KAPITEL 5
Harte Zeiten
Zwei Jahre vergingen. Sowohl in Naravaack als auch in Camasann trafen neue Kinder ein, aber bisher hatte sich an keinem der Neujahrsfeste einer der Sieben gezeigt. Die Zeiten wurden härter. Eine Seuche raffte viele der ärmlichen Dörfer dahin, die unter König Scurrs Kontrolle in Ursann standen. So überfielen seine Soldaten nun zunehmend Catharga und die anderen Königreiche. Sie nahmen sich Vieh, Frauen und was immer sie wollten. Auch die anderen Länder bekriegten sich gegenseitig. So führten beispielsweise im Jahr, nachdem Rijana und Ariac auf die Schulen kamen, Northfort und Errindale Krieg. Es ging um eine Diamantenmine an der Grenze. Überall brodelte es, und als im zweiten Jahr auch noch die ganzen drei Sommermonde so verregnet waren, dass beinahe keine Ernte eingefahren werden konnte, bestahl jeder jeden. Viele der älteren Krieger wurden von Camasann abgezogen, um für Recht und Ordnung zu sorgen.
 
Ariac war nun vierzehn Jahre alt und wurde langsam, aber sicher zum Mann. Er hatte noch immer die gleichen Schwierigkeiten und keine Freunde. Einmal war einer der Jungen nett zu ihm gewesen, doch das hatte sich als Falle erwiesen. Farant hatte Ariac nur über seine Fluchtpläne ausgefragt und Worran alles erzählt, was dem Steppenjungen nur weitere Prügel und Demütigungen eingebracht hatte. Ariac konnte die vielen Nächte nicht mehr zählen, die er in brütender Hitze oder Eiseskälte zitternd auf den Türmen oder auch in den Bergen mit sinnlosen Wachen verbracht hatte. Er war so oft in das finstere Loch im Keller gesteckt worden, dass er es beinahe schon als sein eigenes Zimmer ansah. Wahrscheinlich war er auch nur deswegen noch nicht verhungert, weil er die ekelhafte weiße Pampe aß, die es jeden Tag gab. Gelegentlich konnte er zusätzlich auf den Wachen in den Bergen Beeren und Kräuter sammeln. Er und Morac hassten sich noch immer leidenschaftlich. Der nun sechzehn Jahre alte Junge war noch größer und breiter geworden. Da Morac kriecherisch und hinterhältig war, bekam er regelmäßig gutes Essen. Auch Lugan quälte den Steppenjungen immer noch mit Gemeinheiten. Lugan war nun achtzehn Jahre alt. Er hatte sich, sehr zu König Scurrs Missfallen, als keiner der Sieben herausgestellt und war daraufhin in die Armee des Königs eingetreten. Worran machte sich jedoch häufig einen Spaß daraus, gerade Lugan und Ariac zu einer gemeinsamen Wache einzuteilen. Lugan war nun Ariacs Vorgesetzter, der ihm alles befehlen durfte. Der Junge aus der Steppe hatte seine Fluchtversuche mittlerweile aufgegeben. Noch war er nicht erwachsen, noch hatte er nicht seine volle Kraft. Er würde warten müssen, bis er erwachsen und rein körperlich Worran und den anderen ebenbürtig wäre. So tröstete er sich, dass das eiserne Training doch einen Sinn hätte. Eines Tages könnte er sich rächen und nach Hause zurückkehren. Das war das Einzige, das ihn noch am Leben hielt und nicht vollkommen verzweifeln ließ.
 
Der Tag des Jahreswechsels war wieder einmal gekommen, und alle Kinder von Camasann hatten sich ihre besten Kleider angezogen. Rijana, mittlerweile zehn Jahre alt, bewunderte ihre hübsche Freundin Saliah mal wieder, die einen dunkelgrünen Rock mit breiter Schärpe und eine weiße Bluse trug. Ihre langen blonden, leicht gelockten Haare hingen in weichen Wellen ihren Rücken hinunter. In den letzten Jahren war Saliah noch hübscher geworden und wurde von allen Jungen umschwärmt. Bald würde sie eine wunderschöne Frau sein.
