wir sind schon einige Zeit in diesen Bergen, und rund um das Schloss wimmelt es von Orks, Trollen und Soldaten.«
»Wir schaffen das schon«, sagte Ariac unbeirrt.
Die Zwerge blickten sich kurz an und nickten sich anschließend einstimmig zu.
»Also, wenn Bocan gesagt hat, dass ihr die Zwerge um Hilfe bitten dürft, dann werden wir euch helfen.«
»Wie wollt …«, begann Ariac misstrauisch, aber Rijana unterbrach ihn.
»Lass sie ausreden!«
»Vielen Dank, junge Lady«, sagte Roock und verbeugte sich leicht. »Also, durch die Berge kommt ihr nicht, da erwischen sie euch auf jeden Fall. Aber wir können euch unter der Erde hindurch bis kurz vor König Scurrs Schloss führen.«
»Unter der Erde?«, fragte Ariac überrascht.
Roock nickte. »Vor vielen tausend Jahren war Ursann Zwergenland. Viele der alten Stollen existieren noch, nicht einmal Scurr kennt sie.«
Rijana und Ariac blickten sich überrascht an, das hatten sie nicht gewusst.
»Es ist schon sehr lange her, viel länger, als wir beide leben«, sagte Roock freundlich.
»Aber passen wir da hindurch?«, fragte Rijana unsicher. »Ich meine, weil wir größer sind als ihr.«
Roock grinste und nickte anschließend. »Die meisten der Gänge sind hoch genug, dass du hindurchpasst.« Er blickte ein wenig zweifelnd auf Ariac. »Nun gut, dein Freund muss vielleicht ein wenig den Kopf einziehen.«
Ariac beobachtete die ganze Szene ein wenig skeptisch. Sein altes Misstrauen gegen alles und jeden flammte wieder auf, ganz besonders, da er hier in Ursann war.
»Ich weiß nicht, Rijana«, bemerkte er mit gerunzelter Stirn.
»Wir müssen kurz allein reden«, sagte sie zu den Zwergen, die sich grummelnd abwendeten.
Rijana zog Ariac ein wenig abseits. »Das ist eine gute Gelegenheit«, sagte sie. »Du hast selbst gesagt, dass es schwierig werden wird, bis zum Schloss zu kommen.«
»Ja, schon«, begann er und fuhr sich durch die Haare, die er hinten zusammengebunden hatte. »Aber wir sind hier in Ursann, da kann man niemandem trauen.«
Rijana packte ihn am Arm. »Aber die Zwerge haben doch nur Orks verfolgt.«
»Und wenn das nicht stimmt?«, fragte er misstrauisch.
»Meinst du, sie sind mit Scurr verbündet?«
Ariac zuckte die Achseln und machte ein verschlossenes Gesicht.
»Warum haben sie uns dann nicht gleich umgebracht?«, versuchte es Rijana.
»Was weiß ich«, erwiderte Ariac ungehalten. »Vielleicht lässt er uns suchen, vielleicht hatten sie Anweisungen.«
Rijana nahm sein Gesicht in ihre Hände und blickte ihm direkt in die Augen.
»Scurr kann nicht wissen, dass wir zu ihm wollen. Er würde uns niemals für so verrückt halten, und wir haben mit niemandem darüber geredet.«
Ariac wollte widersprechen, aber dann entspannte er sich ein wenig und nickte. »Du hast Recht.«
»Gehen wir mit den Zwergen?«, fragte Rijana weiter.
Ariac zögerte noch kurz, willigte dann aber ein, es war wohl wirklich das Beste. Dann meinte er eindringlich: »Aber du bleibst immer in meiner Nähe. Wir müssen wachsam sein.«
Rijana lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Natürlich.«
Dann ging sie auf die Zwerge zu und berichtete, dass sie beschlossen hatten, ihr Angebot anzunehmen. Ariac folgte etwas langsamer und wirkte nicht ganz glücklich mit dieser Entscheidung.
Die Zwerge führten ihre neuen menschlichen Gefährten ein gutes Stück in ein Tal hinab. Sie versteckten sich vor einem Trupp berittener Soldaten, dann hielten Roock und Breor auf eine Felswand zu. Mit einiger Anstrengung rollten sie einen dicken Felsblock fort, hinter dem sich ein dunkles Loch auftat.
»Na los, kommt«, drängte Breor, »bevor noch mehr dieser Rotmäntel auftauchen.«
Rijana warf einen unsicheren Blick auf Ariac. Plötzlich war ihr doch nicht ganz so wohl bei der Sache, unter der Erde zu reisen. Er hielt sie zurück und folgte den beiden Zwergen als Erster in die Finsternis. Schon nach wenigen Schritten sah man überhaupt nichts mehr. Ariac bekam Beklemmungen. Die Gänge waren so eng und niedrig, dass er kaum aufrecht stehen konnte. Er erinnerte sich an die Zeit, als Worran ihn immer in das dunkle Loch gesteckt hatte.
»Ariac, was ist?«, fragte Rijana von hinten.
Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ariac hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Kommt schon«, rief Roock von weiter vorn. »Hier wird es heller.«
Ariac riss sich zusammen und stolperte weiter voran, wobei er sich mit beiden Händen an den Wänden abstützte. »Wir wissen, dass ihr Menschen euch hier unten nicht wohlfühlt, aber einige dieser Gänge sind etwas breiter.«
»Das hoffe ich«, knurrte Ariac und stieß sich den Kopf an, als er sich ein wenig strecken wollte.
Es ging eine ganze Zeit lang geradeaus. Irgendwann hielten die Zwerge in einer kleinen Höhle an. Von den Wänden tropfte Wasser herunter.
Sie holten ihre Proviantbeutel hervor und begannen zu essen. Rijana und Ariac setzten sich dicht nebeneinander und aßen ebenfalls ein wenig Brot und Käse. Anschließend mussten sie erklären, wie sie Bocan kennen gelernt hatten.
»Ariac hat ihn besiegt«, erzählte Rijana stolz. Ihm schien das allerdings ein wenig peinlich zu sein.
Die Zwerge blieben mit offenem Mund sitzen. »Du? Du hast Bocan besiegt?«
Selbst im fahlen Lichtschein wirkten ihre Gesichter ehrfürchtig.
»Ja, aber was ist denn daran so ungewöhnlich?«, fragte er ungeduldig.
»Niemand hat Bocan bisher besiegen können. Weder Orks noch Trolle, noch irgendwelche verfluchten Rotröcke«, erzählte Breor.
Ariac wickelte sich in seine Decke und schloss die Augen. »Dann hatte ich wohl Glück.«
Die Zwerge unterhielten sich noch eine Weile leise miteinander, während sich Rijana an Ariacs Schulter lehnte. Sie wusste, dass er nicht wirklich schlief.
»Ich hoffe, wir sind hier bald raus«, flüsterte sie, »ich fühle mich unter der Erde nicht wohl.«
»Das geht mir auch so«, antwortete er seufzend und legte einen Arm um sie. Die beiden schliefen abwechselnd, obwohl Rijana nicht glaubte, dass die Zwerge ihnen etwas taten. Aber wenn sie nicht Wache hielt, würde Ariac es allein tun, und das wollte sie auch nicht.
Nach einer Zeit erhoben sich die Zwerge ächzend und drängten weiterzugehen. Ihr Weg führte bergab, bergauf, teilweise durch hohe, breite Gänge, dann wieder durch so niedrige, dass Ariac nur mit eingezogenem Kopf laufen konnte. Überall waren schwach leuchtende Steine zu sehen. Die Zwerge nannten sie »Lichtdiamanten« und erzählten, dass sie viele Jahrtausende lang Licht abgaben.
Dann, nach etwa sieben Tagen, stemmten die Zwerge einen Fels zur Seite und traten in der Dunkelheit einer mondlosen Nacht vorsichtig ins Freie. Die beiden Menschen atmeten erleichtert auf und sogen die frische, wenn auch etwas stickige Luft ein. Sie waren mehr als froh, den engen Gängen entkommen zu sein. Ariac blickte staunend nach oben. Sie standen direkt unterhalb des Felsens, auf dem König Scurrs Schloss thronte.
»So, mehr können wir nicht für euch tun«, sagte Roock ernst.
Rijana lächelte ihn in der Dunkelheit an. »Vielen Dank, das war sehr nett von euch.«
Die Zwerge verbeugten sich, und Roock sagte eindringlich: »Aber seid vorsichtig mit diesem König Scurr, was auch immer ihr vorhabt. Er ist ein Hexer und sehr gefährlich.«
»Ach was«, winkte Breor ab. »Wenn unser Steppenfreund hier Bocan besiegt hat, dann ist doch dieses hagere Gerippe kein Problem, oder?«
Rijana grinste, aber Roock schüttelte den Kopf.
»Nein, König Scurr ist unheimlich. Er ist von dem Geist des Hexers Kââr besessen.«
»Das weiß ich«, sagte Ariac ernst, und die Zwerge blickten ihn überrascht an. Er ging jedoch nicht weiter darauf ein und sagte: »Vielen Dank, ihr habt uns wirklich sehr geholfen.«
»Sollen wir auf euch warten?«, fragte Roock besorgt und zuckte zusammen, als ein Nachtvogel seinen unheimlichen Schrei ausstieß.
Ariac schüttelte den Kopf. »Nein, wenn wir erfolgreich waren, werden wir nach Osten über die Berge zurück nach Catharga reisen.«
Die Zwerge nickten ernst. »Wir wünschen euch viel Glück.«
Rijana lächelte den beiden beruhigend zu, obwohl ihr immer unbehaglicher zumute wurde. Jetzt waren sie direkt in König Scurrs Reichweite.
»Vielleicht solltet ihr ins Donnergebirge ziehen, dort sammeln sich die Zwerge«, schlug sie vor.
Roock nickte bedächtig und verschwand gemeinsam mit Breor in dem Felsengang. Rijana und Ariac standen nun allein in der finsteren Nacht.
