KAPITEL 10
Der erste Kampf der Sieben
Auch in Balmacann war es langsam Sommer
geworden. Die Obstbäume hingen voll mit reifen Früchten, die Blumen
blühten unglaublich prachtvoll, und die Vögel zwitscherten fröhlich
in den Bäumen.
Falkann hatte sich schließlich getraut, Rijana eine
schmale, kunstvoll gearbeitete Silberkette zu schenken, die nun um
ihren Hals hing. Was ihn ein wenig ärgerte, war, dass sie
allerdings auch noch immer die Speerspitze mit dem Lederband trug.
Rijana hatte lange überlegt, es jedoch nicht fertiggebracht, sie
abzulegen. Zu lange trug sie die Speerspitze jetzt schon um den
Hals. Sie war für Rijana eine Art Glücksbringer geworden.
Merkwürdigerweise dachte sie gerade jetzt an Ariac. Was war wohl
aus dem Steppenjungen geworden, den sie vor so langer Zeit kennen
gelernt hatte?
Hoffentlich ist er wieder zu Hause in der
Steppe, dachte sie, obwohl ihr klar war, dass sie sich nur
selbst etwas vormachte, denn mittlerweile wusste sie, dass König
Scurr niemanden gehen ließ, es sei denn, er war tot.
Doch daran wollte sie an diesem schönen Tag nicht
denken. Rijana war ein wenig durcheinander. Falkann umwarb sie und
machte ihr ständig Komplimente. Er schenkte ihr Blumen und machte
ihr Geschenke. Rijana stand in ihrem großen Zimmer und blickte auf
den Garten hinaus. Sie fühlte sich einerseits sehr geschmeichelt,
und vielleicht war sie sogar ein wenig verliebt in ihn, aber
andererseits war er ihr so
lange Zeit nur ein guter Freund oder vielleicht auch eine Art
großer Bruder gewesen, dass es einfach ungewohnt war, dass er sich
jetzt für sie als Frau interessierte.
Rijana bürstete ihre langen Haare, band sie zu
einem Zopf zusammen und ging hinunter in die sonnendurchflutete
Halle. Dummerweise lief sie ausgerechnet Berater Flanworn über den
Weg, der an diesem Tag zurückgekehrt war.
»Hallo, schönes Kind«, sagte er, und seine kleinen,
schweinsartigen Augen begannen gierig zu glänzen. Aus seiner Tasche
holte er ein in ein schmuddeliges Tuch gewickeltes Päckchen heraus
und überreichte es Rijana mit einer Verbeugung. »Das habe ich dir
mitgebracht.«
Sie wich unwillkürlich zurück. »Danke, aber ich
will nichts von Euch.«
Flanworn schüttelte den Kopf, und eine schmierige
Haarsträhne fiel ihm über die Augen. »Sei doch nicht so schüchtern.
Ich schenke einer so hübschen jungen Lady doch mit Vergnügen
etwas.«
Erneut schüttelte sie den Kopf, und der schmierige
Berater kam immer näher. Er roch nach schalem Bier, schlechten
Zähnen und dem Schweiß einer langen Reise. Rijana hielt die Luft
an, damit ihr nicht noch übler wurde.
»Du bist so wunderschön!« Er versuchte mit der Hand
über ihre Haare zu streichen, doch sie legte den Kopf so weit nach
hinten, dass sie dem widerwärtigen Mann gerade so entgehen
konnte.
Geschickt schlüpfte sie unter Flanworns Arm
hindurch und rannte die Treppe hinunter, direkt in Falkanns Arme.
Der fing sie lachend auf.
»Na, du hast es aber eilig!«
In ihren Augen war noch immer ihre Panik abzulesen,
sodass sie sich bereitwillig von ihm in die Arme nehmen ließ. Oben
auf der Treppe beobachtete Berater Flanworn sie mit gierigem
Blick.
»Guten Tag, Berater«, grüßte Falkann höflich, der
diesen erst jetzt bemerkt hatte.
Der schmierige Mann nickte nur kurz und verschwand
rasch die Treppe hinauf in seine Gemächer. Rijana atmete
erleichtert auf.
»Was hast du denn?«, fragte Falkann und betrachtete
sie genauer.
Rijana schüttelte sich kurz und sagte: »Komm, lass
uns nach draußen gehen.«
Falkann nickte und trat mit ihr zusammen in die
warme, vom Duft der Sommerblumen erfüllte Luft hinaus.
»Dieser Flanworn ist ekelhaft. Ich kann ihn nicht
ausstehen«, sagte Rijana wütend.
Falkann hob nur die Schultern. »Natürlich, aber das
sind doch die meisten Lords, oder nicht?«
»Ja, schon«, gab Rijana zögernd zu, dann senkte sie
den Blick und sagte: »Aber er sieht mich immer so komisch
an.«
Falkann legte einen Arm um sie und zog sie näher an
sich heran. »Das tut doch jeder, weil du so wunderschön
bist.«
Sie errötete ein wenig und schüttelte den Kopf.
»Nein, das meine ich nicht! Er hat mich bedrängt und wollte mir
etwas schenken.«
Falkann runzelte die Stirn. »Das hast du sicher
falsch verstanden. Ich glaube nicht, dass er dir etwas Böses will.
Mal abgesehen davon könnte er dein Vater sein.«
Rijana war enttäuscht. Falkann schien sie einfach
nicht verstehen zu wollen.
Die Tage vergingen wie im Flug, und der zweite
Sommermond brach schon bald an. Berater Flanworn passte Rijana
immer wieder ab, wenn sie allein war. Auch hatte er es geschafft,
ihr sein Päckchen zukommen zu lassen, indem er es ihr ins Zimmer
geschmuggelt hatte. Das Päckchen hatte ein wertvolles Armband aus
blutroten Rubinen enthalten. Rijana
hatte es ihm sofort wieder zurückgegeben, doch schon kurz darauf
hatte sie es wieder auf ihrem Bett vorgefunden. Seitdem verriegelte
sie nachts immer ihre Tür. Rijana hatte langsam wirklich Angst vor
dem schmierigen Berater.
An einem warmen Sommertag, einem der wenigen freien
Tage, welche die Freunde zur Verfügung hatten, ritten Rijana und
Falkann durch die weitläufigen Parkanlagen des Schlosses. An einem
der Seen machten sie Rast und legten sich ins warme Sommergras.
Insekten summten um sie herum, und bunte Vögel sangen ihre Lieder.
Die Pferde grasten währenddessen ganz in der Nähe.
Falkann betrachtete Rijana, die mit geschlossenen
Augen neben ihm auf der Wiese lag, und streichelte ihr zärtlich
über die Wange.
Sie machte die Augen auf und lächelte ihn an.
Daraufhin gab Falkann ihr einen vorsichtigen Kuss, den sie zögernd
erwiderte. Doch dann wurden sie von dem Geräusch galoppierender
Hufe unterbrochen. Falkann runzelte wütend die Stirn und blickte
auf Broderick, der atemlos von seinem grauen Hengst sprang.
»Verdammt noch mal, hat man denn nie seine Ruhe?«,
fragte Falkann zornig. Er hatte ohnehin selten Zeit, um mit Rijana
allein zu sein.
»Tut mir leid«, keuchte Broderick und grinste
Rijana zu, die ein wenig rot anlief. »Ich hätte euch niemals
gestört, aber König Greedeon lässt uns alle zusammenrufen. Es muss
sehr dringend sein. Das ganze Schloss ist in Aufruhr.«
Falkann fluchte leise und zog Rijana auf die Füße.
Zu dritt ritten sie in Richtung der Stallungen. Auch dort herrschte
bereits heillose Aufregung. Soldaten schrien Befehle, Pferde wurden
von den Weiden geholt und Sattelzeug durch die Gegend getragen. Als
sie am Schloss ankamen, führte sie ein Diener sofort zur
Versammlungshalle, wo sich bereits einige Lords, Hauptmänner und
ranghohe Soldaten zusammengefunden
hatten. Auch Saliah, Tovion und Rudrinn saßen mit gespannten
Gesichtern auf ihren Stühlen.
»Na endlich«, rief König Greedeon und erhob sich
von dem großen Stuhl am Kopf des Tisches. Ihm zur Seite saß Berater
Flanworn und lächelte Rijana mit seinen fauligen Zähnen zu. Sie
wandte rasch den Blick ab.
»König Scurr ist heimlich über das Donnergebirge
nach Balmacann eingedrungen«, begann König Greedeon. Sofort
herrschte atemlose Stille in dem großen Ratssaal. Der König begann
unruhig auf und ab zu laufen. »Er hat auch einige Schiffe an die
Küste geschickt, doch die wurden abgefangen. Es war ein
Ablenkungsmanöver.«
»So ein Hund!«, erklang die Stimme von Lord
Geodorn, der nur durch reichlich Gold in den Adel aufgestiegen war.