Rijana band ihre langen Haare zu einem Zopf zusammen und steckte die Kette mit der Pfeilspitze unter ihre Bluse. Zu Anfang hatte sie noch sehr häufig an Ariac denken müssen, doch mit der Zeit verblasste die Erinnerung ein wenig. Die Kette war jetzt nur noch eine Art Glücksbringer für das Mädchen. Sie folgte ihrer Freundin in den großen Speisesaal, in dem bereits eine Menge Jungen und Mädchen versammelt waren. Nach dem Essen sollten insgesamt zweiundzwanzig junge Männer getestet werden, darunter auch Falkann. Broderick, der inzwischen einen stoppeligen Bart trug, auf den er mit seinen sechzehn Jahren sehr stolz war, stand mit breitem Grinsen neben dem etwas blass wirkenden Falkann. Dieser zappelte von einem Bein aufs andere. Er war nervös.
Rudrinn, nun vierzehn, und ein weiterer Junge, der im letzten Jahr zu ihnen gestoßen war, sein Name war Tovion, lehnten an einem der hohen Holzpfeiler in der Mitte. Tovion war ein Jahr jünger als Rudrinn. Er kam aus einer Schmiede in Gronsdale und wirkte für den Sohn eines Schmieds sehr zart. Seine braunen Haare hingen ihm halblang ins Gesicht, und er war von den Freunden der ruhigste und besonnenste. Broderick, der sein Mentor geworden war, hatte ihn gleich zu seinen Freunden gezählt, denn sie verstanden sich sehr gut.
»Seine Majestät beliebt ein wenig zu zappeln«, witzelte Broderick.
Falkann versetzte ihm einen Stoß in die Seite und knurrte: »Halt’s Maul!«
Als die Mädchen die Treppe herunterkamen, riss Broderick die Augen auf. »Die schönsten Geschöpfe Camasanns lassen das Schloss erstrahlen«, fügte er hinzu und verbeugte sich übertrieben.
Saliah lachte nur hell auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Das ist bei nur noch vier Mädchen ja auch keine Kunst.«
Rijana bezog das Kompliment selbstverständlich nicht auf sich und stellte sich neben Rudrinn, der mal wieder finster vor sich hin brütete. Er hatte sich zwar gut eingelebt, war ein exzellenter Schwertkämpfer und Bogenschütze, doch Feste mit Tanzen und Feierlichkeiten waren ihm noch immer zuwider. Sogar ans Reiten hatte er sich gewöhnt, doch die Stunden in Geschichte, Lesen und Schreiben waren eine Qual für ihn.
»Drei Jahre«, knurrte er, »dann kann ich endlich zurück aufs Meer.«
»Meinst du im Ernst, die Piraten wollen noch einen wie dich, der so ekelhafte Sachen wie Lesen und Schreiben kann?«, zog Broderick ihn auf
»Ich hoffe, ich werde es wieder verlernen«, knurrte Rudrinn.
Das Festessen fiel in diesem Jahr wegen der schlechten Ernte etwas magerer aus, aber trotz allem wurde jeder satt. Anschließend wurden die drei magischen Schwerter geholt. Hawionn hielt die traditionelle Ansprache, in der er wie immer erklärte, dass die jungen Männer, die heute getestet wurden, frei entscheiden könnten, was weiter mit ihrem Leben passieren sollte, falls die Schwerter nicht aufleuchteten.
»Ich hoffe allerdings«, fügte der große Zauberer am Ende mit strengem Blick hinzu, »dass ihr alle hierbleibt, denn die Zeiten werden härter. Es wird noch mehr Kriege geben, und Scurrs Männer plündern alles östlich von Ursann. Wir brauchen gute Krieger, und das seid ihr alle.«
Die jungen Männer traten nun vor. Broderick schlug seinem Freund noch einmal aufmunternd auf die Schulter, und Falkann reihte sich in die Gruppe der Gleichaltrigen ein, die vor dem Podest warteten und einer nach dem anderen eines der Schwerter berührten.
»Wenn Falkann einer der Sieben ist, dann fordere ich Zauberer Tomis freiwillig zum Tanz auf«, scherzte Broderick.