»Und was jetzt?«, fragte Rijana schaudernd. Die Berge strahlten etwas Unheimliches aus.
Ariac blickte in den Nachthimmel. Es war noch Zeit bis zum Morgengrauen.
»Ich werde ins Schloss gehen.«
Rijana schluckte und packte ihn ängstlich am Arm. »Ich komme mit, bitte Ariac, ich will nicht allein hier draußen bleiben.«
Er hatte bereits zu einem Widerspruch angesetzt, besann sich dann aber eines Besseren, denn hier war es wirklich gefährlich. Orks, Soldaten und Trolle strichen umher.
»Gut«, gab er seufzend nach. »Wir müssen an der Mauer hinaufklettern und in eines der Zimmer eindringen, und zwar, solange es noch dunkel ist.«
Rijana blickte den hohen Felsen hinauf. Schon allein das Hinaufklettern würde schwierig werden. Aber sie nickte tapfer und folgte Ariac, der bereits begonnen hatte, den schroffen und scharfkantigen Fels zu erklimmen.
Es war mühsam, und beide schnitten sich die Hände auf. Irgendwann standen sie schließlich auf einem winzigen Felssims, etwa auf halber Höhe zu dem Fenster, in das sie einsteigen wollten. Oberhalb von ihnen hörten sie Schritte, sodass sie sich an den kalten Stein pressten. Es waren die Wachsoldaten, die oben auf den Zinnen patrouillierten. Ariac deutete nach oben und suchte immer wieder eine der kleinen Felsspalten. Rijana folgte ihm und vermied jeden Blick in die Tiefe. Nur ein einziger Fehltritt, und sie wären tot. Nach einer Weile war Ariac an einem sehr schmalen Fenster angekommen. Er spähte vorsichtig hinein, aber es war nur eine alte Rüstkammer. Dann zwängte er sich durch den Spalt und hielt Rijana die Hand hin, woraufhin sie erleichtert hineinsprang.
»Du blutest ja«, flüsterte er erschrocken und deutete auf ihre Hand.
Sie winkte ab und blickte sich in der Kammer um. Jede Menge uralter und teilweise unbrauchbarer Waffen und Rüstungen lagen hier herum.
»Ich weiß nicht genau, wo wir sind«, flüsterte Ariac. »Das Schwert ist in dem großen Thronsaal in einer Vitrine.«
Rijana hielt die Luft an, als Ariac die Tür einen Spaltbreit öffnete. Ein wenig Licht fiel herein, bevor sie durch den Spalt in einen menschenleeren Gang schlüpften. Ariac lief mit gezogenem Schwert voran, und Rijana folgte ihm. Immer wieder warf sie Blicke über die Schulter, aber um diese späte Nachtzeit war kaum jemand unterwegs.
Die Gänge waren zum größten Teil schmal und nur spärlich beleuchtet. Sie gelangten auf eine Galerie, und Ariac blickte vorsichtig hinunter, dann nickte er. Ihr Ziel lag zwei Stockwerke weiter unten. Vorsichtig schlichen sie hinab, anschließend liefen sie einen beinahe unbeleuchteten Gang entlang. Plötzlich hörten sie Stimmen, sodass sie sich schnell in eine der Nischen quetschten.
»Ich werde sie erledigen«, flüsterte Ariac kaum hörbar. »Wir brauchen unbedingt ihre Umhänge, dann fallen wir nicht so sehr auf.«
Rijana schluckte schwer, sie hatte Angst. »Pass auf«, flüsterte sie.
Ariac nickte, und als die beiden Soldaten, die wohl von der Nachtwache kamen, vorbeigegangen waren, sprang er sie von hinten an. Der Erste hatte sofort Ariacs Dolch im Hals stecken, aber auch der andere kam nicht mehr dazu zu schreien, denn Ariac schlug ihm fast gleichzeitig seinen Schwertknauf über den Schädel.
»Los, wir ziehen sie in die Nische«, flüsterte er.
Beide zogen sich mit einigem Widerwillen die blutroten Mäntel an und die Kapuzen weit ins Gesicht. Dann liefen sie weiter, achteten jedoch immer wieder auf Schritte und mussten sich einmal in einem verlassenen Zimmer verstecken, um eine größere Gruppe vorbeizulassen.
Der Morgen war nicht mehr fern, als sie endlich eine weitere schmale Wendeltreppe hinunterschlichen und Ariac die schwere Tür des Thronsaals öffnete. Es war stockdunkel, aber Ariac fand den Weg zu der Vitrine, in der das letzte der sieben Schwerter Thondras stand. Gerade wollte er die gläserne Tür öffnen, als er hörte, wie die Tür zum Thronsaal geöffnet wurde.
»Hinter den Thron, schnell«, rief er Rijana zu. Sie reagierte instinktiv und ließ sich hinter dem goldenen Thron auf den Boden sinken. Auch Ariac wollte sich verstecken, aber es war zu spät. Die große, unheimliche Gestalt von König Scurr stand im fahlen Licht.
»Was tust du hier?«, fragte er mit seiner durchdringenden Stimme.
Rijana kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an. Jetzt waren sie verloren.
Ariac blieb mit gesenktem Kopf stehen und legte eine Hand an den Schwertgriff. Vielleicht konnte er König Scurr erledigen. Dieser kam langsam und misstrauisch näher. Er entzündete mit einer Handbewegung sämtliche Fackeln, und bevor Ariac sein Schwert ziehen konnte, belegte Scurr ihn mit einem Bann, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Der König kam näher und zog Ariac die Kapuze vom Kopf. Für einen Augenblick zeichnete sich Überraschung auf dem Gesicht des Königs ab.
»Aha, der verlorene Sohn ist zurückgekehrt«, sagte er spöttisch.
»Ich bin nicht Euer Sohn«, zischte Ariac, konnte sich aber nicht bewegen.
Rijana, bleib, wo du bist, flehte er stumm.
»Warum bist du zurückgekehrt?«, fragte Scurr gelassen und schlich um Ariac herum wie ein Wolf um seine Beute.
Ariac spannte den Kiefer an und sagte keinen Ton.
»Man sagte mir, du seiest zu den anderen übergelaufen und dann, dann seiest du mit einem Mädchen geflüchtet.« Scurr packte Ariac plötzlich am Unterkiefer. »Wo ist sie?«
»Ich habe sie in der Steppe zurückgelassen«, stieß Ariac hervor.
Scurr schien ihn mit Blicken zu durchbohren und in sein Innerstes zu blicken, aber Ariac hielt ihm stand.
»Nun gut, du hast schon immer einen merkwürdigen Sinn für Ehre gehabt«, sagte Scurr und setzte sich in seinen Thronsessel.
Rijana hielt die Luft an. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Sie wollte Ariac helfen, aber sie sah gegen diesen unheimlichen König keine Chance.
»Ich werde schon noch herausbekommen, was du hier willst«, sagte König Scurr gelassen und ging nun wieder auf Ariac zu, fesselte ihn und nahm ihm sein Schwert ab. Er stellte es zu dem anderen in die Vitrine.
»Sehr schön, jetzt habe ich wieder zwei Schwerter«, sagte er sarkastisch. Anschließend stopfte er Ariac einen Knebel in den Mund und löste den Bann. Ariac zappelte, um freizukommen, aber Scurr versetzte ihm einen magischen Stoß, sodass er kraftlos zusammensackte. Dann schleppte der König ihn mit sich aus dem Zimmer.
Rijana lugte vorsichtig hinter dem Thron hervor, sie war verzweifelt. Was sollte sie jetzt tun? Sie rannte zur Tür und blickte hinaus. Gerade noch sah sie den Umhang des Königs hinter der nächsten Biegung verschwinden. Sie schlich, von Nische zu Nische huschend, hinterher. Der unheimliche Scurr eilte eine Treppe hinab in einen düsteren Gang. Rijana hatte Panik, die beiden aus dem Blick zu verlieren, aber sie traute sich auch nicht, zu nahe heranzugehen.
Endlos lief sie bergab. Schließlich hielt Scurr an einer uralten Holztür an, vor der eine Wache stand.
»Das ist unser alter Freund aus der Steppe. Wirf ihn in den Kerker«, befahl Scurr.
Der Wächter lachte gehässig und packte Ariac an den Haaren. »Es wird mir eine Freude sein.«
Scurr baute sich groß und unheimlich vor dem Wächter auf. »Lass ihn am Leben, ich muss ihn befragen, und Worran wird auch noch seinen Spaß mit ihm haben wollen.«
»Das kann ich mir denken«, lachte der Wächter.
Mit einem Mal drehte sich König Scurr um und wollte offensichtlich gehen. Rijana rannte panisch den Gang zurück. Im letzten Augenblick fand sie eine beschädigte Tür, durch die sie sich in einen alten Verschlag hineinquetschte. Dann hielt sie die Luft an. Sie hörte, wie sich Scurr näherte und plötzlich innehielt. Sie glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben, und war sich sicher, dass Scurrs unheimliche Augen genau zu ihr in den Spalt blickten. Schweißperlen rannen ihren Rücken herunter. Sie wagte nicht zu atmen. Dann entfernten sich die Schritte, und sie ließ den Kopf erleichtert auf die Knie sinken – das war gerade noch einmal gutgegangen.
Rijana dachte nach, was sollte sie jetzt tun? Es war nur ein Wächter, und vielleicht konnte sie ihn überwältigen. Aber auf der anderen Seite musste es bald Tag sein, da konnten sie kaum fliehen. Rijana fasste einen Entschluss. Zuerst wollte sie sich sicher sein, dass Scurr wirklich fort war. Sie zwängte sich durch den schmalen Spalt und schlich vorsichtig den Gang zurück. Ganz am Ende sah sie, wie König Scurr nicht zum Thronsaal, sondern eine Wendeltreppe hinauflief. Rijana zögerte und wollte in ihr Versteck zurückkehren, hörte dann aber plötzlich Geräusche. Zwei Soldaten näherten sich. Rijana quetschte sich hinter einen Torbogen und hielt die Luft an. Sie hatte Glück, die Männer bemerkten sie nicht. Rijana wartete einige Herzschläge lang ab, dann trat sie auf den Gang und lief so schnell sie sich traute den Weg zu dem Kerker zurück. In dem kleinen Verschlag versteckte sie sich und hoffte, dass der Tag bald vergehen würde. In der Nacht wollte sie Ariac befreien.