Einst war er ein einfacher Bauer gewesen, dann hatte er durch
Zufall eine Goldmine auf seinen Feldern entdeckt. Doch man sah ihm
noch immer an, dass er ein einfacher Mann war. Beim Essen konnte er
kaum mit Messer und Gabel umgehen, und auch seine Manieren ließen
zu wünschen übrig.
König Greedeon beachtete ihn nicht weiter und fuhr
fort: Ȇber den Donnerfluss kommen sie nicht, dort habe ich bereits
eine Menge Soldaten postiert, aber man sagt, sie hätten auch Orks
dabei, die sich in den Bergen versteckt halten. Ich habe bereits
Hilfe aus Camasann angefordert, aber auch unsere Männer werden
kämpfen müssen.«
Dabei warf er besonders den sechs Freunden einen
auffordernden Blick zu. Vielleicht hätte er sie noch gar nicht
benötigt, aber es wurde Zeit, dass sie ihre Qualitäten unter Beweis
stellten.
»Ist unser Land wirklich in Gefahr?«, fragte Lord
Regold, ein arroganter Mann, der als Geizhals bekannt war und
äußerst ungern einen Finger krumm machte.
»Die Ernte wird auch in diesem Herbst schlecht
ausfallen. Alle Länder sind von den Stürmen des Winters
beeinträchtigt
worden. Scurr wird es ebenfalls nicht viel besser ergangen sein
und plündert nun, was er kriegen kann.«
»Gut, wirr werrrden kämpfen«, knurrte Lord Nasrann,
der ursprünglich aus Errindale stammte und in einem starken Dialekt
sprach. Sein Gesicht war unter dem dichten, schwarzen Bart kaum zu
erkennen. Er war einer der wenigen hohen Herren, die gelegentlich
auch mal selbst das Schwert schwangen.
»Morgen werden wir aufbrechen«, befahl König
Greedeon. »Vor dem Donnergebirge sammeln wir uns. Ich hoffe nur,
dass die Krieger aus Camasann bald eintreffen werden.«
Aufgeregtes Getuschel war nun zu hören, das den
ganzen Abend nicht mehr verstummte. Es wurde nur noch über die
bevorstehende Schlacht geredet.
»Dann wird es jetzt also ernst«, meinte Tovion und
strich über das Schwert, das an seiner Seite hing.
»Und ausgerechnet jetzt ist meines auf Camasann«,
sagte Falkann und verzog das Gesicht. »Und dann müssen wir auch
noch gegen Orks kämpfen.«
»Wir haben bereits gegen Orks gekämpft, es wird
schon gut gehen«, meinte Broderick.
»Wir aber nicht«, wandte Saliah ein, und Rijana und
Tovion nickten zustimmend.
»Orks sind nicht so schlimm«, warf Rudrinn ein.
»Sie sind zwar kräftig, aber auch dumm. Man kann sie leicht
überlisten.«
Falkann nahm Rijana in den Arm. »Wir passen schon
auf euch auf.«
Saliah warf Endor, dem jungen Soldaten, in den sie
verliebt war, einen verzweifelten Blick zu. Er würde bereits heute
Nacht aufbrechen müssen.
In dieser Nacht dauerte es lange, bis alle endlich
in ihren Betten schliefen. Wohl eine der letzten Nächte, die sie so
komfortabel
verbringen würden. Doch noch vor dem Morgengrauen wachte das ganze
Schloss beinahe gleichzeitig auf, denn plötzlich bebte die Erde,
und selbst die Mauern des massiven und gewaltigen Schlosses wurden
erschüttert.
Rijana schoss in ihrem Bett auf und hielt sich
erschrocken an einem der vergoldeten Pfosten fest. Sie hatte keine
Ahnung, was das war. Von überall her ertönten aufgeschreckte
Stimmen, und Schritte waren auf den Gängen zu hören. Doch sie war
nicht in der Lage sich zu rühren. Es klopfte an ihrer Tür.
»Rijana, ist mit dir alles in Ordnung?«, erklang
Falkanns Stimme.
»Ja«, rief Rijana ängstlich.
Er rüttelte an der Tür, doch die war von innen
verschlossen.
»Na los, mach auf«, verlangte er.
Rijana stieg vorsichtig aus dem Bett und fiel
beinahe hin, als die Erde erneut erbebte. Endlich war sie an der
Tür, und Falkann hielt sie beide am Türrahmen fest. Dann nahm er
sie in den Arm, und Rijana fragte ängstlich: »Was ist das?«
»Ein Erdbeben«, antwortete er. »In Catharga habe
ich so etwas öfters erlebt. Es dauert normalerweise nicht sehr
lange.«
Aufgeregte Diener liefen umher. Eine Menge Glas und
einige Lampen waren zu Bruch gegangen, aber ansonsten war wohl das
Meiste heil geblieben.
Falkann führte Rijana zum Bett und legte ihr eine
Decke um die Schultern.
»Meinst du«, fragte sie immer noch erschüttert,
»dass das ein schlechtes Omen war?«
Falkann schüttelte entschieden den Kopf, aber so
sicher war er sich da selbst nicht.
Zu dieser Zeit ruderte Ariac mit König Scurr und
einigen Blutroten Schatten über das Meer. Sie hatten nur ein
kleines
Boot ohne Segel, damit sie unerkannt an der Küste landen konnten.
Ariac hatte gar nichts davon mitbekommen, dass König Scurr bereits
im Frühling über fünfhundert Soldaten auf die Reise nach Balmacann
geschickt hatte. Orks und Trolle waren über die nördlichen Gebirge
geschickt worden. Mit Ariac hatte Scurr bis zuletzt gewartet, denn
ihn wollte er nicht über Land schicken, am Ende wäre er noch auf
Steppenleute getroffen.
Ariac tauchte sein Ruder mit kräftigen Schlägen in
das dunkle Wasser. Langsam näherten sie sich der Küste.
Endlich war der Zeitpunkt gekommen, an dem er sich
rächen konnte. Endlich konnte er gegen die kämpfen, die sein Volk
getötet hatten. Ariac war voller Hass, sein Schwert gierte nach
Blut.
Am nächsten Morgen ritten Falkann, Rijana, Saliah,
Broderick, Tovion und Rudrinn los. Eine Gruppe von über hundert
Kriegern begleitete sie.Vom Schloss in Balmacann bis zu den
Ausläufern des Donnergebirges dauerte die Reise mehrere Tage.
Falkann und seine Freunde trafen immer wieder auf König Greedeons
Soldaten, die berichteten, dass es Kämpfe in den Bergen gab. Sie
hatten Scurrs Armee noch nicht besiegt. Mit über achtzig Männern
trafen die sechs Freunde an einem regnerischen Sommertag am Rande
der Berge ein. Schon von weitem sahen sie überall Krieger in den
blauweißen Uniformen Balmacanns gegen Orks und Soldaten in roten
Umhängen kämpfen.
»Rijana, du bleibst bei mir! Ich will nicht, dass
dir etwas passiert«, rief Falkann aufgeregt.
Rijana war das nur recht. Ihr Mund war vor
Nervosität völlig trocken. Sie hatte außer einmal auf der Insel
noch nie gegen einen realen Feind gekämpft, und damals war sie noch
sehr klein gewesen und kaum zum Zug gekommen.
»Saliah, Rudrinn, seid ebenfalls vorsichtig! Ihr
habt noch
nicht eure wahren Schwerter und damit auch noch nicht eure vollen
Kräfte«, fuhr Falkann besorgt fort.
»Jawoll, Hauptmann«, versuchte Broderick zu
scherzen, doch selbst bei ihm wirkte das heute nur
halbherzig.
Sie fassten sich an den Händen und nickten sich zu.
Sie würden aufeinander achten, so gut es ging. Dann stürzten sich
alle in die Schlacht. Es gab so viele Kämpfe mit Orks und Soldaten,
dass diese sich über einen ganzen Mond hinzogen.
Alle sechs hielten sich gut, auch die Mädchen
kämpften tapfer gegen die Feinde. Sie waren wahrlich Thondras
Kinder. Alle Krieger, die auf Camasann ausgebildet wurden, waren
exzellente Schwertkämpfer, doch diese sechs jungen Leute
übertrumpften sie bei weitem.
Die Schlacht verlagerte sich auf die Ebenen hinter
den Bergen, die zum Meer führten. Irgendwann trafen auch die
Krieger aus Camasann ein, und die sechs Freunde sahen an einem
Abend in einem provisorischen Lager am Rande der Berge nach langer
Zeit Brogan wieder. Alle waren schmutzig und blutig, aber zumindest
bei guter Gesundheit.
»Wie geht es euch?«, fragte der Zauberer mit seinem
väterlichen Lächeln.