»Du hast Zeugen«, drohte Saliah zum Spaß, und um sie herum wurde leise gelacht. Keines der Kinder glaubte ernsthaft, dass die Kinder Thondras zu ihren Lebzeiten in Erscheinung treten würden.
Zehn Jungen waren bereits getestet worden, und die Zauberer und Ausbilder stellten resigniert fest, dass keiner davon eines der Schwerter zum Glühen brachte. Noch ein Junge war vor Falkann an der Reihe. Falkann wurde nervös, obwohl er normalerweise sehr gelassen war. Seine Hände wurden feucht, und er schwitzte. Schließlich stand er vor Brogan, der ihm aufmunternd zulächelte und ihm eines der magischen Schwerter hinhielt.
Falkann streckte seine Hand aus und berührte das Schwert ehrfürchtig. Etwas wie ein Blitzstrahl durchfuhr ihn, sodass er es um ein Haar losgelassen hätte. Merkwürdige Szenen flackerten vor seinem inneren Auge auf. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Innerhalb weniger Augenblicke sah er grausame Schlachten, heroische Siege und fremde Länder vor sich. Doch das alles lief so schnell in seinem Geist ab, dass er es gar nicht richtig wahrnahm.
Plötzlich war alles vorbei und Falkann völlig durcheinander. Erging es allen jungen Männern so, die das Schwert zum ersten Mal berührten? Als er wieder klar sehen konnte, bemerkte er, dass irgendetwas anders war als sonst. Er blickte in die aufgerissenen Augen der Zauberer, die ihn anstarrten, als wäre er ein Geist. Es herrschte vollkommene Stille in dem Saal. Keiner wagte, sich zu bewegen.
Falkanns Stimme klang für ihn unnatürlich laut, obwohl er nur flüsterte. »Was ist denn?« Er blickte auf das Schwert in seiner Hand und sah dann, dass die eingravierten Runen auf der Schneide ganz schwach glühten. In der uralten Schrift war »Thondras Krieger« eingraviert.
»Du … du bist einer der Sieben«, flüsterte Brogan fassungslos, und als wäre so der Bann gebrochen, brach urplötzlich tosender Jubel aus. Alle schrien, jubelten und klopften dem fassungslosen Falkann auf die Schulter.
Schließlich war es Hawionn, der ein donnerndes Machtwort sprach. Er bestand darauf, dass auch die restlichen Jungen getestet wurden, aber Falkann blieb der Einzige. Schließlich zog Hawionn den fassungslosen Jungen hinter sich her in sein großes Arbeitszimmer, wo in wuchtigen Regalen tausende von Büchern, Schriftrollen und merkwürdigen Artefakten lagen.
Hawionn drückte Falkann in einen tiefen Ledersessel und gab ihm einen Kelch mit Wein zu trinken. Dann stellte er sich vor ihn. »Du bist nun etwas Besonderes, und du hast eine große Verantwortung«, sagte Zauberer Hawionn ernst. »Ich bin sehr stolz, dass du es bist, denn du bist ein guter Krieger.«
Falkann nickte mechanisch. Er war kalkweiß im Gesicht und glaubte jeden Moment umzukippen. Das konnte doch alles gar nicht sein.
Seine Stimme war nur ein Krächzen, als er sagte: »Aber ich kann das doch nicht sein …«
»Die Schwerter lügen nicht«, erwiderte Hawionn ernst und streng. Er war sehr erleichtert, dass er nun einen der Sieben in seiner Schule hatte. König Greedeon von Balmacann war in den letzten Jahren sehr ungehalten geworden und hatte Hawionn immer wieder dazu angehalten, mehr Kinder in die Schule aufzunehmen. Nun würde Greedeon erst einmal zufrieden sein.
»Und die anderen?«, flüsterte Falkann. »Wer sind die anderen?«
Hawionn zuckte die Achseln. »Das wird sich in den kommenden Jahren herausstellen. Die Sieben waren alle von jeher nur wenige Jahre voneinander entfernt.« Er packte Falkann am Arm. »Bist du bereit, dein Schwert zu erhalten?«
»Was?«, fragte Falkann, in dessen Kopf sich noch immer alles drehte.