Rijana hatte keine Möglichkeit, die Zeit zu messen. Hier unten war es stockdunkel. Irgendwann hörte sie Schritte und Männer, die miteinander redeten. Sie vermutete, dass gerade ein Wachwechsel stattfand. Rijana hatte panische Angst. Was hatte der Wächter mit Ariac gemacht? Würde sie seine Zelle finden? Und konnte sie den Wächter allein wirklich überwältigen?
Scurr hat gesagt, er soll am Leben gelassen werden, dachte sie und versuchte, sich zu beruhigen.
Rijana wurde immer unruhiger. War es noch immer nicht Nacht? Erneut hörte sie Schritte. Sie drückte ihr Ohr an die morsche Tür.
»Ich soll dich ablösen«, erklang eine kräftige Stimme.
Der Wächter sagte etwas, was Rijana nicht verstand, dann sprach wieder der erste Mann.
»So eine verfluchte Scheiße, erst letzte Nacht Wache auf dem Turm und jetzt hier unten. Es sind doch sowieso kaum Gefangene da.«
Der Wächter sagte etwas von einem wichtigen Gefangenen und schlurfte schließlich an Rijanas Verschlag vorbei.
War es jetzt endlich Nacht? So wie es sich angehört hatte, war es wahrscheinlich. Sie wartete noch eine Weile und hörte den neuen Wächter vor sich hin murmeln. Schließlich hielt Rijana es nicht mehr länger aus. Sie zog ihr Schwert und hielt es griffbereit unter dem Umhang versteckt in der Hand. Sie quetschte sich durch den Spalt und spähte vorsichtig um die nächste Biegung. Der Wächter saß am Boden und trank aus einer Korbflasche, dann rülpste er laut. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Dann streckte sie sich und ging festen Schrittes um die Ecke.
Der Wächter erhob sich und fragte misstrauisch. »Hey, Kleiner, was willst du hier? Ich habe heute Nacht Wache.«
Rijana schluckte und lief ohne zu antworten weiter. Der Wächter fluchte leise.
»Hörst du mich nicht?«
Nun schob Rijana alle Bedenken zur Seite. Sie war nur noch wenige Schritte entfernt, rannte plötzlich los und rammte dem überraschten Wächter blitzschnell ihr Schwert in den Bauch. Der Wachposten starrte sie entsetzt an, stieß einen gurgelnden Laut aus und kippte nach vorn auf den Boden.
Rijana fühlte sich schlecht, denn sie hatte gelernt, niemanden ohne einen fairen Kampf zu töten. Aber dann besann sie sich. Es war nötig gewesen. Sie lehnte den Mann wieder an die Mauer, wischte das Blut mit seinem Umhang weg und verdeckte die Wunde. So sah es zumindest auf den ersten Blick so aus, als würde der Wächter schlafen. Sie nahm ihm den Schlüsselbund aus der Hand und öffnete mit aller Kraft die schwere Tür. Dann schlüpfte sie hinein. Es war dunkel. Fluchend ging sie noch einmal hinaus und holte sich eine Fackel. Ein grobbehauener Gang führte weiter in die Tiefe. Es stank hier ekelerregend. Hinter einigen vergitterten Zellen sah man noch die Überreste von Skeletten. Rijana hielt sich nicht auf und blickte immer wieder rechts und links in die Zellen. Wo war Ariac?
Weiter unten zweigte der Gang nach rechts und links ab. Rijana erfasste die Panik, sie musste sich beeilen. Schließlich entschied sie sich für den rechten Gang. Hier waren die Türen verschlossen. Hektisch steckte sie einen Schlüssel ins Schloss und öffnete. An der Wand, in eiserne Ketten gehängt, erblickte sie die Reste eines halb verwesten Mannes. Sie würgte und schloss die Tür rasch wieder. Weitere Türen kamen, die jedoch alle nicht verschlossen waren. Rijana spürte, wie sich Panik in ihr breitmachte. Wie sollte sie Ariac hier unten jemals finden? Schließlich lief sie in den anderen Gang, steckte wahllos einen Schlüssel ins Schloss und sah eine gefesselte Gestalt am Boden liegen.
»Ariac?«, fragte sie vorsichtig.
Sie hörte ein leises Stöhnen, und tatsächlich – es war Ariac. Erleichtert rannte sie zu ihm und schnitt die Fesseln durch. Im Licht der Fackeln sah sie, dass er grün und blau im Gesicht war und sein eines Auge kaum aufbekam. Aber er lächelte erleichtert, als er sich aufrichtete.
»Wo kommst du denn her?«, fragte er undeutlich.
»Kannst du laufen?«, fragte sie. »Wir müssen uns beeilen.«
Ariac nickte und schwankte zur Tür. Der Wächter hatte ihn zusammengeschlagen und getreten, aber es waren wohl nur Prellungen. Rijana betrachtete ihn ängstlich, aber er nahm sie beruhigend in den Arm.
»Komm, es ist nicht schlimm.«
Sie rannten den Gang hinauf, und Ariac öffnete die Tür. Als er den Wächter sah, zuckte er zurück.
»Er ist tot«, sagte Rijana einfach.
Ariac nickte, dann liefen sie den Gang hinauf.
»Du bist unglaublich«, sagte Ariac grinsend, was etwas verzerrt wirkte mit dem geschwollenen Gesicht und der aufgeplatzten Lippe.
»Kennst du den Weg nach draußen?«, fragte Rijana ängstlich.
Ariac nickte. »Wir schlagen im Thronsaal ein Fenster ein. Dann können wir auch die Schwerter mitnehmen und nach unten klettern. Es ist nicht ganz so weit wie der Weg, den wir gestern genommen haben.«
»Aber wenn wir wieder erwischt werden«, flüsterte Rijana ängstlich, und Ariac sah die Angst in ihren Augen.
Er drückte ihre Hand. »Deswegen sind wir hergekommen. Ich muss die Schwerter mitnehmen. Du wartest kurz, während ich einen Blick in den Saal werfe.«
Rijana nickte nervös. Sie schlichen zum Thronsaal, der leer war, und stellten von innen eine Truhe gegen die Tür. Dann holte Ariac rasch die Schwerter heraus, wickelte sie in ein Stück Vorhang, das er von der Wand riss, und band sie sich auf den Rücken. Anschließend schlug er ein Fenster ein. Bei dem Geräusch zuckten beide zusammen und hielten gespannt die Luft an, aber es geschah nichts. Dann befestigte Ariac den Vorhang an einer Säule und kletterte als Erster hinaus.
»Sei vorsichtig«, flüsterte er.
Rijana nickte und sah ihn in der Finsternis verschwinden. Heute war Neumond, was von Vorteil war, denn sie würden nicht gleich gesehen werden. Rijana kletterte nun ebenfalls hinaus und ließ sich an den Mauern des Schlosses hinab. Irgendwann war der Vorhang zu Ende.
»Hier ist ein kleiner Felsgrat«, flüsterte Ariac von unten. »Wir müssen jetzt klettern. Pass auf, wo du hinsteigst, und wickle dir Stoff um die Hände.«
»In Ordnung«, rief Rijana leise hinunter und tastete sich Schritt für Schritt voran.
Irgendwann hörte sie, wie Ariac auf den Boden sprang. Rijana wollte ihm gerade folgen, als sie plötzlich Kampflärm, einen unterdrückten Schrei und das Geräusch eines Körpers hörte, der auf den Boden fiel. Sie hielt die Luft an, aber dann hörte sie Ariacs Stimme.
»Alles in Ordnung, spring herunter.«
Sie atmete erleichtert aus und sprang auf den felsigen Boden.
»Ein Wächter«, erklärte Ariac und deutete auf den toten Mann. Anschließend deutete er in Richtung Osten, wo sich ganz zögernd das Morgenrot ankündigte.
»Wir müssen so weit wie möglich vom Schloss weg, solange es noch nicht hell ist.«
Rijana nickte nervös, und Ariac nahm sie an der Hand. Gemeinsam liefen sie auf den nächsten Berg zu. Ariac blickte sich immer wieder hektisch um, blieb stehen und lauschte. Als er die Tritte von schweren Stiefeln hörte, drückte er Rijana in eine Felsspalte und quetschte sich neben sie. Schemenhaft sahen sie eine Gruppe Orks, gefolgt von Soldaten, vorbeilaufen.
»Scurr hat mir den Bogen und meinen Dolch abgenommen«, flüsterte Ariac.
Rijana nickte und blickte ängstlich nach draußen, aber jetzt schien es still zu sein. Ariac nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss.
»Du warst sehr mutig.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich hatte Angst, dass er dich umbringt.«
»Das hätte er nicht«, erwiderte Ariac mit gerunzelter Stirn. »Zumindest so lange nicht, bis er das aus mir herausbekommen hätte, was er wissen wollte.«
Rijana fuhr ihm vorsichtig über die Schwellung an seiner Schläfe.
»Wir haben nicht mal Kräuter.«
Ariac nahm beruhigend ihre Hand. »Das ist nicht so schlimm. Hast du deinen Proviant noch?«
Rijana nickte und wollte ihn herausholen, aber er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht jetzt, wir müssen weiter.«
Vorsichtig spähte er aus der Felsspalte hervor und winkte Rijana ihm zu folgen. Den Rest der Nacht eilten sie bergauf, auf den nächsten Hügelkamm. Immer wieder hörten sie Geräusche von Soldaten oder Orks in der Nähe, aber sie waren meist weit entfernt. Doch dann, als die Sonne bereits aufgegangen war, erschallte ein dröhnendes Horn. Ariac zuckte zusammen, und Rijana blickte ihn ängstlich an.