»Gut«, antwortete Falkann, »aber Scurrs Männer sind
schwer zu schlagen. Sie kämpfen hart und ohne Gnade.«
Der Zauberer nickte ernst. »Wir haben noch einmal
vierhundert Mann aufgetrieben. Das wird helfen.«
Plötzlich stand eine hübsche, junge Frau vor ihnen.
Tovion schoss wie vom Blitz getroffen hoch.
»Nelja?«, fragte er ungläubig.
Sie nickte und lächelte schüchtern. Wie Saliah war
sie nun beinahe einundzwanzig Jahre alt, hatte gelockte schwarze
Haare und trug ein dunkles Kleid.
»Nelja wird uns helfen. Sie hat ein großes Talent
zur Zauberei«, erklärte Brogan lächelnd. »Außerdem ist sie eine
gute Heilerin.«
Nelja errötete ein wenig und mied bewusst den Blick
von Tovion, der sie noch immer anstarrte. Brogan redete noch eine
Weile mit den jungen Leuten, bevor sie sich schlafen legten. Der
neue Tag würde wieder erbitterte Kämpfe bringen.
Nur Tovion konnte nicht einschlafen. Irgendwann
erhob er sich und lief ein wenig hinaus in die Felsenlandschaft.
Einer der Wächter nickte ihm zu.
In der Dunkelheit entdeckte er eine Gestalt vor
sich und wollte schon wieder umdrehen, doch da blickte sie ihm
direkt ins Gesicht.
»Warum hast du mir nie geschrieben?«, fragte Nelja
leise. Tovion sah, dass sie geweint hatte.
Mit gerunzelter Stirn kam er näher und stellte sich
neben sie. »Das habe ich, aber du hast nie geantwortet.«
Sie schnaubte verächtlich, doch er holte das
Amulett heraus, das sie damals Rijana mitgegeben hatte. »Ich habe
es immer bei mir.«
Nelja wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und
blickte ihm in die Augen. »Wirklich?«
Tovion nickte und nahm sie zärtlich in den Arm.
»Ich weiß nicht, warum die Briefe nie angekommen sind, aber ich
habe dir geschrieben, ich lüge nicht!«
Nelja war überglücklich. Sie hatte wirklich
befürchtet, Tovion hätte sie vergessen.
Am nächsten Tag tobte eine heftige Schlacht auf
den nahen Ebenen und gleichzeitig in den Bergen. Auch Scurrs
Truppen hatten Verstärkung bekommen. Scurr selbst blieb allerdings
im Hintergrund und beobachtete zufrieden, wie Ariac die Krieger aus
Camasann niedermetzelte. Kaum jemand kämpfte so wild und brutal wie
er.
Am Ende dieses Tages trafen sich die Freunde
erneut im Lager. Rudrinn hatte sich beim Kampf mit einem Ork den
Arm
gebrochen und sollte am nächsten Morgen zurück ins Schloss
geschickt werden, was ihm gar nicht gefiel. Auch die anderen hatten
einige kleine Verletzungen, doch Nelja und Brogan hatten diese gut
behandeln können. Doch dann übermittelte einer der Soldaten dem
Zauberer schlechte Nachrichten. Brogan ging mit besorgtem Gesicht
auf Saliah zu, nahm sie beiseite und redete mit ihr. Dann hörte man
Saliah aufschreien und sah sie wegrennen.
Brogan kam zurück und fuhr sich übers Gesicht.
»Endor ist getötet worden«, erklärte er.
»Oh, nein«, flüsterte Rijana entsetzt, und auch die
anderen machten betretene Gesichter.
Gemeinsam mit Brogan liefen sie hinab auf die
Ebenen, nahmen ihre Pferde und ritten zum Meeresufer, wo Saliah mit
tränenverschmiertem Gesicht neben einem Boot kniete, in dem Endor
und einige weitere Krieger lagen. Rijana nahm die Freundin in den
Arm, und Saliah weinte an ihrer Schulter.
Kurz darauf sprach Brogan den Segen, der die Seelen
der toten Krieger in Thondras Hallen bringen sollte, und mehrere
Boote wurden ins Meer geschoben. Kurz darauf erleuchteten
Brandpfeile den Himmel. Hell loderte das Feuer in der beginnenden
Nacht auf, bevor die Boote irgendwann untergingen und
verloschen.
Rijana hätte ihre Freundin so gerne getröstet, aber
Saliah starrte nur stumm aufs Meer und sagte überhaupt nichts mehr.
Brogan nahm sie schließlich und führte sie fort.
»Ich werde sie mit Rudrinn aufs Schloss nehmen«,
verkündete er ernst, als er zurückkam.
Die anderen nickten, und Rijana war froh, als
Falkann sie in dieser Nacht im Arm hielt. Sie stellte sich vor, wie
sie sich an Saliahs Stelle fühlen würde, und schauderte. Es war ein
trauriger Abschied am nächsten Tag. Saliah hatte dunkle Ringe unter
den Augen, wahrscheinlich hatte sie die ganze Nacht nicht
geschlafen. Brogan begleitete sie und Rudrinn
zurück zum Schloss. Die anderen kämpften auf den Ebenen gegen
Scurrs Soldaten, doch nach und nach verlagerten sich die Kämpfe von
den Bergen immer weiter ins Landesinnere.
An einem Tag wurde es besonders schlimm. Immer
wieder wurden die Verteidiger von Scurrs Soldaten aufgerieben. Die
Kämpfe tobten die ganze Nacht hindurch, und irgendwann wurden die
Freunde getrennt.
Im Morgengrauen, Rijana war langsam, aber sicher am
Ende ihrer Kräfte, wurde sie von einem der Soldaten mit den roten
Umhängen vom Pferd geworfen. Er hatte sie mit dem Stiel seiner
langen Lanze am Kopf getroffen. Rijana rappelte sich gerade wieder
auf, als der Soldat mit teuflischem Grinsen über ihr stand und mit
seinem Schwert nach ihr stach. Sie rollte geschickt zur Seite, doch
er erwischte sie noch am Oberschenkel, und sie schrie auf.
Ariac war ebenfalls in die Berge gelaufen. Er war
wie im Blutrausch und tötete einen Krieger nach dem anderen. Mit
jedem, den er umgebracht hatte, glaubte er, sein Volk ein wenig
mehr gerächt zu haben. Er kämpfte unermüdlich weiter, bis er aus
dem Augenwinkel heraus einen von Scurrs älteren Soldaten sah, der
mit einer Frau kämpfte. Kurz flackerte in Ariac so etwas wie
Widerwillen auf, doch dann riss er sich zusammen. Auch das war eine
Feindin, eine von Greedeons Kriegern. Aber bevor der Soldat zu
seinem letzten Schlag ausholen konnte, ließ Ariac etwas einhalten.
Er wusste nicht, was es war. Merkwürdige und zugleich vertraute
Szenen flammten vor seinem inneren Auge auf. Er sah den
Teufelszahn, den spitzen Berg in Ursann, vor sich. Eine fremde
Schlacht und Orks, die aus den Bergen strömten. Er wusste selbst
nicht warum, aber plötzlich kam ein verzweifeltes »Neeeeinnn!« über
seine Lippen, und er stieß den Soldaten zur Seite, der das Mädchen
gerade aufspießen wollte.
Ariac war nun wieder im Hier und Jetzt. Er wusste
nicht,
was mit ihm los gewesen war. Das hier war seine Feindin, eine von
denen, die seine Familie ermordet hatten. Er musste sie töten.
Schon hob er sein Schwert zum tödlichen Stoß. Das Mädchen drehte
den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Doch nun erstarrte Ariac,
und kurz bevor seine Klinge in die weiche Haut der jungen Frau
eindrang, hielt er inne. Unter dem aufgerissenen Hemd guckte eine
Kette hervor, an der eine Pfeilspitze hing.
»Rijana«, flüsterte Ariac fassungslos und erstarrte
wie vom Donner gerührt.
Rijana konnte es nicht fassen. Noch eben hatte sie
geglaubt, gleich in die Hallen Thondras einziehen zu müssen, und
jetzt stand dieser fremde junge Mann vor ihr. Normalerweise hätte
sie ihn nicht wiedererkannt, denn Ariac hatte inzwischen kurze
Haare, und er war ein erwachsener Mann. Nichts erinnerte mehr an
den sehnigen Jungen. Doch die Tätowierungen an den Schläfen hätte
sie jederzeit erkannt.
»Ariac?«, fragte sie ungläubig.
Doch er konnte nicht antworten, denn der Soldat in
dem roten Umhang, der sich inzwischen aufgerappelt hatte, stand
wutschnaubend hinter ihm.
