KAPITEL 6
Die Rückkehr der Sieben
Die Kunde, dass eines von Thondras Kindern
wiedergeboren war, breitete sich wie ein Lauffeuer in den
Königreichen aus. Als Erstes traf König Greedeon auf Camasann ein.
Er wurde von einer großen Eskorte zum Schloss geleitet und in das
Arbeitszimmer von Zauberer Hawionn geführt. Die Kinder, die hier
zur Ausbildung waren, mussten in Reih und Glied stehen und sich vor
dem König von Balmacann verneigen, der sie allerdings kaum zu
beachten schien. Hocherhobenen Hauptes schritt er durch die Gasse
aus Kindern die Treppe hinauf zum Arbeitszimmer des Oberhauptes der
Schule. Auch Falkann war bereits anwesend und sehr nervös.
»Thondras Erbe!«, rief der große Mann. König
Greedeon war mittleren Alters, durchtrainiert und von
beeindruckender Statur. Die dicken, dunkelbraunen Haare trug er
ebenso kurzgeschnitten wie seinen Bart. Er war in einen teuren,
nachtblauen Mantel mit goldenen Verzierungen gekleidet und packte
Falkann mit festem Griff an den Schultern.
»Es freut mich besonders, dass es ein Sohn meines
alten Freundes König Hylonn ist.«
Falkann verzog das Gesicht. Er wusste sehr wohl,
dass sich sein Vater und der König von Balmacann häufig wegen der
unterschiedlichen Besteuerung der Brücke stritten. Jeder warf dem
anderen vor, zu viel zu verlangen.
»Was wird nun mit ihm geschehen?«, fragte König
Greedeon ernst.
Hawionn hob die Schultern und fuhr sich durch den
grauen Bart. »Er wird noch eine Weile hierbleiben und mit seiner
Ausbildung fortfahren. Wenn es einen Krieg gibt, wird er
mitkämpfen. Er ist nun erwachsen.«
Falkann runzelte missbilligend die Stirn. Es sah
nicht so aus, als hätte er etwas mitzuentscheiden.
König Greedeon nickte zufrieden und lächelte
Falkann zu.
»Das ist gut, aber in spätestens drei Jahren sollte
er zu mir aufs Schloss kommen und alle Länder kennen lernen. Du
bist nun eine wichtige Persönlichkeit, Falkann.«
Der grinste halbherzig. Es gefiel ihm überhaupt
nicht, eine »wichtige Persönlichkeit« zu sein. Manchmal hatte er
schon den Tag verflucht, an dem das Schwert aufgeleuchtet hatte.
Andererseits war seine Kampfkunst noch sehr viel besser geworden,
seitdem er sein neues Schwert besaß. Es schien einfach zu ihm zu
gehören.
»Gut«, sagte König Greedeon erneut mit einem
Lächeln. »Wir werden sehen, was die nächsten Jahre bringen.« Dann
warf er einen Beutel mit Gold auf den Tisch, den Hawionn rasch an
sich nahm. »Ich halte sehr viel von dieser Schule«, fügte der König
hinzu und verließ mit seinen zwei Wachen den Raum.
Falkann atmete erleichtert auf und ging zurück zu
seinen Freunden, die bereits in einem der kleinen
Gemeinschaftsräume des Schlosses auf ihn warteten.
»Na endlich«, rief Rijana, »ich habe gleich
Reitunterricht.«
»Was hat er gesagt?«, verlangte Rudrinn zu
wissen.
»Nicht sehr viel«, seufzte Falkann, »nur, dass ich
in einigen Jahren zu ihm auf das Schloss kommen und die Reiche
kennen lernen soll.«
Die anderen nickten wenig befriedigt. Sie hatten
sich mehr Neuigkeiten erhofft.
»Wie war er denn?«, wollte Saliah wissen. Auch sie
hatte es eilig, denn ihr Unterricht bei Zauberer Tomis hatte
bereits begonnen.
Falkann hob die Schultern. »Keine Ahnung, groß,
beeindruckend, eigentlich recht freundlich. Ich weiß auch nicht …«
Ihn nervte der ganze Wirbel um seine Person. Auch wenn er ein
Königssohn war, hier in der Schule war er lange Zeit nur einer von
vielen gewesen.