»Wir haben hier drei Schwerter. Falls deines dabei ist, wirst du es spüren.«
Falkann nickte mechanisch, stand auf und torkelte zu den drei Schwertern, die auf Hawionns riesigem, dunklem Schreibtisch lagen. Nacheinander nahm er die Schwerter in die Hand. Sie waren alle unglaublich leicht und gut ausbalanciert, doch bei einem, dem dritten in der Reihe, durchzuckte es ihn erneut wie ein Blitz. Das Schwert schien für ihn gemacht zu sein. Er nickte Hawionn zu, der erleichtert ausatmete.
In Falkanns Kopf wirbelte alles durcheinander. All die Schlachten, die Zauberer Tomis ihnen an so vielen endlosen und zum Teil auch sehr langweiligen Unterrichtstagen beigebracht hatte, zogen an ihm vorbei. Der männliche Teil der ursprünglichen Sieben, Helion, Gondolas, Frangworn,Veldon, Norgonn – welcher davon war er gewesen?
»Welcher der Sieben bin ich?«, fragte Falkann mit einer Stimme, die noch immer nicht zu ihm zu gehören schien.
»Das wisst ihr in den seltensten Fällen, und auch das Wissen, wem welches Schwert einst gehörte, ist verlorengegangen«, antwortete Hawionn. »Man weiß nur, dass jeder der Sieben es spürt, wenn er sein Schwert in der Hand hält.«
Falkann keuchte und setzte sich mit dem Schwert in der Hand wieder zurück in den Ledersessel. Niemals hätte er wirklich gedacht, dass er Thondras Erbe antreten könnte. Vielmehr hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wieder nach Catharga zurückzumüssen. Das hatte ihm nicht behagt, denn er wollte seine Freunde nicht verlassen. Aber das, was nun passiert war, würde sein ganzes Leben verändern.
»Komm mit«, sagte Hawionn, und seine sonst so gefasste Stimme wirkte ein wenig unsicher, »wir gehen zurück in den Saal. Sie werden dich feiern wollen, und ich, ich werde einen Boten zu König Greedeon und zu deinem Vater schicken.«
Falkann nickte mechanisch. Er hätte gar nicht die Energie gehabt zu widersprechen. Das Oberhaupt der Zauberer schob den verdatterten Jungen zurück zu den anderen.
Broderick, Rudrinn, Rijana, Saliah und Tovion waren die Ersten, die sich vordrängten, um ihrem Freund zu gratulieren. Dieser ließ alles fast unbeteiligt über sich ergehen. Broderick reichte ihm schließlich einen Becher mit starkem Wein und drückte ihn auf einen Stuhl. Mittlerweile wurde Musik gespielt. Doch die Meisten starrten noch immer auf Falkann, der jetzt so etwas wie ein Wunder war.
»So, Broderick, jetzt bist du dran«, rief Saliah grinsend und deutete mit ihrem schlanken Finger auf Zauberer Tomis, der etwas klapprig auf einem Stuhl saß und immer wieder den Kopf schüttelte.
»Du wirst doch nicht im Ernst von mir verlangen …«, begann Broderick empört, doch Saliah schob ihn bereits auf die Tanzfläche und verkündete lautstark: »Broderick möchte den heutigen Tanz mit Zauberer Tomis eröffnen!«
Von überall her erschallte Gelächter, und Broderick stand mit hochrotem Kopf auf der Tanzfläche, während Zauberer Tomis mit offenem Mund auf seinem Stuhl saß.
»Ähm,Verzeihung«, stammelte Broderick, »das war nur eine dumme Wette, ich meine, ich wollte nicht wirklich …«
Zauberer Tomis erhob sich, schritt durch den Saal und stellte sich mit ernstem Blick vor den einen Kopf größeren Broderick. »Dass diese Wette dumm war, steht außer Frage, aber man hält sich an Dinge, die man verspricht. Also, lass es dir eine Lehre sein.« Tomis verbeugte sich vor dem unglücklich dreinschauenden Broderick, und die beiden begannen im Takt der Musik zu tanzen.