»Was soll das?«, fragte er wütend. »Sie ist eine
Feindin. Wir müssen sie erledigen.«
»Nein«, sagte Ariac entschieden und stellte sich
vor Rijana, die langsam wieder auf die Füße kam und sich an einem
Felsen festhielt.
»Wir müssen alle töten«, rief der Soldat geifernd.
»König Scurr hat es befohlen.«
»Nein«, erwiderte Ariac ganz ruhig. Er wusste, dass
er das nicht zulassen konnte. Sosehr er Greedeons Krieger hasste,
Rijana würde er beschützen. Kurz wurde er wieder zu dem Jungen mit
den hohen Moralvorstellungen, der er einmal gewesen war.
Der Soldat ging auf Ariac los, doch der rammte ihm
das Schwert in die Brust, ohne großartig darüber
nachzudenken.
Rijana stand sprachlos an den Felsen gedrückt und
wusste gar nicht, was sie denken sollte. Ariac kam zu ihr, und sie
wich einen Schritt zurück.
»Kannst du laufen?«, fragte er. »Weißt du, wo deine
Leute sich sammeln?«
Rijana nickte mechanisch.
»Dann geh«, sagte Ariac gehetzt, »von Osten nähern
sich noch mehr von unseren Soldaten und auch Orks. Du musst dich
beeilen!«
Erneut nickte Rijana, konnte jedoch den Blick nicht
von dem jungen Mann abwenden, der vor ihr stand. Sie hätte niemals
geglaubt, ihn eines Tages doch noch wiederzusehen.
»Rijana, jetzt lauf schon!«, rief Ariac
verzweifelt, denn schon strömten neue Soldaten in roten Umhängen
zwischen den Felsen hervor.
Sie warf ihm noch einen verwirrten Blick zu, dann
lief sie los. Allerdings war ihr so schwindlig, da sie die Lanze am
Kopf getroffen hatte, dass sie sich nach nur wenigen Schritten an
einem Baum festhalten musste. Auch ihr Bein war verletzt und
blutete ziemlich stark.
Ariac fluchte. Er war hin- und hergerissen. Hinter
sich sah er seine eigenen Leute anrücken. Genau wie sie musste er
weiter gegen Greedeons Krieger kämpfen. Auf der anderen Seite
konnte er Rijana doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Er
hatte sich einst geschworen, sie zu beschützen. Ariac warf noch
einen Blick hinter sich, dann rannte er zu Rijana und packte sie am
Arm.
»Komm, ich bringe dich zu deinen Leuten.«
Sie blickte überrascht auf und stützte sich auf
Ariac, während sie schwerfällig versuchte, einen Schritt vor den
anderen
zu setzen. Ariac sah sich immer wieder um, denn die Soldaten in
den roten Umhängen waren nicht mehr weit weg. Er fluchte leise und
führte Rijana hinter einen Felsen. Sie sah inzwischen sehr blass
aus, und ihr Hosenbein war blutdurchtränkt.
»Warte hier«, sagte er ernst.
Rijana nickte und sah, wie er sich hinter einem
Felsen versteckte, einen Soldaten von König Scurr von hinten
ansprang und von seinem Pferd riss. Dann schlug er ihn bewusstlos,
schnappte sich das Pferd und half Rijana hinauf. Er setzte sich
hinter sie und galoppierte mit dem Pferd den Berg hinab.
»Warum hilfst du mir?«, fragte sie, kurz bevor sie
das Bewusstsein verlor.
»Weil ich es versprochen habe«, antwortete er, doch
das hörte sie bereits nicht mehr.
Ariac galoppierte in halsbrecherischem Tempo den
Berg hinunter. Er musste möglichst viel Abstand zu Scurrs Kriegern
bekommen. Rijana hing bewusstlos in seinen Armen, und er machte
sich Gedanken wegen ihres Beins, denn es blutete noch immer stark.
Schließlich hielt er hinter einer Gruppe Felsen an, hob sie vom
Pferd und riss seinen Umhang in Streifen. Er verband ihr Bein so
fest er konnte und gab ihr etwas aus seinem Wasserbeutel zu
trinken.
»Wach bitte auf«, sagte er leise und schüttelte sie
an der Schulter.
Nach einer Weile hob sie mühsam die Augenlider und
blickte ihn einen Moment lang erschrocken an.
»Wo sind deine Leute?«, fragte er
eindringlich.
Sie setzte sich ein wenig auf und murmelte: »Das
darf ich dir nicht sagen.«
Ariac seufzte. »Das ist mir schon klar, aber wie
soll ich dich denn sonst zu ihnen bringen?«
Sie hob die Schultern. »Wirst du uns verraten?«,
fragte sie ängstlich.
Ariac schloss kurz die Augen. Er war hin- und
hergerissen und kämpfte mit sich selbst. Was sollte er nur
tun?
»Ich muss gegen König Greedeons Soldaten kämpfen,
aber ich verspreche, euer Versteck nicht zu verraten.«
Auch Rijana war völlig durcheinander, zudem war ihr
schwindlig, und sie konnte nicht klar denken. Schließlich nickte
sie und beschrieb Ariac die Stelle hinter der Bergkette, wo sich
alle sammeln sollten.
Ariac hob sie hoch und trug sie zurück zu dem
Pferd. Sie galoppierten bis zur Mittagszeit, und endlich entdeckte
er in der Nähe eines kleinen Flusses einige Männer in blauweißen
Kleidern. Hass flammte in ihm auf, aber er würde sein Wort
halten.
Er galoppierte auf das Lager zu, und da er den
roten Umhang abgenommen hatte, wurde er zunächst nicht als Feind
erkannt. Doch dann kam ein Soldat und rief erschrocken: »Das ist
einer von Scurrs Männern!«
Sofort wurde er von fünfzehn Kriegern umzingelt.
Ariac hob eine Hand, mit der anderen hielt er Rijana fest, die halb
bewusstlos in seinen Armen hing.
»Ich bringe euch nur das Mädchen, ich tue euch
nichts.«
Tovion, der im Lager gewesen war, kam
herbeigerannt. Mit wütendem Blick zog er Rijana vom Pferd.
»Ergreift ihn!«, rief er den anderen zu, die Ariac
vom Pferd rissen.
»Nein, nicht, tut ihm nichts«, rief Rijana
verzweifelt und zappelte, um freizukommen. »Er ist mein Freund, er
hat mir geholfen.« Mehr konnte sie nicht sagen, bevor sie das
Bewusstsein verlor und zu Boden fiel.
Tovion fing sie auf. »Ganz ruhig, Rijana, alles ist
gut«, sagte er beruhigend und trug sie rasch fort.
Ariac versuchte sich zu wehren, aber gegen die
Übermacht
der blauweißen Krieger hatte er keine Chance. »Lasst mich, ich
werde euch nicht verraten«, rief er immer wieder.
Doch schließlich traf ihn ein Schwertknauf am Kopf,
und alles um ihn wurde schwarz.
Falkann war schon halb verrückt vor Angst. Während
der Nacht war er von Rijana getrennt worden und konnte sie einfach
nicht mehr finden. Als es erneut dunkel wurde, galoppierte er zum
Lager zurück. Broderick kam ihm entgegen und fasste ihn beruhigend
am Arm.
»Sie ist auf dem Weg zurück zum Schloss, keine
Angst.«
»Was ist mit ihr?«, rief Falkann beunruhigt.
»Sie ist verletzt, aber sie wird das schon
überleben«, versicherte Broderick.
Falkann ließ sich jedoch nicht aufhalten und
galoppierte noch in der Nacht dem Wagen hinterher, der die
Verletzten abtransportierte. Die Kämpfe gegen König Scurrs Armee
gingen noch einige Tage weiter, und langsam, aber sicher wurde der
Feind zurückgedrängt.
Zwei Tage nachdem Rijana ins Schloss gebracht
worden war, wachte sie auf. Die Heiler hatten ihr ganzes Können
einsetzen müssen, denn Rijana hatte eine Menge Blut verloren. Auch
jetzt fühlte sie sich noch ziemlich schwach, hob mühsam die
Augenlider und murmelte: »Ariac?«
Sie konnte nur ganz verschwommen eine Gestalt an
ihrem Bett sitzen sehen.
Falkann zog verwirrt die Augen zusammen und gab ihr
etwas von dem Kräutertrank, den Nelja hiergelassen hatte.
»Wie bitte?«
Rijana versuchte sich ein wenig aufzurichten, doch
Falkann drückte sie zurück in die Kissen. »Nicht, bleib liegen, du
musst dich ausruhen.«
Sie wollte noch etwas sagen, aber dann schlief sie
wieder ein,
und Falkann lehnte sich seufzend zurück. Beinahe zwei Nächte hatte
er jetzt nicht geschlafen, um an ihrem Bett wachen zu können. Er
machte sich wirklich große Sorgen um sie.