»Jetzt wissen sie, dass ich geflohen bin«, sagte Ariac und rannte los, immer in Richtung Süden.
Die beiden machten kaum eine Rast, versuchten so gut wie möglich in Deckung zu gehen und hielten nur kurz an, um etwas zu trinken. Als Ariac auf einen hohen Felsen stieg und nach Westen blickte, sah er, dass die Täler und Hügel unter ihnen mit Orks und Soldaten überschwemmt waren.
Er packte Rijana an der Hand, die heftig atmend an einem Felsen lehnte.
»Los, weiter«, verlangte er.
Die beiden hasteten weiter, bis ihnen die Lungen brannten. Als es dunkel wurde, hielten sie ganz kurz an, holten Proviant hervor und aßen im Gehen. Auch in der Nacht marschierten sie weiter. Immer wieder hörte man Hörner und hin und wieder auch Rufe.
»Kannst du noch?«, keuchte Ariac besorgt.
Rijana nickte, obwohl sie das Gefühl hatte, dass ihre Beine gleich unter ihr zusammenbrechen würden. Aber sie hatte keine andere Wahl, als weiterzulaufen. Am Morgen hatten sie eine weitere Hügelkuppe erklommen und eilten durch ein felsiges Tal auf den nächsten Hügel zu. Ariac kannte sich hier aus. Die Berge, die die Grenze zu Catharga bildeten, waren höchstens noch vier Tage entfernt. Sie hatten also bereits einen guten Vorsprung. Die beiden hielten gerade auf einen Hügel zu, als plötzlich links von ihnen eine Gruppe Orks aus dem Gebüsch heraussprang.
»Los, lauf dort hinauf«, stieß Ariac hervor und deutete auf den Hügel. »Wir treffen uns dort, wo ein einzelner gezackter Felsen heraussticht. Ich lenke die Orks ab.«
Rijana zögerte.
Ariac nickte ihr eindringlich zu. »Na los, ich komme nach.«
Schließlich rannte sie in die Richtung, die Ariac ihr beschrieben hatte. Er selbst lief nach Norden. Die Orks grunzten und folgten ihm. Ariac schlug den ersten Ork kampfunfähig, entriss ihm seinen hässlichen, knarrenden Bogen und schoss auf die anderen. Diese hielten kurz inne, als einige ihrer Kumpane mit Pfeilen gespickt wurden. Dann stürmte Ariac einen Hügel hinauf und schlängelte sich im Zickzack durch die Felsen. Die Orks konnten ihm nicht folgen.
 
Rijana eilte den Berg hinauf und erblickte erleichtert den Felsen, den Ariac ihr beschrieben hatte, als sich plötzlich etwas von hinten auf sie warf. Rijana schrie, stieß dem Soldaten den Ellbogen in den Magen und stand blitzschnell wieder auf. Sie packte ihr Schwert fester und wandte sich den nächsten Angreifern zu. Die Männer waren gut ausgebildet und grausam im Kampf, aber Rijana war eine der Sieben. Geschickt und elegant schlug sie zu und hielt die Männer eine Weile in Schach. Beinahe glaubte sie schon, sich den Weg freikämpfen zu können, denn es lagen bereits fünf tote Männer am Boden, doch dann stürzten weitere zehn auf sie zu und konnten sie schließlich überwältigen.
»Ja, was haben wir denn da?«, fragte einer der Soldaten grinsend. Er riss ihr den roten Umhang herunter und deutete kopfschüttelnd auf den Elfenumhang. »Eine Kriegerin aus Camasann, die sich als eine von uns ausgibt.«
Rijana schlug um sich, um freizukommen, aber der Soldat schlug ihr brutal ins Gesicht.
»König Scurr wird sich freuen«, sagte er hämisch grinsend und stieß zweimal in sein Horn.
Ariac rannte zu dem aufragenden Felsen und hielt sich keuchend fest.
»Rijana!«, rief er leise. Aber er bekam keine Antwort. Er suchte die ganze Umgebung ab, aber sie war nirgends zu finden.
Sie müsste doch schon hier sein, dachte er verzweifelt.
Kurz darauf hörte er eine mächtige Stimme durch die Berge hallen – König Scurr.
»Ich habe dein Mädchen. Komm her und ergib dich, sonst bringe ich sie um.«
Ariac schloss verzweifelt die Augen. Scurr hatte Rijana, jetzt war alles aus.
Ariac dachte nach. Vielleicht konnte er zumindest ihr die Flucht ermöglichen. Er schnallte sein Schwert ab und versteckte es zusammen mit dem anderen in einer Felsspalte. Dann folgte er dem Klang der Hörner, die immer wieder aus einer bestimmten Richtung ertönten. Er stieg auf einen Hügel und sah in einem engen Tal König Scurr neben Rijana stehen, die an einen Felsen gebunden war.
In Ariac kochte Wut und Verzweiflung auf. Wie sollte er sie nur befreien?
»Komm schon, Ariac«, rief König Scurr, und seine Stimme hallte drohend laut von den Bergen wider. »Du bist doch einer von uns. Komm her, dann lass ich die Kleine frei.«
»Nein!«, rief Rijana. »Er lügt!«
Ariac sah, wie König Scurr den Kopf schüttelte und Rijana einen Dolch an die Kehle hielt.
»Man sagt nicht so etwas über den mächtigsten König aller Zeiten.«
Rijana spuckte ihm ins Gesicht, und Scurr verpasste ihr eine Ohrfeige. Ariac zog den Orkbogen auf und schickte einen Pfeil in den Talkessel. Mit Genugtuung sah er, wie König Scurr zusammenzuckte, als der Pfeil seinen linken Arm streifte.
»Ich komme«, rief Ariac.
Er kam mit hocherhobenen Händen den Berg herunter. Außer König Scurr sah er nur zwei Soldaten, aber er wusste, dass weitere in den Bergen versteckt waren.
Als er näher kam, sah er, wie Rijana den Kopf schüttelte und ihr Tränen übers Gesicht liefen.
»Nicht, Ariac, jetzt bringt er uns beide um.«
König Scurr achtete nicht weiter auf sie, drehte nur ihr Schwert in seiner Hand herum.
»Du hast mir etwas gestohlen«, sagte Scurr zu Ariac, der sich vor ihm aufbaute und nur mit größter Anstrengung Scurrs Blick standhielt. »Was willst du mit den Schwertern?«
Als Ariac nicht antwortete, hielt Scurr Rijana ihr eigenes Schwert an die Kehle.»Wolltest du dich mit den anderen verbünden?«, fragte Scurr gelassen.
Ariac schluckte und blickte verzweifelt auf Rijana.
»Sie werden dich niemals akzeptieren«, sagte Scurr weiter. »Sie halten dich für einen Verräter und würden dir niemals vertrauen.«
»Ariac ist kein Verräter«, rief Rijana mutig.
Scurr hob die Augenbrauen und kam nun auf Ariac zu.
»So, bist du das nicht?« Der König sah Ariac direkt in die Augen, sodass Ariac ganz seltsam zumute wurde. Schon bald kamen ihm Gedanken in den Sinn, die er lange verdrängt hatte: Dieser König war gut, er sagte das Richtige, es war alles ganz anders.
»Willst du nicht dem mächtigsten aller Könige dienen?«, fragte Scurr mit seiner charismatischen Stimme und beugte sich zu Ariac. »Du kannst mein Hauptmann und mein engster Berater werden.«
Ariac hätte sich am liebsten nur noch in diese wohltuende Stimme fallen lassen. Alles, was Scurr sagte, klang so plausibel. Aber dann blickte Ariac auf Rijana, und ihm gelang es, sich dieser Stimme zu entreißen. Er sprang zurück. Plötzlich wusste er wieder, was das Richtige war.
»Nein, ich gehöre nicht hierher, ich habe es niemals getan«, sagte er hasserfüllt.
Scurr wirkte einen Augenblick lang ein wenig verwundert, weil seine Beschwörung nicht mehr zu wirken schien. Dann zuckte er jedoch die Achseln. »Nun gut, dann wirst du eben mit deiner kleinen Freundin gemeinsam sterben.« Scurrs Augen bohrten sich in die von Ariac. »Es ist gleichgültig, ob du mir dienst oder nicht. Es ist nur wichtig, dass ihr nicht vereint seid. Irgendwann werde ich euch alle haben, ob nun im nächsten oder im übernächsten Leben. Dann werdet ihr alle mir dienen.«
Rijana und Ariac machte diese Vorstellung Angst. Scurr sprach jetzt mit einer ganz anderen Stimme. Er wirkte noch furchteinflößender und größer, sodass man beinahe meinen konnte, er sei von undurchdringlicher Finsternis umgeben – oder vielmehr er selbst sei die Finsternis. Es sah so aus, als hätte der Geist von Kââr, dem uralten Zauberer, von ihm Besitz ergriffen.
König Scurr nickte seinen Soldaten zu, die sich langsam entfernten, dann lief er selbst den Abhang hinauf, was Ariac wunderte. Scurr hatte ihn nicht einmal fesseln lassen. Ariac eilte zu Rijana und versuche, ihre Fesseln aufzuknoten.
Scurr stand nun groß und geisterhaft auf dem Hügel zum Tal und rief: »Ich möchte noch eine gute Vorstellung von dir sehen, bevor du stirbst.«
Damit warf er Ariac Rijanas Schwert zu, und fast gleichzeitig strömten Orks die Hänge hinab auf sie zu. Ariac nahm das Schwert und durchtrennte Rijanas Fesseln. Er schob sie hinter sich und drehte sich im Kreis. Von fast überall her kamen Orks auf sie zu, nur ein sehr schmaler Pfad war frei.