Alles lachte, und einigen standen schon nach kurzer Zeit die Tränen in den Augen. Broderick zog ein derart verzweifeltes Gesicht, dass er einem schon leidtun konnte.
»Was soll das eigentlich?«, fragte Falkann, der sich nach und nach ein klein wenig von seinem Schock erholte.
Saliah lachte hell auf. »Er hat gesagt, wenn du einer der Sieben bist, dann fordert er Zauberer Tomis zum Tanz auf.«
Falkann grinste halbherzig, und Saliah schaute ihn ganz merkwürdig an. »Es ist wirklich unglaublich!«
»Allerdings«, murmelte Falkann, den alle außer seinen Freunden ansahen, als wäre er nun ein Fremder. »Willst du mit mir tanzen, Saliah?«, fragte er mit einem schwachen Lächeln.
Diese verneigte sich huldvoll. »Natürlich.« Sie hatte seit kurzer Zeit Tanzstunden und brannte nun darauf, ihr Können zu zeigen.
Die beiden gingen in die Mitte des Raumes, wo sich inzwischen auch andere Paare versammelt hatten. Doch es waren außer den vier Mädchen, Rijana wollte nicht, da sie noch keine Tanzstunden hatte, nur wenige Bauernmädchen von der Insel und einige Mägde anwesend, die mit hochroten Köpfen mit den jungen Kriegern tanzten.
»Du bist auch bald dran«, sagte Tovion mit einem Lächeln. Rijana seufzte. Mit mir wird ohnehin niemand tanzen wollen, ich bin einfach nicht so hübsch wie die anderen. Mal wieder bewunderte sie die elegante Saliah, die mit Falkann durch den Raum schwebte.
 
»Ein nettes Paar«, sagte Brogan zu Rittmeister Londov.
Dieser grinste und zeigte dabei seine Zähne. »Broderick und Tomis?«
Brogan lachte und schüttelte den Kopf. »Also, was das soll, weiß ich auch nicht. Nein, ich meinte Saliah und Falkann.«
Der Rittmeister nickte. »Ja, sie würden gut zusammenpassen, beide sind aus Adelshäusern und sehr gutaussehend. Wer weiß, am Ende ist auch sie eine der Sieben.«
»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, verlangte Hawionn, der gerade zurückkehrte. Er hatte die Boten bereits losgeschickt.
 
Endlich hörte das erste Lied auf, und Broderick war erlöst. Keuchend kehrte er zu seinen Freunden zurück, die sich köstlich amüsierten.
»In Thondras Namen, das war das Schrecklichste, das ich jemals erlebt habe«, sagte er schaudernd und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Tomis hatte ganz schmierige Hände, igitt!«
»Dann darfst du eben nicht so dämliche Sachen sagen«, meinte Rudrinn ohne Mitleid.
Broderick machte eine wegwerfende Handbewegung und stürzte einen Kelch mit Wein herunter. »Rijana, tanzt du mit mir, damit ich dieses fürchterliche Ereignis schnell vergesse?«
Diese lief rot an und schüttelte verlegen den Kopf. »Nein, ich kann es nicht.«
»Ach was«, meinte Broderick und nahm sie an der Hand, »ich zeige es dir.«
Doch Rijana sträubte sich hartnäckig, und schließlich gab Broderick auf. Auch Saliah und Falkann kehrten zurück. Das Fest nahm seinen Gang, aber Falkann winkte seine Freunde irgendwann zu sich, und sie gingen hinaus vor das große Tor. Es war Herbst und bereits ziemlich kalt draußen. Auf der Anhöhe vor dem Schloss wehte ohnehin meistens der Wind. Sie setzten sich in den Schutz einiger Felsen, und Falkann fuhr sich durch die halblangen, dunkelblonden Haare.
»Du meine Güte, ich habe keine Ahnung, wie mein Leben jetzt weitergeht.«
Die anderen nickten. Auch sie waren noch immer etwas durcheinander.
»Ob einer von uns auch noch einer der Sieben ist?«, fragte Tovion unsicher.
Alle hoben die Achseln und sahen sich an, doch vorstellen konnte sich das niemand so richtig.