Am Nachmittag kehrte auch Broderick ins Schloss
zurück. Die Schlacht hatte auch an ihm Spuren hinterlassen. Der
Dreck klebte an ihm, und seine Kleidung war zerrissen. Leise trat
er ins Zimmer.
»Na, wie geht’s ihr?«
»Besser«, sagte Falkann und deutete ein Lächeln an.
»Vorhin war sie kurz wach.«
Broderick nickte und ließ sich müde auf einen Stuhl
fallen. »Endlich sind Scurrs Ratten in ihre Löcher
zurückgekehrt.«
Falkann war froh, dass es vorbei war, aber Scurr
war nicht vernichtend geschlagen, nur ein wenig zurückgedrängt, und
er würde wieder angreifen.
»Ist Tovion in Ordnung?«
Broderick nickte und nahm sich einen Apfel vom
Tisch.
»Er ist bei Nelja«, sagte er grinsend. »Wie ich
gesehen habe, ist auch Rudrinn wieder auf den Beinen.«
Falkann nickte. »Er flucht nur die ganze Zeit, weil
er seinen Arm nicht richtig benutzen kann.«
Broderick lachte, doch dann wurde er ernst. »Habt
ihr etwas aus diesem Kerl rausbekommen, der Rijana hierher gebracht
hat?«
Falkann schüttelte den Kopf. Der Steppenkrieger,
der offensichtlich zu Scurrs Armee zählte, hatte beharrlich
geschwiegen, selbst als er ausgepeitscht worden war.
»Er hatte dieses Schwert«, sagte Falkann zögernd.
»Ich weiß nicht, was das soll.«
»Wieder so ein Verräter«, fluchte Broderick
abfällig, und in diesem Moment erwachte Rijana.
Sie lächelte die beiden schwach an und stützte sich
auf die Unterarme, dann erinnerte sie sich an etwas und fragte
bestimmt: »Wo ist Ariac?«
»Wer?«, fragte Falkann verwirrt. Jetzt erwähnte sie
schon wieder den fremden Namen.
»Ariac«, wiederholte sie, »der junge
Steppenkrieger, der mich zu euch gebracht hat.«
Broderick beugte sich überrascht nach vorn. »Na,
der ist natürlich im Kerker.«
Empört fuhr Rijana auf und wohl auch etwas zu
schnell, denn alles begann sich um sie zu drehen.
»Er hat mich gerettet, verdammt«, sagte sie mühsam
und hielt sich am Bett fest. »Er ist mein Freund.«
Falkann packte sie am Arm. »Was redest du denn da?
Er ist einer von Scurrs Soldaten – er ist unser Feind.«
Rijana schüttelte entschieden den Kopf. »Nein,
Brogan hat ihn mit mir zusammen nach Camasann bringen wollen, als
wir klein waren. Dann wurden wir von Scurrs Männern überfallen.
Ariac hat mir geholfen zu entkommen.«
»Das ist lange her, Rijana, jetzt ist er unser
Feind«, erklärte Broderick ruhig.
Doch Rijana versuchte aufzustehen. »Ich will, dass
er sofort aus dem Kerker geholt und hierhergebracht wird«,
verlangte sie.
»Jetzt sei doch vernünftig«, rief Falkann und hielt
sie fest, aber sie schlug wild um sich. Dann wurde sie jedoch blass
und musste sich wieder hinsetzen.
»Gut, ich werde mit König Greedeon reden«,
versprach Falkann, damit sie sich beruhigte, und Rijana nickte
erleichtert.
Sie war auf einmal wieder todmüde und legte sich
hin.
Als sie wieder schlief, ging Falkann mit Broderick
zusammen hinaus.
»Kannst du mir mal sagen, was das soll?«, fragte er
ungehalten. »Tovion hat schon so was erzählt, aber er dachte,
Rijana hätte Fieber und würde fantasieren.«
Broderick schüttelte den Kopf. »Wir sollten Brogan
fragen.«
Falkann nickte, und die beiden machten sich zu dem
Zauberer auf, der so lange hier auf dem Schloss in Balmacann
bleiben wollte, bis es Rijana wieder gut ging. Die beiden fanden
ihn im Park auf einem Stein sitzend. Der Zauberer sah sehr
nachdenklich aus.
»Falkann, Broderick, schön euch zu sehen«, sagte er
lächelnd. »Wie geht es unserer Kleinen?«
»Sie war wach«, sagte Falkann mit gerunzelter
Stirn. Anschließend erzählten er und Broderick abwechselnd, was
Rijana gesagt hatte.
Brogan nickte bedächtig. »Sie hat die Wahrheit
gesagt. Ich habe sie und Ariac vor über neun Jahren gefunden.« Sein
Blick wurde traurig. »Ariac war ein guter Junge, aber Scurrs Männer
haben ihn gefangen.«
»Dann ist er jetzt einer von ihnen«, murmelte
Broderick, und der Zauberer stimmte ihm zu.
»Aber Rijana will das anscheinend nicht wahrhaben«,
sagte Falkann wütend. Er war außerdem eifersüchtig, weil sie Ariacs
Namen beim Aufwachen zuerst genannt hatte.
»Es ist merkwürdig«, meinte Brogan. »Ich weiß
nicht, warum er sie gerettet hat. In Scurrs Ausbildung wird so
etwas wie Mitleid oder Gnade nicht gelehrt, auch gegenüber einem
Mädchen nicht.«
»Es ist sicher wieder eine Falle«, knurrte
Broderick wütend. »So wie damals bei Lugan.« Er spuckte angewidert
auf den Boden.
»Das befürchte ich ebenfalls«, seufzte der
Zauberer. Auch er hatte Ariac befragt, aber der hatte keinen Ton
über seine Lippen kommen lassen.
Brogan ging zu Rijana hinauf und betrachtete das
schlafende Mädchen. Sie hatte eine dicke Beule auf der Stirn, aber
ansonsten ging es ihr zum Glück wieder besser. Er wartete, bis sie
aufwachte, dann lächelte er sie an.
»Wie fühlst du dich?«
Sie ging nicht darauf ein, sondern setzte sich im
Bett auf und fragte nach Ariac
Brogan seufzte und nahm ihre Hand, woraufhin Rijana
die Stirn runzelte.
»Wir können Ariac leider nicht aus dem Kerker
entlassen.«
»Er hat mich gerettet«, rief sie empört und wollte
aufstehen, allerdings war sie noch zu schwach.
Brogan blickte ihr eindringlich in die Augen. »Ich
weiß, dass ihr damals für kurze Zeit Freunde wart, aber er ist
wahrscheinlich einer von Scurrs Spitzeln. So wie damals
Lugan.«
Rijana schnaubte und wandte den Blick ab. So etwas
wollte sie nicht hören.
»Ich will ihn sehen«, verlangte sie.
Brogan seufzte. »Das wird König Greedeon nicht
erlauben.«
»Dann sag deinem König, dass ich nie wieder für ihn
kämpfen werde, wenn er Ariac nicht sofort freilässt«, rief sie
wütend.
»Kind, jetzt sei doch vernünftig«, bat der
Zauberer.
Aber Rijana stand schließlich auf und humpelte, nur
in ein Nachtgewand gekleidet, zur Tür. »Dann hole ich ihn eben
selbst raus«, verkündete sie, obwohl sie ein wenig bleich im
Gesicht wirkte.
Plötzlich stand sie vor König Greedeon, der wohl
gerade zu ihr kommen wollte. Der blickte sie verwundert an, und
Rijana wurde wegen ihrer spärlichen Kleidung ein wenig
verlegen.
»Na, dir scheint es ja besser zu gehen«, sagte er
lächelnd.
»Lasst den Gefangenen frei! Ich will ihn sehen!«,
verlangte sie bestimmt. Normalerweise war Rijana nicht so
selbstbewusst, aber jetzt musste sie es sein, das spürte sie.
»Aber, aber er ist einer von …«, begann der König,
doch Rijana unterbrach ihn unwirsch.
»Verflucht, er hat mich gerettet. Einer der
Blutroten Schatten wollte mich aufspießen.«
Der König blickte das Mädchen verwirrt an. So
aufgebracht hatte er sie noch nie gesehen.
»Bitte«, bat sie ihn mit großen Augen, »ich möchte
ihn nur kurz sprechen. Ihr könnt ihn ja bewachen lassen.«
»Ähm, na ja«, stammelte der König, aber schließlich
nickte er. »Gut, ich werde ihn später zu dir schicken.«
Rijana nickte erleichtert und ging wieder zu ihrem
Bett zurück.
Am Abend wurde Ariac schwer bewacht zusammen mit
Rudrinn und Falkann in Rijanas Zimmer gebracht. Zunächst setzte sie
sich freudig auf, aber dann sah sie, dass er gefesselt war und noch
immer die schmutzigen, blutverschmierten Kleider trug, mit denen er
hergebracht worden war. Sein Gesicht war zornig und verschlossen.