»Dort hinauf«, rief Ariac und deutete nach links. Rijana lief los und Ariac hinter ihr her. Aber schnell änderten die ersten Orks ihre Richtung und kamen auf die beiden zu. Ariac kämpfte wie besessen, und Rijana begann Steine auf die Orks zu werfen. Dann griff sie sich einen dicken Ast und schlug damit wild um sich. Ariac versuchte so gut wie möglich, die Orks von Rijana fernzuhalten. Das gelang ihm allerdings kaum, doch selbst mit nur einem dicken Ast in der Hand schlug sie sich sehr gut und streckte die Feinde reihenweise nieder.
»Na los, du musst hochklettern!«, schrie er.
Rijana zögerte kurz, rannte dann jedoch los, und Ariac folgte ihr. Es kamen immer mehr grunzende und schreiende Orks in den Talkessel. König Scurr lachte höhnisch und geisterhaft.
Rijana und Ariac wollten gerade den steilen Abhang hochklettern, als Rijana abrupt stehen blieb. Ariac folgte ihrem Blick, und was er dort oben sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Feuerechsen – mehr als ein Dutzend, und sie kamen direkt auf sie zu. Erschrocken hielt Ariac Rijana am Arm fest.
»Lass sie nicht in deine Nähe.«
Er deutete in eine Richtung, in der er die wenigsten Orks vermutete, und die beiden eilten dorthin. Ariac schlug weitere Orks nieder, Rijana drosch einem großen Ork mit ihrem Knüppel über den Kopf. Das Wesen stand allerdings immer wieder auf, und Rijana kämpfte verbissen. Mit dem Mut der Verzweiflung gelang es ihr schließlich, dem Ork ihren Knüppel ins Auge zu rammen, sodass er endlich von ihr abließ.
Sie rannte den Berg hinauf. Eine Feuerechse war hinter ihr her, und Ariac gelang es im letzten Moment, dieser den Kopf abzuschlagen.
»Los, hoch!«, schrie er, und Rijana lief und krabbelte den felsigen Abhang hinauf. Ariac drehte sich um, um gegen einen weiteren Ork zu kämpfen. Rijana hielt inne, aber Ariac schrie ihr zu: »Los, hinauf, dreh dich nicht um!«
Sie hastete weiter, während Ariac dem Ork den Kopf von den Schultern trennte. Eine kleine Feuerechse kam zischend auf ihn zu. Geschlitzte Augen fixierten ihn, bevor die Echse den Schwanz drehte, um zuzuschlagen. Ariac sprang im letzten Moment zur Seite und teilte die Echse in zwei Hälften. Zufrieden sah er, wie die Orks von den Feuerechsen aufgehalten wurden, die alles auslöschten, was ihnen in die Quere kam, ob Mensch oder Ork. Ariac stürmte Rijana hinterher, die schon beinahe oben angekommen war. Etwas hielt Ariac jedoch plötzlich am Fuß fest. Er trat nach hinten und traf einen Ork am Kopf. Dieser grunzte nur und stürzte sich erneut auf ihn. Ariac kämpfte kurze Zeit mit dem Ork, der schließlich in die Tiefe polterte. Aber auf einmal sah er eine kleine Feuerechse links von sich, die zum Schlag ansetzte. Ariac warf sich nach rechts und sah, dass Rijana von oben einen Stein warf, der die Echse traf. So streifte diese ihn nur am Stiefel. Ariac rappelte sich auf, aber da traf ihn auch schon der Schwanz einer ausgewachsenen Echse, und er spürte einen sengenden Schmerz im Oberschenkel. Instinktiv hieb er mit seinem Schwert nach der Kreatur und stolperte weiter den Berg hinauf. Oben stand Rijana und rollte immer wieder Felsbrocken nach unten. Im Talkessel herrschte heilloses Chaos. Orks kämpften gegen Feuerechsen, und Soldaten versuchten, sich ihren Weg durch das Getümmel zu bahnen, um Rijana und Ariac hinterherzueilen. Rijana streckte Ariac erleichtert die Hand entgegen, sodass er heftig atmend den Rand des Talkessels erreichte.
»Schnell«, keuchte er und ignorierte den feurigen Schmerz in seinem Oberschenkel.
Sie rannten auf dem Felsgrat entlang, zu der Stelle, wo der aufragende Felsen zu sehen war. Ariac holte die Schwerter hervor und zog sich mit zusammengebissenen Zähnen den Stachel aus dem Oberschenkel. Der zweite, der von der kleinen Echse, hatte seinen Stiefel nicht durchdrungen. Er schloss kurz die Augen und lehnte sich an den Fels.
»Hat dich die Echse erwischt?«, fragte Rijana erschrocken. Sie hatte solche Wesen noch niemals gesehen.
Ariac nickte und lächelte aufmunternd. »Ja, aber das macht nichts.«
Es ist nur ein Stachel, redete er sich selbst ein, vielleicht kann ich zumindest Rijana noch aus den Bergen herausbringen.
»Schnell, nach Süden«, sagte er und deutete nach links. Unterwegs riss Ariac immer wieder Blätter des Curuz-Busches ab und steckte sie in seine Tasche. Als sie kurz anhielten, brach er einige Dornen ab und presste den Saft auf seine Zunge. Das Zeug schmeckte ekelhaft, aber es war seine einzige Chance, zumindest noch einige Tage zu überleben.
Immer wieder hörten die beiden Schreie, Hörner, und einmal rannte sogar eine Gruppe von Orks direkt oberhalb von ihnen vorbei. Magische Donnerschläge erfüllten die Berge. Wahrscheinlich ließ König Scurr nun seine Wut darüber aus, dass ihm Thondras Kinder entkommen waren.
Ariac ließ sich schwer atmend hinter einen Felsen sinken.
»Sie wissen, dass wir nach Süden wollen. Wir müssen nördlich des Passes durch eine Schlucht«, sagte er.
Rijana war erschöpft. Sie gab Ariac etwas von dem Wasser aus ihrem Trinkschlauch. Er nahm ein paar Blätter, schnitt seine Hose auf und legte sie auf die Einstichstelle. Dann legte er einen Verband an.
»Ariac, was ist? Ist es doch gefährlich? Du hast gesagt, ich soll auf die Echsen aufpassen.«
Er schüttelte den Kopf, obwohl sein Bein wie Feuer brannte und ihm schwindlig war. »Nur ein Biss wäre gefährlich«, log er.
Rijana streichelte ihm über das verschwitzte Gesicht. »Sicher?«
Ariac nickte und erhob sich wieder. Als Rijana nicht hinsah, drückte er noch einen Dorn aus und presste eine Hand vor den Mund, um nicht alles gleich wieder auszuspucken.
Bis es Abend wurde, hasteten sie weiter, dann waren beide so erschöpft, dass sie sich in einer Felsspalte niederlassen mussten. Ariac keuchte heftig. Sein Kopf dröhnte, und ihm war schwindlig. Rijana presste die letzten Reste aus dem Wasserschlauch »Dort unten war ein Rinnsaal«, sagte sie. »Ich hole noch etwas.«
Ariac war zu kraftlos, um zu widersprechen. Er holte einen Dorn heraus, schluckte den bitteren Saft und kaute noch einige Blätter. Er spürte, wie Fieber durch seinen Körper tobte. Er rollte sich zusammen und presste die Hände auf die Augen.
Als Rijana zurückkam, zeigten die Dornen und Blätter ihre Wirkung. Das Fieber ließ etwas nach, und sein Kopf dröhnte nicht mehr ganz so stark.
Dankbar nahm er den Wasserschlauch an.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Rijana, als sie ihn betrachtete. »Du siehst furchtbar aus.«
Ariac trank und hustete. Dann sagte er mit einem angedeuteten Lächeln: »Du hast auch schon besser ausgesehen.«
Rijana seufzte und band sich die wirren Haare zusammen. »Du solltest dich bei dem Rinnsal waschen, das Wasser ist schön kühl«, schlug sie vor.
Mit einiger Anstrengung erhob sich Ariac und unterdrückte ein Stöhnen. »Du hast Recht, ich werde draußen Wache halten. Schlaf ein wenig.«
Rijana wickelte sich in ihren Umhang. Ariac stolperte nach draußen und hielt sein Gesicht unter das angenehm kühle Wasser. Die Nacht wirkte so ruhig. Er setzte sich auf den Boden und machte einen neuen Verband. Die Einstichstelle war ein wenig geschwollen. Dann begann er wieder zu zittern, und heftige Kopfschmerzen plagten ihn. Ariac hatte nicht mehr genügend Blätter, er musste neue sammeln. Irgendwann schleppte er sich zu Rijana.
»Kannst du jetzt Wache halten?«
Sie nickte schläfrig und stolperte nach draußen. Ariac rollte sich zusammen und schaffte es mit letzter Kraft, ein paar Blätter in den Mund zu nehmen. Als es langsam hell wurde, waren die Fieberkrämpfe vorüber. Er erhob sich schwankend und drückte seinen letzten Dorn aus. Wenig später kam Rijana zurück. Er brauchte dringend neue Dornen.
»Sollen wir weiter?«, fragte sie und betrachtete ihn besorgt.
Ariac nickte und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie liefen wieder den ganzen Tag durch die kargen Berge. Im Laufe des Tages bekam Ariac solche Kopfschmerzen, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Dann fand er endlich einen Curuz-Busch, von dem er schnell einige Blätter abriss und mit dem Schwert Dornen herunterschnitt. Er nahm gleich den Saft von drei Dornen zu sich, sodass er sich nach einiger Zeit etwas besser fühlte.
In der Dämmerung hielten sie auf einem kleinen Hügel an. Rijana verteilte das wenige Brot, das sie noch übrig hatte. Aber Ariac konnte nichts essen, sein Magen verkrampfte sich in unregelmäßigen Abständen.