»Wie auch immer«, sagte Saliah bestimmt und nahm Falkanns Hand. »Wir halten zu dir und kämpfen mit dir, falls es jemals zu einer Schlacht kommt.«
Die anderen nickten einstimmig und nahmen sich im Kreis an den Händen. In dieser Nacht beschlossen sie, immer zusammenzuhalten und ihre Freundschaft durch nichts und niemanden zerstören zu lassen. Danach fühlte sich Falkann ein wenig besser.
 
Auch in Ursann wurde das Neujahrsfest gefeiert, allerdings nicht mit Musik, Tanz und gutem Essen, sondern mit einer Ansprache von König Scurr. Dieser kam regelmäßig nach Naravaack, um seine Ansichten kundzutun. Selbst Ariac, der nach wie vor rebellierte, musste zugeben, dass Scurr eine charismatische und mitreißende Art hatte. Sogar er, der weder von dem König noch von Worran etwas hielt, ertappte sich hin und wieder dabei, König Scurr zuzujubeln, auch wenn er sich rasch wieder fasste.
Auch heute stand der große, unheimliche Mann vor seinem erhöhten Thron im großen Speisesaal. Schon einige Zeit redete er über die Ausbildung in Ursann.
»… sicher, unsere Methoden sind hart«, sagte er gerade und schritt auf dem Podest auf und ab, begleitet von den bewundernden Blicken der Jungen, »aber ihr werdet zu Männern, richtigen, harten und starken Männern!«
Seine jungen Soldaten jubelten ihm zu.
»Wir sind die Elite, das Beste, das die Reiche jemals gesehen haben, und wir können alles bekommen, was wir wollen!« Der König warf einen abschätzenden Blick in die Menge. »Die anderen Reiche schwelgen in Reichtum, sie haben Bodenschätze, fischreiche Gewässer, gutes Ackerland und vieles mehr. Dennoch ist ihnen das nicht genug. Camasann, zum Beispiel, streckt seine Hand nach der Steppe aus, um dort die Völker zu vernichten, aber uns geben sie nichts ab.« Er blickte kurz zu Ariac, als er die Steppe erwähnte. »WIR haben es verdient, belohnt zu werden. WIR sind die Starken. Sie machen uns schlecht und sagen uns nach, wir seien Dämonen, dabei nehmen wir uns nur das, was uns zusteht!« Seine Stimme wurde so mitreißend, dass alle Jungen laut jubelten und selbst Ariac seine Hände nur mühsam unten halten konnte, was ihm mal wieder den wütenden Blick von Worran einbrachte. Dass Camasann die Steppenvölker vernichten wollte, konnte Ariac nicht glauben, dennoch stimmte es ihn etwas nachdenklich.
»Lasst uns das erobern, was unser gutes Recht ist! Wir sind die Elite aller Länder! Wir! Sieg für Ursann!«
Die Jungen unter ihm tobten, und König Scurr lächelte heimlich in sich hinein. Er hatte es schon immer geschafft, dumme junge Leute zu begeistern. Sie verehrten ihn und fürchteten ihn. Gemeinsam mit Worran und dessen gnadenloser Brutalität war es ein perfektes Spiel. Worran fürchteten und hassten die Jungen, was ihre Kampfeswut nur noch anstachelte. Ihn, Scurr, verehrten sie auf eine ängstliche, unterwürfige Art.
»Heute bekommt jeder Fleisch«, verkündete der König großzügig, und plötzlich wurden Platten mit Wild aufgetragen. »Anschließend werden die Siebzehnjährigen getestet.«
Ariac verzog spöttisch den Mund. Das Wild hatten er und einige andere Jungen erst gestern erlegt. Es war unheimlich großzügig, es jetzt zu verteilen. Doch seit dem letzten Jahreswechsel war dies wohl seine erste nahrhafte Mahlzeit. So hielt er den Mund und aß so viel, dass ihm davon schlecht wurde. Anschließend wurden die erwachsenen Jungen und auch ein Mädchen getestet, aber es war keiner dabei. König Scurr fluchte mal wieder leise in sich hinein wie schon die vielen Jahre zuvor.