Nur als er Rijana ansah, wurde es ein wenig weicher, und der Anflug
eines Lächelns erschien darauf, wie Brogan, der ebenfalls gekommen
war, bemerkte.
»Lasst ihn los und macht die Fesseln ab«, verlangte
Rijana ungehalten.
Die beiden Soldaten, die ihn am Arm festhielten,
schüttelten entschieden den Kopf. »Wir haben Anweisungen von König
Greedeon, dass er bewacht werden muss.«
»Ich hatte auch nichts anderes von ihm erwartet«,
erwiderte Ariac verächtlich und bekam postwendend einen Stoß in den
Rücken.
»Lasst ihn!«, rief Rijana zornig. »Er hat mich
schließlich zu unserem Lager gebracht.«
Falkann schien beinahe zu explodieren, wohingegen
Rudrinn Ariac merkwürdig musterte.
»Warum hast du sie gerettet?«, fragte Brogan
ernst.
Ariac drehte sich zu ihm um. Er konnte sich an den
Zauberer erinnern, der ihn von seinem Clan fortgeholt hatte.
»Weil ich es versprochen habe«, sagte er überzeugt
und blickte auf Rijana hinab, die zufrieden nickte. »Ich halte
meine Versprechen.«
»Und welches Versprechen hast du König Scurr
gegeben?«, fragte Falkann grimmig. »Dass du uns alle
umbringst?«
Ariac fuhr wild herum, und die Soldaten hielten ihn
mit aller Gewalt fest.
»Ja, ich habe eure Leute umgebracht, und ich werde
es weiterhin tun, aber das hat nichts mit König Scurr zu
tun.«
Falkann trat vor ihn und blickte ihm zornig in die
Augen. »Ach ja, und was ist das für eine verfluchte Lüge? Du
wolltest dich doch nur hier einschleichen.«
»Wollte ich nicht«, schrie Ariac. »Ich wollte nur
Rijana retten. Mit euch verdammten Mördern will ich nichts zu tun
haben.«
»Wir sind die Mörder?«, schrie Falkann zurück, und
die beiden funkelten sich derart zornig an, dass man meinte, Blitze
zwischen ihnen zucken zu sehen.
»Hört auf!«, unterbrach Brogan die beiden, und die
Soldaten schleppten den tobenden Ariac nach draußen.
Rijana saß voller Enttäuschung in ihrem Bett,
während Falkann noch immer vor Zorn bebte. Dann ging er jedoch zu
ihr und wollte sie in den Arm nehmen. Aber Rijana wich
zurück.
»Er hat mich gerettet«, wiederholte sie mit Tränen
in den Augen.
Falkann fuhr sich über die Augen und nahm ihre
Hand. »Das ist richtig, aber das war doch nur, damit er zu uns
gelangt.«
Rijana schüttelte entschieden den Kopf.
»Rijana, sei doch vernünftig«, verlangte er ernst.
»Er gibt
sich doch nur als einer von uns aus, weil er uns ausspionieren
will.«
»Wieso, einer von uns?«, fragte sie verwirrt.
»Er hatte eines der sieben Schwerter bei sich«,
erklärte Rudrinn nachdenklich.
Rijana fuhr auf. »Ariac ist einer von uns?«
»Nein, ist er nicht«, brauste Falkann auf. »Er ist
genau so eine verfluchte Ratte, wie Lugan es war.«
Rijana starrte ihn zornig an, doch Brogan trat zu
ihnen.
»Er hat nie behauptet, einer der Sieben zu sein.
Aber es ist richtig, dass er das Schwert bei sich trägt.«
Falkann machte ein verächtliches Geräusch, und
Rijana schaute ihn schon wieder zornig an.
»Ariac ist mein Freund. Er hat versprochen, mich zu
beschützen, und das hat er auch getan«, sagte sie fest.
»Verdammt noch mal, Rijana«, rief Falkann wütend
und sprang auf. »Das ist eine Falle, siehst du das denn nicht? Er
hat sich wahrscheinlich an dich rangeschlichen und so lange
gewartet, bis er dich retten konnte.«
»Und woher hätte er bitte wissen sollen, dass ich
eine der Sieben bin?«, schrie sie zurück und lief ziemlich rot
an.
»Das ist ja wohl keine Kunst. Wie viele Frauen
kämpfen denn normalerweise in einer Schlacht mit?«, erwiderte
Falkann verächtlich.
Rijana verschränkte die Arme und wandte sich ab.
Sie wollte nichts mehr hören.
Falkann wollte noch etwas sagen, doch dann machte
er eine wütende Handbewegung und stürmte aus dem Raum. Rudrinn sah
ein wenig unentschlossen aus, aber Brogan machte ihm schließlich
ein Zeichen, dass er gehen sollte. Der Zauberer setzte sich zu
Rijana aufs Bett und legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Komm, beruhige dich«, sagte er ruhig. Brogan
wunderte sich ein wenig über das Mädchen, denn normalerweise war
Rijana eher ruhig und schüchtern, doch heute hatte sich die
Kämpfernatur in ihr gezeigt.
Rijana machte noch immer ein verbissenes Gesicht
und knirschte mit den Zähnen.
»Falkann versteht mich einfach nicht«, sagte sie
wütend. »Ariac meint es ehrlich, er ist kein schlechter
Mensch.«
Brogan seufzte. »Das würde ich zu gerne glauben,
mein Kind. Aber niemand, der bei Scurr in der Ausbildung war, ist
noch bei klarem Verstand oder ein guter Mensch.« Er seufzte. »Das
haben wir bei Lugan erst zu spät erkannt.«
Rijanas Augen füllten sich mit Tränen. »Aber Ariac
ist anders, das spüre ich.«
Brogan nahm sie in den Arm und streichelte über
ihren Kopf. »Das wäre schön, aber ich glaube, das kann nicht sein«,
flüsterte er.
Am Abend saßen Falkann, Rudrinn, Tovion, Broderick
und Saliah, die allerdings die ganze letzte Zeit nur traurig vor
sich hin starrte, in der großen Bibliothek vor dem Feuer.
»Ich weiß nicht, was mit Rijana los ist«, schimpfte
Falkann, »sie ist doch sonst nicht so unvernünftig.«
»Er war eben damals ihr Freund«, meinte Rudrinn
nachdenklich. Sosehr es ihn störte, aber irgendwie konnte er den
fremden Krieger nicht hassen. Falkann jedoch war voller Wut und
platzte beinahe vor Eifersucht.
»Wir sollten mit ihm reden«, schlug Tovion vor, der
wie immer der Besonnenste von allen war.
Die anderen stimmten zögernd zu und machten sich
durch das Schloss zu den Kerkern auf und verlangten, den Gefangenen
zu sehen. Die Wachen ließen sie schließlich durch, und auf halbem
Weg durch die düsteren und feuchten Gänge kam ihnen Brogan
entgegen, der ziemlich überrascht wirkte.
»Was macht ihr denn hier?«
»Wir wollen mit dem Verräter reden«, sagte Falkann
wütend.
Brogan nickte ernst. »Das habe ich ebenfalls
versucht, aber er schweigt.«
»Dann werde ich es aus ihm herausprügeln«,
versprach Falkann und runzelte die Stirn.
Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Das haben schon
König Greedeons Leute versucht, obwohl das überhaupt nicht meine
Zustimmung findet«, sagte er und blickte die jungen Leute einen
nach dem anderen ernst an, woraufhin sie verlegen zu Boden
blickten. »Er sagt nichts, und soweit ich weiß, sind Scurrs
Soldaten auch Folter gewöhnt.«
Falkann spuckte auf den Boden.
Saliah, die schon seit Tagen aus Trauer um ihren
Geliebten nichts mehr gesagt hatte, blickte plötzlich auf das
silberne Schwert mit den Runen, das Brogan in der Hand hatte, und
nahm es ihm ab.
»Es gehört mir«, sagte sie leise.
Brogan hob überrascht die Augenbrauen, nur Falkann
legte schon wieder los. »Da seht ihr, dass er keiner von uns ist!
Das Schwert hat nicht ihm gehört.«
»Das hat nichts zu sagen«, widersprach Brogan
nachdenklich. »Wir hatten nur drei Schwerter bei uns, zwei hatte
Scurr, und zwei sind schon seit der letzten Schlacht der Sieben
verloren.« Er streichelte Saliah väterlich über das schmal
gewordene Gesicht. »Behalte es, Saliah.«
Sie nickte, und Tränen traten in ihre hübschen
Augen.
Rudrinn, der ihr am nächsten stand, nahm sie
unsicher in den Arm, und sie weinte leise an seiner Schulter. Nach
einer Weile gingen die vier Freunde weiter und traten vor die
bewachte Zelle im Kerker, in der Ariac saß. Er blickte nicht einmal
auf, als er Schritte hörte.