»Du musst etwas essen!«, meinte Rijana besorgt. Sie merkte schon die ganze Zeit, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
»Später«, presste Ariac hervor. »Im Moment bin ich zu müde.«
Sie setzte sich neben ihn und streichelte ihm über das schmutzige Gesicht.
»Was hast du? Dir geht’s doch nicht gut.«
»Nichts«, sagte er beruhigend. »Kannst du heute zuerst Wache halten?«
Sie nickte besorgt und stellte sich zögernd an den Rand des Abhangs. Ariac hatte sie noch nie gebeten, als Erste Wache zu halten, irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Als Rijana fort war, holte Ariac einige Dornen hervor und presste sie aus, dann legte er sich zusammengekrümmt auf den Boden. Nach einer kleinen Ewigkeit schlief er schließlich ein.
Mitten in der Nacht kam Rijana zurück und kniete sich neben Ariac, der fest schlief. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn, aber Fieber hatte er nicht. Dann löste sie vorsichtig den Verband von seinem Bein, konnte in der Dunkelheit aber nicht viel sehen. Ariac wachte nicht einmal auf, als sie ihm ihren Umhang überlegte. In dieser Nacht hielt Rijana allein Wache.
Am Morgen fühlte er sich ein wenig besser.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«, fragte er anklagend, als Rijana zurückkam. Sie sah müde aus.
»Weil es dir gestern nicht gut ging. Ist es jetzt besser?«, fragte sie und umarmte ihn.
Ariac versicherte ihr dies und stand auf. Im Laufe der nächsten Tage merkte er, dass er nur dann durchhielt, wenn er in regelmäßigen Abständen mindestens drei Dornen auspresste und zwischendurch die Blätter kaute. Aber er brauchte immer mehr davon, und trotzdem wurden die Schmerzen immer schlimmer. Er schaffte es jedoch, seinen Zustand einigermaßen vor Rijana geheim zu halten. Sie war selbst so erschöpft, dass sie gar nicht merkte, dass Ariac häufig kaum die Augen richtig öffnen konnte oder in der Nacht zusammengekrümmt und mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden lag.
Am vierten Tag nach dem Angriff der Orks erreichten sie endlich den Rand einer tiefen Schlucht, durch die ein Fluss rauschte. Schon einige Zeit hatten sie keine Verfolger mehr gesehen, blieben aber vorsichtig und bemühten sich, keine Spuren zu hinterlassen.
»Wir müssen dort hinunter«, sagte Ariac und hielt sich an einem Felsen fest, um nicht umzukippen.
Rijana seufzte müde und begann, den Berg hinunterzuklettern. Ariac sah alles nur noch verschwommen, und als er beinahe unten angekommen war, stolperte er plötzlich und polterte den Abhang hinunter. Stöhnend blieb er unten liegen und umklammerte seinen Kopf. Er konnte nicht mehr. Rijana kniete sich erschrocken neben ihn und nahm ihn in den Arm.
»Hast du dir den Kopf angestoßen?«
Ariac nickte und presste die Augen fest zusammen. Rijana ließ ihn vorsichtig auf den Boden sinken, schnitt ein Stück Stoff aus dem Umhang, tauchte es in das kalte Wasser des Gebirgsflusses und legte es Ariac auf die Stirn.
»Bist du gestolpert?«, fragte Rijana besorgt und betrachtete ihn genau.
Ariac hustete, dann stand er auf. »Ist schon wieder gut. Komm, wir müssen durch das Tal.«
Er schlug ein rasches Tempo an, denn er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und bis Catharga wollte er Rijana auf jeden Fall begleiten. Zum Glück fand er unterwegs noch einen Curuz-Busch mit dicken Dornen, die er auspressen konnte. Ein Fluss strömte durch das felsige Tal, und nach drei weiteren Tagen ermüdenden Laufens sahen sie, wie er sich an einer schmalen Stelle durch die Berge wand.
Ariac stand der Schweiß auf der Stirn. Er hatte schon wieder Fieber bekommen und versuchte, nicht allzu sehr zu zittern. Rijana lehnte erschöpft und mit halb geschlossenen Augen an der Felswand.
»Hinter der Öffnung im Fels beginnt Catharga«, sagte Ariac.
Gewaltsam öffnete Rijana die Augen. Sie blickte auf den Fluss, der sich seinen Weg durch den Felsen vor ihnen bahnte, dann die steile Felswand hinauf.
»Müssen wir hinaufklettern?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Ariac und stolperte langsam und qualvoll weiter. Er kaute einige Blätter. Nach einer Weile sahen sie, dass ein sehr schmaler Grat am Rande des Flusses entlangführte.
»Sollen wir es versuchen?«, fragte Rijana.
Ariac nickte. Er wusste, dass er keinen Aufstieg in die Berge mehr überstehen würde.
»Ich gehe voran«, sagte er. »Wenn ich drüben bin, rufe ich.«
Rijana nickte und umarmte ihn. »Sei vorsichtig.«
So tastete er sich vorsichtig voran, immer am glitschigen Rand des Felsens entlang. Gischt spritzte empor.
»Ariac, was ist los?«, rief Rijana irgendwann ängstlich gegen das Toben des Wassers an. Sie sah ihn nicht mehr, und er war schon seit einer Weile hinter einer Biegung verschwunden.
Mühsam hangelte Ariac sich an dem Felsgrat entlang und musste irgendwann kurz Pause machen. Bitte, Thondra, lass mich Rijana noch bis nach Catharga bringen, flehte er stumm.
Irgendwann schleppte er sich weiter, und als er über einen letzten Spalt gesprungen war, fand er sich auf einer grünen Ebene an der Grenze zu Catharga wieder. Ariac ließ sich auf den Boden sinken.
»Du kannst kommen, Rijana«, rief er nach einer Weile. Dann legte er sich erschöpft auf den Boden und kaute halbherzig auf ein paar Blättern herum.
Als Rijana erschien, setzte Ariac sich wieder hin.
»Komm, wir müssen weiter.«
»Sollen wir uns nicht kurz ausruhen?«, fragte sie müde. »Wir sind doch jetzt in Catharga.«
Ariac schüttelte den Kopf. »Noch zu nah an Ursann.«
Rijana seufzte und lief neben Ariac her. Sie erzählte, dass sie hoffentlich bald die Brücke erreichen würden, die sie nach Balmacann brachte.
»Ich habe kein Gold mehr«, sagte sie besorgt. »Scurr hat es mir abgenommen. Aber ich denke, dass sie uns auch so über die Brücke lassen werden. Schließlich sind wir zwei der Sieben.« Plötzlich wirkte Rijana wieder wesentlich fröhlicher und optimistischer. Sie nahm Ariacs Hand. »Wir haben das letzte Schwert der Sieben. Jetzt wird alles gut.«
Ariac nickte müde. Er hörte ihr gar nicht richtig zu, sein Kopf dröhnte schon wieder, und sein Bein tat weh. Bei jedem Schritt brannte es wie Feuer.
Rijana plapperte munter weiter. Sie sprach von ihren Freunden und davon, was sie als Nächstes tun wollten. Als sie am Abend auf einer kleinen Waldlichtung Rast machten, sagte Rijana, die Ariacs angespannte Miene falsch verstand: »Keine Angst, die anderen werden dich jetzt akzeptieren. Ihr werdet noch gute Freunde werden.«
Ariac nickte. Sein Kopf drohte zu zerspringen, und ihm war furchtbar übel. Er brauchte dringend neuen Dornensaft. Rijana nahm ihn in den Arm, und er schloss kurz gequält die Augen. Ihm tat alles weh.
»Ich halte Wache, ich kann jetzt sowieso nicht schlafen. Außerdem habe ich dort hinten Beeren gesehen.«
Zum Zeichen seines Einverständnisses hob Ariac eine Hand. Selbst das Sprechen war zu anstrengend. Als Rijana davongelaufen war, presste er einige Dornen aus, viele waren nicht mehr übrig, dann legte er sich zusammengekrümmt auf den Boden. Er hatte heftige Fieberschübe und Schüttelfrost und hoffte verzweifelt, dass es abklingen würde, bis Rijana zurückkehrte. Aber irgendwann konnte er sich nicht einmal mehr darüber Gedanken machen. Das Gift tobte immer heftiger durch seinen Körper, bald wäre wohl alles vorbei.
Er war noch nicht lange eingeschlafen, als Rijana zurückkehrte und ihn weckte. Sie hielt ihm eine Hand voll Beeren hin. »Die schmecken gut.«
Ariac erhob sich schwankend. Dann stolperte er zu einem Baum und lehnte sich dagegen. Von den Beeren bekam er kaum etwas herunter. Er zitterte noch immer am ganzen Körper und konnte nicht stehen. Erst, als er zwei weitere Dornen ausgepresst hatte, ging es etwas besser.
Am nächsten Tag brachten die beiden ein gutes Stück Weg hinter sich. Als sie am Abend über einen Hügel liefen, sahen sie in der Ferne Häuser.
»Dort vorn ist die Brücke, wir haben es geschafft!«, rief Rijana glücklich.
Ariac hielt sich schwankend an einem Baum fest. Als Rijana ihn freudig umarmte, fiel er beinahe um.
»Das ist schön«, sagte er lächelnd und ließ sich auf den Boden sinken.
Rijana setzte sich neben ihn und betrachtete ihn kritisch.
»Sollen wir erst morgen über die Brücke gehen?«
Ariac nickte und schloss die Augen. Er hatte sein Ziel erreicht, sie hatten es geschafft. Weiter würde er nicht mitgehen, er konnte einfach nicht mehr.
Rijana verteilte das letzte Stück vom harten Brot und etwas Käse.
»Und morgen gibt es wieder etwas Richtiges zu essen«, sagte sie bestimmt.
Ariac kaute müde auf dem harten Brot herum.
»Ariac, jetzt wird alles gut«, sagte Rijana und nahm seine Hand in ihre.