»Wir möchten mit dir reden«, begann
Broderick.
Ariac schnaubte verächtlich und blickte stur auf
die Wand.
»Was hast du vor, verdammt?«, knurrte Falkann so verärgert, dass
Broderick seinen Freund zurückhalten musste.
Aber Ariac antwortete nicht.
»Wir sind alle froh, dass du Rijana gerettet hast«,
sagte Tovion ruhig. »Aber dir musste doch klar sein, dass du
gefangen wirst.«
Ariac seufzte und fuhr sich übers Gesicht, er
wollte mit niemandem reden.
»Lass ihn«, sagte Falkann abfällig. »Er ist eine
verfluchte Ratte, die Scurr dient. Er hat keinen Funken Ehre im
Blut.«
Nun fuhr Ariac auf und sprang mit wildem Blick an
die Gitter. »Erzähl du mir nichts von Ehre! Ihr und euer sauberer
König habt ein friedliches Volk ausgerottet, das niemals jemandem
etwas getan hat.« Ariac spie die Worte mit so viel Hass aus, dass
die anderen vor Schreck etwas zurückwichen. »Was redest du denn
da?«, fragte Rudrinn verwirrt.
Doch Ariac saß bereits wieder in der hintersten
Ecke und war verstummt.
Die vier Freunde gaben schließlich auf und kehrten
zurück. Sie wurden aus dem Steppenkrieger, der offensichtlich König
Scurr diente, einfach nicht schlau.
König Scurr war währenddessen bereits wieder
zurück auf seinem Schloss. Allerdings war er mehr als aufgebracht
darüber, dass Ariac verschwunden war. Sein wertvollster Besitz war
fort, und er wusste nicht, ob der Junge nun tot, gefangen oder
schlicht und einfach desertiert war. Auch Worran tobte vor Wut.
Scurr hoffte nur, dass genug Hass in dem Jungen war, um sich nicht
von den anderen überzeugen zu lassen, falls er denn wirklich in
Gefangenschaft war. Vorsichtshalber ließ er seine Männer nach ihm
suchen und beauftragte weitere Soldaten in der Verkleidung von
König Greedeons Männern so viele Steppenleute zu töten, wie sie
finden konnten. Allerdings waren die Clans der Steppe sehr schwer
aufzuspüren.
Rijana hatte sich furchtbar mit Falkann
verstritten, und auch die anderen fanden es immer schwieriger, mit
ihr zu reden. Man hatte Ariac nicht mehr zu ihr gelassen, da er
nicht kooperierte und beharrlich schwieg. Rijana ging es so weit
wieder gut, obwohl ihr Bein noch ein wenig schmerzte, aber immerhin
konnte sie wieder aufstehen. So schlich sie sich eines Nachts mit
Essen und Kleidern beladen in die Kerker hinunter. Ein Wachmann
wollte sie aufhalten, doch Rijana behauptete einfach, König
Greedeon selbst hätte es ihr erlaubt. So wurde sie schließlich
vorgelassen, denn niemand traute sich, den König mitten in der
Nacht zu stören.
Ariac lag mit offenen Augen im Stroh und starrte an
die Decke. Als er Rijana erkannte, setzte er sich überrascht auf.
Sie machte den Wachen ein ungeduldiges Zeichen, dass sie ein wenig
wegtreten sollten, und schob Kleider und Essen durch die
Gitterstäbe. Dann kniete sie sich vor die Zelle.
Ariac kam langsam näher, wobei er von weitem
misstrauisch von den Wachen beobachtet wurde.
»Wie geht es dir?«, fragte Rijana.
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Und du? Bist du
wieder gesund?« Als sie nickte, sagte er erleichtert: »Das freut
mich.«
»Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.« Rijana
deutete auf das Brot und den kalten Braten.
»Danke«, meinte er und verzog den Mund zu einem
traurigen Grinsen. »Aber das Essen für die Gefangenen hier ist
ohnehin besser als das, was ich in Naravaack oft bekommen
habe.«
Rijana biss sich auf die Lippe. »Ich weiß, dass du
kein Verräter bist. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich die anderen
davon überzeugen soll.«
»Und woher weißt du das?«, fragte er.
Sie blickte ihm tief in die Augen, und er fühlte
plötzlich etwas ganz Besonderes.
»Ich weiß es eben«, antwortete sie.
Ariac fuhr sich über die Augen. »Ich weiß nicht,
wie ich es sagen soll. Natürlich habe ich dich gerettet, aber ich
werde weiter gegen deine Leute kämpfen müssen.«
Sie riss die Augen weit auf. »Aber warum? Ariac,
bist du einer von uns? Bist du einer der Sieben?«
Er senkte den Blick und nickte schließlich. »Ich
bin einer der Sieben, aber ich kann niemals einer von euch
sein.«
»Warum denn nicht?«, fragte sie verzweifelt und
nahm seine Hand.
»Weil ihr König Greedeon dient und der …«,
antwortete er, doch da hörte man ein Poltern auf der Treppe, und
mehrere Soldaten erschienen. Einer packte Rijana am Arm und zog sie
hoch.
»Ihr hattet nicht die Erlaubnis, zu dem Gefangenen
zu gehen«, sagte er streng und zog die widerstrebende Rijana mit
sich.
Er brachte sie in das Arbeitszimmer des Königs, der
mit einem edlen Morgenmantel bekleidet wütend auf und ab
lief.
»Was fällt dir ein, dich meinen Wünschen zu
widersetzen?«, fragte er zornig.
Rijana richtete sich jedoch auf und verschränkte
die Arme vor der Brust.
»Ihr widersetzt Euch ja auch meinen
Wünschen.«
Der König schnappte nach Luft. »So lasse ich nicht
mit mir reden! Du gehörst mir, und du wohnst in meinem Schloss,
also hast du auch nach meinen Wünschen zu handeln.«
Rijana schnaubte empört. »Ich gehöre niemandem
außer mir selbst.«
Der König wurde rot vor Zorn, doch Rijana änderte
plötzlich ihre Strategie.
»König Greedeon, ich will Euch doch keinen Schaden
zufügen«, sagte sie schmeichelnd und blickte ihn mit ihren großen
dunkelblauen Augen an.
Der König runzelte die Stirn, beruhigte sich aber
sichtlich.
»Ariac ist einer von uns, er ist der Letzte der
Sieben«, sagte sie.
»Woher weißt du das?« Der König machte ein
ungläubiges Gesicht. »Er hatte zwar dieses Schwert bei sich, aber
das heißt ja noch nichts. Er hat es nicht einmal zugegeben.«
»Mir gegenüber schon«, sagte sie lächelnd, und der
König hob überrascht die Augenbrauen. Er fing wieder an, im Zimmer
auf und ab zu laufen.
»Es gab schon einmal einen Verräter«, sagte er
ernst. »Man kann ihm nicht trauen.«
Rijana seufzte und verdrehte hinter dem Rücken des
Königs die Augen. Dann legte sie ihm ihre schlanke Hand auf den
Arm. »Wir werden versuchen, ihn auf unsere Seite zu bringen«,
versprach sie. »Bei Lugan war das anders, der war uns allen
eigentlich von Anfang an unsympathisch. Aber Ariac ist
anders.«
Der König fuhr sich über den Bart und dachte nach.
Wenn er tatsächlich alle Sieben vereint in seiner Armee hätte, dann
wäre er wohl der mächtigste König aller Länder.
»Gut, dann rede meinetwegen weiter mit ihm«, gab er
widerstrebend nach.
Aber Rijana reichte das nicht. »Ihr müsst ihn
freilassen, sonst sagt er gar nichts, und wir können ihn viel
schwerer überzeugen, für Euch zu kämpfen«, sagte sie eindringlich.
Als sie das abweisende Gesicht des Königs sah, fuhr sie fort: »Er
kann doch von hier nicht fliehen. Alles ist schwer bewacht. Von
diesem Gelände kann nicht einmal eine Maus fliehen.«
Der König dachte noch eine Weile nach, aber
schließlich nickte er.
»Gut, er wird morgen freigelassen.« Als er Rijanas
strahlendes Lachen sah, hob er die Hand. »Aber er muss immer
von zwei Soldaten bewacht werden. Ich will nicht, dass er heimlich
mit Scurr Kontakt aufnimmt.«
Rijana nickte. Das war fürs Erste mehr, als sie
sich erhofft hatte.
»Danke, König Greedeon«, rief sie noch, während sie
schon wieder aus dem Zimmer lief. Er seufzte und schüttelte den
Kopf. Diese kleine Rijana war wirklich bezaubernd, auch wenn sie
scheinbar mehr Temperament hatte, als man ihr auf den ersten Blick
ansah.
Am nächsten Tag ging Rijana wieder mit den anderen
zusammen zum Essen. Als Falkann erfuhr, dass Ariac aus dem Kerker
gelassen werden sollte, knallte er wütend seine Serviette auf den
Tisch und stürmte hinaus. Auch die anderen nahmen die Nachricht mit
gemischten Gefühlen auf.
Nachdem Ariac sich hatte waschen dürfen und neue
Kleidung bekommen hatte, wurde er von zwei Soldaten zu König
Greedeon geführt. Der wunderte sich über die verschlossene,
hasserfüllte Miene des Kriegers. König Greedeon hatte noch nie
einen Steppenmann persönlich kennen gelernt. Fasziniert betrachtete
er die Tätowierungen an den Schläfen des jungen Mannes, der ihn
ganz offensichtlich abfällig musterte.
»Ich hoffe, Ihr nutzt meine Freundlichkeit nicht
aus«, sagte der König streng. »Ihr werdet das Gelände des Schlosses
nicht verlassen dürfen. Solltet Ihr es versuchen, werdet Ihr
getötet werden.« Damit war die Unterredung auch schon
beendet.
Brogan versuchte später ebenfalls, noch einmal mit
Ariac zu reden, aber dieser schwieg noch immer beharrlich.
Irgendwann kam Rijana zu ihm. Er saß, bewacht von zwei bewaffneten
Soldaten, im Park auf einem Stein.
Ariac hätte sie wirklich niemals wiedererkannt,
wenn er nicht die Kette um ihren Hals entdeckt hätte. Aus dem
kleinen
Mädchen mit den zotteligen Haaren war eine wunderhübsche junge
Frau geworden. Rijana trug ein blaues Kleid mit weißen Ärmeln und
kam lächelnd auf ihn zu.
»Haben sie dich endlich rausgelassen?«
»Ja. Habe ich das dir zu verdanken?«, fragte er mit
der Andeutung eines Lächelns.
Sie errötete leicht und nickte.
»Wollen wir ein wenig spazieren gehen?«, fragte
sie.
»Gerne.« Ariac verbeugte sich spöttisch vor den
Wachen. »Wenn es den Herren keine allzu großen Umstände
bereitet.«
Doch die ließen sich nicht provozieren und liefen
stumm neben ihm her.
Rijana machte das wütend. »Könnt ihr nicht
wenigstens ein wenig zurückbleiben, damit wir uns unterhalten
können?«
»Wir haben Anweisungen, ihn zu bewachen«,
antwortete der Soldat steif.
Rijana verdrehte die Augen. »Aber das könnt ihr
auch mit etwas Abstand. Hätte er mich umbringen wollen, hätte er es
schon auf dem Schlachtfeld getan.«
Die Wachen zögerten, blieben aber schließlich
einige Schritte zurück.
Innerlich lächelte Ariac. Rijana war ziemlich
selbstbewusst geworden. Sie spazierten eine Weile durch den Park,
und keiner wusste, wie er beginnen sollte.
»Rijana, ich muss fort von hier«, sagte Ariac
plötzlich leise.
Sie blickte ihn erschrocken an. »Bitte nicht, ich
habe den König gerade überredet, dass du freigelassen wirst. Wenn
du jetzt fliehst, wird er dich töten.«
Ariac seufzte. »Es tut mir leid, und du brauchst
auch keine Angst zu haben, dir werde ich niemals etwas tun«, er
rang nach Worten, »aber ich kann nicht hier unter diesen Mördern
leben.«
Sie hielt an und blickte zu ihm auf. »Wieso
Mörder?«
»Greedeons Leute haben meinen Clan ermordet«, sagte
er mit vor Wut zitternder Stimme.
Rijana blickte ihn überrascht an. »Das kann nicht
sein, das glaube ich nicht.«
Ariac schloss kurz die Augen und nahm ihre Hand.
»Du bist, denke ich, noch nicht lange hier. Es kann sein, dass es
passierte, bevor du bemerkt hast, dass du eines von Thondras
Kindern bist, aber sie haben es getan.«
»Das gibt es nicht«, stammelte sie verwirrt, »wir
haben nur gegen König Scurrs Soldaten und gegen Orks gekämpft, die
aus den Bergen von Ursann nach Catharga eingedrungen sind. Aber
doch nicht gegen Steppenleute!«
Ariacs Gesicht verschloss sich. »Doch, ich bin mir
sicher. Scurr hat einen Mann gefangen, und der hat es mir ins
Gesicht gesagt.«
»Scurr kann man aber auch nicht unbedingt trauen«,
erwiderte Rijana.
Kurz flammte etwas von dem Widerstand in Ariac auf,
den man ihm eingetrichtert hatte. »König Scurr nimmt sich nur das,
was die anderen ihm vorenthalten.«
»Er ist gemein, und er überfällt unschuldige
Länder«, widersprach Rijana leidenschaftlich.
Kurz funkelten sie sich wütend an. Doch dann
runzelte Ariac die Stirn, er wusste selbst nicht, was in ihn
gefahren war. Dabei stimmte er doch mit Rijana überein, dass Scurr
ein hinterhältiger Bastard war.
»Entschuldige. Scurr ist gemein, er ist brutal,
aber er hat mich im Gegensatz zu Worran, seinem Ausbilder,
zumindest einigermaßen gut behandelt. Und ich glaube nicht, dass er
gelogen hat.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
Ariac hob die Schultern. »Der Krieger aus Camasann
hat es zugegeben. Er hat selbst zu mir gesagt, dass sie die
Steppenstämme
ausgelöscht haben.« Er schluckte, und seine Stimme drohte zu
versagen. »Und er hat den Namen meines Clans genannt.«
Rijana biss sich auf die Lippe und nahm Ariacs
Hand. »Ich weiß es doch auch nicht«, sagte sie unglücklich, »ich
traue König Greedeon auch nicht wirklich. Aber Brogan und die
anderen Ausbilder von Camasann würden niemals zulassen, dass ein
unschuldiges Volk niedergemetzelt wird, da bin ich mir
sicher.«
Falkann kam gerade vom Lanzentraining zurück, als
er Rijana und Ariac im Park sitzen sah. Sofort kochte er vor Wut
und stapfte auf die beiden zu.
»Krümm ihr ein Haar, und ich spieße dich
eigenhändig auf«, drohte Falkann und zog sein Schwert.
»Falkann! Was soll das?«, schimpfte Rijana und
stellte sich vor ihn.
Ariac blieb gelassen, musterte Falkann nur
abschätzend, was diesen noch viel wütender machte.
»Rijana, komm mit«, verlangte Falkann, »du hast mit
diesem Schwein nichts zu schaffen.«
Sie riss sich jedoch los. »Ich habe zu schaffen,
mit wem ich will«, erwiderte sie fest. »Und er ist kein
Schwein!«
Falkanns Augen blitzten gefährlich. »Na, dann eben
ein Mörder, ein Wilder, Scurrs Ratte, was weiß ich.«
Auch Ariac sprang jetzt auf, und die Wachen zogen
ihre Schwerter.
»Wer ist denn hier der Mörder? Du warst doch sicher
auch in der Steppe dabei, oder?«, fragte Ariac, und seine dunklen
Augen funkelten zornig.
Falkann hielt für einen Moment überrascht inne. »In
der Steppe?«
»Ariac behauptet, König Greedeons Soldaten hätten
die Stämme der Steppe getötet«, erklärte Rijana, die zwischen
den beiden stand. »Aber ich habe ihm schon gesagt, dass das nicht
stimmt.«
»Das haben wir auch nicht«, sagte Falkann bestimmt.
»Und selbst wenn, vor dem muss ich mich nicht rechtfertigen. Er hat
wahrscheinlich genug von unseren Freunden auf dem Gewissen.«
Rijana senkte den Blick, denn das war ihr natürlich
auch klar.
Nun war Ariac ein wenig verunsichert. So wütend
dieser junge, blonde Mann auf ihn war, Ariac glaubte nicht, dass er
jetzt gerade gelogen hatte. Er wusste selbst nicht warum, aber
davon war er überzeugt.
»Komm jetzt, Rijana«, sagte Falkann. »Er macht sich
doch nur an dich ran, um dich auszuhorchen. Und gerettet hat er
dich auch nur, weil das wohl gerade in Scurrs Plan gepasst hat. Du
bist ihm doch vollkommen egal.« Er wollte sie mit sich
wegziehen.
Bevor Rijana protestieren konnte, zog Ariac etwas
aus seiner Tasche und hielt es vor sich ausgestreckt.
»Wenn sie mir egal wäre, hätte ich das dann all die
langen Jahre aufgehoben?«
Rijana hielt die Luft an. In Ariacs Hand lag der
Stein, den sie ihm als kleines Mädchen geschenkt hatte.