Er blickte sie traurig an und nickte. In der Nacht fasste er einen Entschluss. Er wollte nicht, dass Rijana sah, wie er qualvoll zugrunde ging.
Als Rijana am nächsten Morgen fröhlich aufstand, winkte er sie zu sich und sah ihr eindringlich in die Augen.
»Ich möchte, dass du allein über die Brücke gehst.«
Rijana zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Warum?«
Ariac seufzte. »Sie werden mir zunächst nicht glauben. Nimm das Schwert«, er deutete auf das Bündel neben sich, »bring es deinen Freunden, und wenn du sie überzeugt hast, dann kommt ihr zurück. Ich warte hier.«
Rijana schüttelte stur den Kopf. »Nein, sie werden mir glauben. Wir gehen zusammen.«
Ariac drückte ihre Hand. »Willst du, dass sie mich verhaften?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie erschrocken.
»Siehst du«, sagte Ariac ernst. »Sie würden nicht lange fragen und mich sofort in den Kerker werfen. Ich bin in ihren Augen ein Mörder.«
Eine Weile kämpfte Rijana mit sich. Sie wollte Ariac mitnehmen, aber er hatte Recht. Sie umarmte ihn und gab schließlich nach.
»Also gut«, sagte sie traurig.
Erleichtert schloss Ariac die Augen und umarmte sie fest. Jetzt würde er sie wohl zum letzten Mal sehen. Er ließ sie nicht los, bis er den Kloß in seinem Hals heruntergeschluckt und die Tränen weggeblinzelt hatte.
Er wischte Rijana eine Träne von der Wange. »Du wirst es schaffen, da bin ich mir sicher«, sagte er.
»Kommst du noch mit bis zum nächsten Hügel?«, fragte Rijana und erhob sich.
Ariac nickte. Das Aufstehen kostete ihn unglaublich viel Kraft, und als er ihr folgte, brauchte er all seine Beherrschung, um nicht zu schwanken. Rijana nahm seine Hand. Als sie im Morgenlicht auf dem Hügel standen, umarmte sie ihn noch einmal. Ariac presste die Augen fest zusammen und sagte heiser: »Ich liebe dich. Wir werden uns wiedersehen.«
»Natürlich«, antwortete sie mit gerunzelter Stirn und blickte zu ihm auf. »Ich beeile mich und bin bald zurück.«
Ariac schluckte und gab ihr einen letzten Kuss. Dann winkte er ihr noch einmal mit letzter Kraft zu, als sie sich umdrehte, bevor sie auf die fernen Häuser zulief.
»Rijana, ich wünsche dir alles Glück. Im nächsten Leben sehen wir uns wieder«, flüsterte er ihr hinterher, dann stolperte er ein Stück den Hügel hinunter und brach kurz dahinter zusammen. Er holte den Stein hervor, den Rijana ihm vor langer Zeit gegeben hatte, und umklammerte ihn. Jetzt konnte er nur noch auf sein Ende warten.
 
Rijana eilte den Weg hinunter. Das Schwert hatte sie sich auf den Rücken gebunden. Tränen strömten ihre Wangen hinab. Sie ließ Ariac nicht gerne allein zurück. Außerdem war er heute schon wieder so komisch gewesen. Aber sie wusste, dass er sich häufig zu viele Gedanken machte.
Immer weiter näherte sie sich der Ansammlung von kleinen und größeren Häusern. Das war die Stadt, die vor der Brücke lag. Aber ihre Schritte wurden zögernder. Ariac hatte sie allein gehen lassen. Sicher, er könnte verhaftet werden, aber auch für sie war es nicht ungefährlich. Normalerweise brachte er sie nie absichtlich in gefährliche Situationen. Rijana hielt an und blickte zurück. Sie hatte ein ungutes Gefühl. In den letzten Tagen hatte sie häufig gespürt, dass es Ariac nicht gut ging. Aber trotzdem war er immer zielstrebig vorangegangen. Aber was er vorhin gesagt hatte, hatte sich nach einem endgültigen Abschied angehört. Was hatte er vor? Wollte er sie verlassen, damit er sie nicht in Gefahr brachte? Rijana bekam Angst. Sie drehte sich um und rannte den ganzen Weg zurück. Sie musste Gewissheit haben, dass Ariac noch dort war.
Es war beinahe dunkel, als sie den Hügel fand, auf dem er gestanden hatte. Atemlos rannte sie hinauf und blickte sich um. Zunächst konnte sie Ariac nicht finden, aber dann sah sie etwas nicht weit entfernt im Gras liegen. Durch den tarnenden Umhang, den Ariac um sich gewickelt hatte, erkannte man ihn kaum. Vorsichtig trat Rijana näher und kniete sich neben ihn. Sie wunderte sich zunächst, dass er einfach hier mitten auf der Wiese schlief. Als sie ihn umdrehte, erschrak sie zu Tode. Er zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war schweißbedeckt, und er stöhnte ständig leise vor sich hin.
Rijana nahm ihn in den Arm und hielt ihm den Wasserschlauch an den Mund. Er zitterte so heftig, dass er nicht schlucken konnte.
»Ariac? Was hast du denn?«, flüsterte sie verzweifelt und streichelte ihm über die Haare. »Ich hätte es wissen müssen. Du hättest mich nicht einfach allein gelassen.«
Ariac zitterte die ganze Zeit über und krümmte sich immer wieder gequält zusammen. Aber sosehr Rijana sich bemühte, sie bekam nichts aus ihm heraus. Sie legte ihren Umhang über ihn und untersuchte sein Bein. Es war geschwollen, und rund um die Wunde hatten sich lange rote Linien gebildet. Rijana versuchte immer wieder, ihm Wasser zu geben. Als es dann langsam wieder hell wurde, öffnete Ariac zögernd die Augen.
»Du musst mir jetzt sagen, was mit dir los ist«, sagte sie bestimmt.
Er drohte wieder das Bewusstsein zu verlieren und stöhnte gequält auf, aber Rijana schüttelte ihn an der Schulter.
»Warum bist du hier?«, murmelte er und krümmte sich mit einem leisen Aufschrei zusammen.
»Ariac, was hast du?«, fragte sie verzweifelt.
Er hustete und richtete sich zitternd auf, dann blickte er sie verzweifelt an. Seine Lippen waren aufgesprungen, und die dunklen Ringe, die er die ganze Zeit schon unter den Augen hatte, wirkten noch tiefer.
»Die Feuerechse … die Stacheln … giftig«, stammelte er zitternd. »Wollte nicht … dass du … das siehst.«
Sie nahm ihn fest in den Arm. »Wie kann ich dir denn helfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Gegengift. Die Dornen, die ich in der Tasche habe, helfen ein wenig, und die Blätter. Aber es ist bald vorbei.« Er stöhnte auf und keuchte: »Nicht mehr … länger herauszögern … bitte … es tut so weh.«
Erschöpft ließ er sich gegen sie sinken. Rijana war den Tränen nahe. Rasch holte sie einige Dornen aus seiner Tasche.
»Ariac, du nimmst sie jetzt. Ich bringe dich nach Balmacann, dort gibt es gute Heiler.«
Er schüttelte zitternd den Kopf. »Nein, es gibt keine Heilung … nichts nützt etwas.«
»Ariac, du kannst jetzt nicht aufgeben!«, schrie sie hysterisch und drückte ihm die Dornen in die kalten, zitternden Hände.
Schließlich presste er den Saft mit zitternden Händen heraus und lehnte sich gegen Rijanas Schulter. Es schien ewig zu dauern, aber dann hörte er auf zu zittern, und das Fieber sank. Rijana drückte ihn weinend an sich.
»Warum hast du mir denn nichts gesagt?«, schluchzte sie.
Ariac nahm kraftlos ihre Hand. »Es hätte nichts genützt. Ich wollte dich bis hierher bringen. Bitte glaube mir, niemand kann mir mehr helfen. Sie haben es uns in Ursann gesagt. Die Stacheln einer ausgewachsenen Feuerechse sind tödlich.« Er blickte traurig zu ihr auf. »Bitte lass mich allein! Ich möchte nicht, dass du mich sterben siehst.«
Rijana schüttelte den Kopf, sodass Tränen in seine Haare tropften. »Nein, ich lasse dich nicht allein. Bestimmt kann dir jemand helfen.« Sie schluchzte und hob den Kopf. »Scurr hat schon öfters gelogen, es gibt sicher ein Gegengift.«
Erschöpft schloss Ariac die Augen. »Wir sehen uns doch im nächsten Leben wieder«, sagte Ariac müde. »Ich werde dich finden.«
»Nein!«, rief Rijana und packte ihn am Arm. »Ich will dieses Leben mit dir verbringen, und jetzt steh auf, es ist nicht weit bis zur Brücke.«
Ariac stöhnte gequält und schaffte es sogar, auf die Beine zu kommen. Rijana legte ihm einen Arm um die Hüfte, und er stolperte auf sie gestützt den Hügel hinauf. Aber in den letzten Tagen hatte er all seine Kraft verbraucht. Er konnte einfach nicht mehr und musste alle paar Schritte stehen bleiben.
Immer wieder gab ihm Rijana einige der letzten Blätter in die Hand, aber selbst die schienen nicht mehr zu helfen. Schließlich führte Rijana Ariac an einen Baum, wo er sich erschöpft zu Boden sinken ließ. Mit zitternden Fingern holte Rijana einen Dorn aus seiner Tasche und drückte ihm den Saft in den Mund.
»Ruh dich aus, ich werde uns ein Pferd besorgen«, sagte sie.
Ariac hustete qualvoll und legte sich auf den Boden. Rijana legte ihm ihren Umhang über und rannte los.
Bald hatte sie die ersten Bauernhöfe erreicht, die vor der kleinen Stadt lagen. Zunächst sah sie nur Kühe und Schafe und einige Bauern, die auf den Feldern arbeiteten. Sie rannte weiter und fand endlich ein Kriegspferd, das vor einem der etwas größeren Häuser angebunden stand. Ohne weiter zu überlegen, band sie es los, schwang sich in den Sattel und galoppierte zu Ariac zurück.
Der hatte inzwischen etwas Kraft geschöpft und richtete sich auf, als er galoppierende Hufe hörte.
»Komm, steig auf, dann brauchst du nicht laufen, ich führe das Pferd«, schlug Rijana vor.
Er biss die Zähne zusammen und stand schwankend auf. Rijana half ihm, so gut es ging, aber er konnte sich nicht in den Sattel ziehen. Schließlich fand Rijana einen umgestürzten Baum. »Wenn du dort hinaufsteigst, geht es bestimmt.«
Ariac holte tief Luft und stolperte auf Rijana gestützt zu dem Baumstumpf. Als er endlich auf dem Pferd saß, hielt er sich mit letzter Kraft am Sattel fest. Rijana führte das Pferd den Berg hinunter auf die Stadt zu.
»Wir sind gleich da«, sagte Rijana immer wieder beruhigend. »Wenn wir die Stadt umreiten, sind wir bald bei der Brücke.«
Ariac nickte halbherzig. Er wusste kaum, wie er das schaffen sollte. Endlich kam die große Brücke in Sicht. Wie immer hatte sich eine lange Schlange am Kontrollpunkt gebildet. Jede Menge Wagen, Reiter und Fußgänger warteten darauf, nach Balmacann reisen zu dürfen.
Rijana und Ariac stellten sich ganz hinten an. Rijana streichelte Ariac über das heiße Gesicht, während dieser halb bewusstlos über dem Hals des Pferdes hing.
»Ich bin gleich wieder zurück. Hältst du dich so lange oben, oder willst du lieber absteigen?«
Er hob stöhnend den Kopf, hustete ein paar Mal und brachte dann ein undeutliches »Absteigen« heraus.
Rijana nickte besorgt, dann rutschte Ariac langsam aus dem Sattel. Er fiel beinahe hin, als seine Beine den Boden berührten. Rijana half ihm zu einem Felsen und gab ihm ihren Wasserschlauch. Dann drückte sie ihm die letzten Blätter der Curuz-Sträucher in die Hand.
Ariac versuchte zu lächeln, was ihm allerdings nicht gelang, dann lehnte er den Kopf an den Felsen. Rijana lief los. Sie drängelte sich durch die wartenden Menschen und Kutschen. Schließlich stand sie vor einem Soldaten in den blauen Farben Cathargas. Der Mann kassierte gerade Zoll.
»Ich muss über die Brücke. Ich bin Rijana, eine der Sieben. Mein Gefährte ist krank. Ihr müsst mich vorlassen«, keuchte sie schwer atmend.
Der Soldat betrachtete das schmutzige Mädchen mit den zerzausten langen Haaren und den abgerissenen Kleidern von oben bis unten.
»Stell dich hinten an. Wahrscheinlich kannst du ohnehin nicht zahlen«, sagte er abfällig.
Rijana blitzte ihn wütend an. »Ich bin Rijana. Ich wurde in Camasann ausgebildet.«
»Natürlich, und ich bin König Scurr«, sagte der Soldat spöttisch, dann machte er eine ungeduldige Handbewegung und winkte die nächste Kutsche zu sich.
Rijana blieb empört stehen. Sie wollte noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Sie hatte keine Zeit, mit dem Soldaten zu diskutieren. Rijana lief zu Ariac zurück, der heftig zitternd an dem Felsen lehnte.
»Du musst die Blätter kauen, bitte«, sagte sie ängstlich, als sie sah, dass er diese noch immer in der Hand hatte.
»Nützt nichts«, keuchte er.
Rijana nahm sein Gesicht in ihre Hände. Er bekam kaum noch die Augen auf. »Ariac, bitte, du musst nur noch ein einziges Mal aufstehen und mit mir kommen, dann bringe ich dich zu Leuten, die dir helfen.«
»Ich kann nicht mehr«, murmelte er und kippte halb zur Seite.
Rijana legte entschieden seinen Arm um ihre Schultern und hielt ihm eines der Blätter hin. »Ariac, bitte, tu es für mich. Du musst nur noch ganz kurz durchhalten«, flehte sie.
Endlich begann er, langsam auf dem Blatt herumzukauen. Immer wieder musste er husten und krümmte sich gequält zusammen. Rijana nahm ihn in den Arm und beachtete die merkwürdigen Blicke der Leute nicht, die an ihnen vorbeigingen, um zur Brücke zu kommen.
»Bringst … bringst du meine Asche zurück in die Steppe?«, fragte er nach einer Weile mühsam.
Rijana schossen die Tränen in die Augen. »Das brauche ich nicht. Wir kehren eines Tages gemeinsam in die Steppe zurück.«
»Bitte, versprich es mir!«
Rijana drückte ihm einen Kuss auf die heiße Stirn und nickte schließlich. »Wenn es sein muss, werde ich es tun, aber jetzt musst du noch ein wenig durchhalten.«
Nach einer kleinen Ewigkeit schaffte es Ariac, auf die Füße zu kommen und auf Rijana gestützt langsam vorwärts zu schwanken. Sie drängte sich an Kutschen und wartenden Leuten vorbei, die ihr empört hinterherschimpften.
»Er hat eine ansteckende Krankheit«, rief sie immer wieder, und keiner traute sich, die beiden aufzuhalten.
Endlich hatten sie einen Wagen erreicht, der Stoffe und Obst geladen hatte. Der Kutscher blickte angestrengt nach vorn und wartete darauf, seinen Zoll zu zahlen.
»Komm, du musst dort hinauf«, flüsterte Rijana Ariac ins Ohr.
Der schien sie zunächst nicht zu hören, aber schließlich kletterte er mit einem unterdrückten Stöhnen auf die Ladefläche des Wagens und ließ sich in die weichen Stoffe sinken. Rijana drückte noch einmal seine Hand und wartete den richtigen Moment ab. Gerade fuhr die Kutsche vor ihnen los. Dann sprang sie ohne Vorwarnung auf den Kutschbock, und bevor der Kutscher ein empörtes »Was soll das?« zu Ende gerufen hatte, hatte sie ihn schon mit dem Knauf ihres Schwertes bewusstlos geschlagen und vom Kutschbock geschubst. Ihr blieb einfach keine andere Wahl, wenn sie Ariac retten wollte. Sie zog sich ihre Kapuze über den Kopf und fuhr vor, als der Soldat sie heranwinkte.
»Ein Goldstück«, knurrte er, dann fiel sein Blick auf ihr Gesicht, und er rief empört: »Du bist doch …«
Weiter kam er nicht mehr, denn Rijana trieb die beiden Kutschpferde mit einem Schrei an und schlug ihnen die Leinen auf den Rücken. Die sprengten erschrocken vorwärts und brachen durch den hölzernen Schlagbaum hindurch. Holz splitterte zu allen Seiten. Zwei weitere Soldaten sprangen entsetzt aus dem Weg. Rijana raste über die Brücke. Bald hatte sie die vorderste Kutsche eingeholt. Hinter sich hörte sie Schreie, und ein Pfeil zischte an ihr vorbei. Rijana lenkte ihre Pferde nach links, galoppierte an der Kutsche vorbei und erhaschte den überraschten Blick des Kutschers. Weiter vorn liefen oder ritten Menschen, die erschrocken zur Seite sprangen, als Rijana an ihnen vorbeistürmte. Empörte Schreie und Drohungen folgten ihr. Sie sah eine weitere Kutsche vor sich, trieb die Pferde zu einem rasenden Galopp an und quetschte sich haarscharf zwischen dieser und einer entgegenkommenden Kutsche durch. Plötzlich war ein Soldat neben ihr, der wilde Zeichen machte und scheinbar versuchte, auf die Kutsche zu springen. Rijana schlug ihm kurzerhand die Peitsche übers Gesicht, sodass er vom Pferd fiel. Rijana warf einen ängstlichen Blick nach hinten. Ariac wurde ziemlich durchgeschüttelt, aber das ließ sich jetzt nicht ändern. Nach einigen waghalsigen Überholmanövern kam endlich das Ende der Brücke in Sicht. Offensichtlich hatten die Soldaten etwas von dem Aufruhr mitbekommen und standen mit erhobenen Lanzen in einer Reihe am Ende der Brücke. Rijana überlegte. Zunächst wollte sie einfach hindurchsprengen, aber dann parierte sie die Pferde hart durch, hob die Hände und rief: »Ich bin Rijana, ich bin eine der Kinder Thondras. Ich brauche eure Hilfe!«
Die Soldaten blickten sich verwundert an. War dieses Mädchen verrückt? Ein Soldat kam mit gespanntem Bogen näher.
»Steig ab!«
»Ihr müsst mir helfen!«, flehte Rijana verzweifelt und deutete hinter sich auf die Ladefläche. »Ariac ist verletzt, er ist ebenfalls einer der Sieben.«
Die Soldaten waren unsicher. Dieses schmutzige, abgerissene und wütende Mädchen konnte doch keine der Sieben sein. Andererseits wurden Rijana und Ariac schon so lange Zeit gesucht. Wäre sie es wirklich, würde König Greedeon die Soldaten hart bestrafen, wenn sie sich jetzt falsch verhielten. Rijana verließ die Geduld. Blitzschnell zog sie ihr Schwert, sprang vom Wagen und hielt es dem verdutzten Soldaten an die Kehle.
»Verdammt noch mal, wie viele Frauen mit so einem Schwert gibt es denn hier?«, rief sie wütend. In ihren Augen schwammen jedoch bereits Tränen. Wenn sie jetzt verhaftet wurde, würde niemand Ariac helfen können.
Die Soldaten hielten die Luft an, einer flüsterte einem anderen etwas zu, der daraufhin verschwand.