Rijana stand auf und nahm den widerwilligen Rudrinn
an der Hand. »Komm, sonst gibt es Ärger.«
Der Piratenjunge erhob sich seufzend und schimpfte,
mehr aus Gewohnheit als aus Wut, mal wieder über die Sinnlosigkeit
des Reitens, denn eigentlich machte es ihm sogar Spaß. Doch das
hätte er niemals zugegeben. Die beiden liefen zusammen mit Tovion
den Berg hinab zu der Ansammlung von Hütten, in der die Pferde
untergebracht waren. Atemlos und keuchend kamen sie bei den
Stallungen an. Rittmeister Londov saß bereits hoch zu Ross und
blickte missbilligend auf die drei jungen Leute. »Für heute haben
wir gleich drei Freiwillige, die die Pferde ausmisten und füttern«,
sagte er mit seiner harten Aussprache.
Rijana und die anderen stöhnten. Das hatten sie
sich schon gedacht. Rittmeister Londov hasste nichts mehr als
Unpünktlichkeit. Zehn andere Kinder, darunter auch die kleine Ellis
mit ihren dunklen Locken, saßen bereits auf ihren Pferden, und
Tovion, Rudrinn und Rijana beeilten sich, ihre zu satteln. Der
Rittmeister betrachtete sie mit kritischem Blick und sagte zu
Rudrinn, der ohnehin schon ein Gesicht zog: »Und morgen striegelst
du alle Pferde in den Stallungen, deines ist nicht sauber.«
Rudrinn öffnete empört den Mund und wollte etwas
erwidern, doch dann fiel sein Blick auf die Kruppe des Pferdes, auf
der tatsächlich noch Schmutz klebte. Als er den Blick des
Rittmeisters sah, machte er seinen Mund rasch wieder zu.
Jede Entgegnung würde ihm nur weitere Arbeiten einbringen. Aber
der Rittmeister war fair und verteilte nur dann Strafen, wenn sie
auch gerechtfertigt waren.
Im leichten Trab ritten sie durch die Hügel. Die
Kinder mussten heute üben, im Galopp aus dem Sattel zu springen und
wieder hinauf. Londov war wie immer sehr streng und sehr genau. Er
verteilte nur wenig Lob und korrigierte immer wieder. Als der Tag
sich langsam dem Ende zu neigte, erlöste er die Kinder.
»Genug für heute. Wer möchte, darf noch zum Strand
reiten, danach werden die Pferde ordentlich für die Nacht
vorbereitet.« Dabei sah er vor allem Rudrinn und seine beiden
Freunde an.
Rijana blickte abenteuerlustig auf den nicht weit
entfernten Sandstrand. »Wollen wir?«, fragte sie fröhlich.
Tovion stimmte gleich zu, doch Rudrinn sträubte
sich erwartungsgemäß.
»Jetzt komm schon«, verlangte Rijana und trieb ihre
kleine fuchsfarbene Stute an. Tovion setzte ihr nach und
schließlich auch Rudrinn. Die drei Freunde jagten über den langen
Sandstrand, der sich um die halbe Insel zog. Lachend galoppierten
sie ein paar Mal hin und her. Immer wieder überholten sie sich
gegenseitig, und selbst auf Rudrinns Gesicht erschien ein Lachen.
Dann, es war schon beinahe finster, ritten sie langsam durch die
Hügel zurück. Rijana schloss einen Augenblick lang die Augen. Es
roch hier so gut, nach Meer, Herbst und geerntetem Gras. Jetzt
dachte sie kaum noch an ihr früheres Dorf. Hier auf Camasann hatte
sie eine Heimat gefunden, und es war ihr nie besser gegangen. Sie
hatte Freunde, die sie akzeptierten, Lehrer, die sie mochten, und
die dicke Birrna war für Rijana wie eine Mutter, wie wohl für die
meisten Kinder. Selbst Rudrinn war zufrieden, auch wenn er es
selten zugab. Doch auch er dachte kaum noch an das Leben als Pirat
zurück, obwohl er immer wieder verkündete,
dass er in drei Jahren die Insel verlassen würde. Der ruhige
Tovion, der noch nicht sehr lange mit dabei war, fühlte sich
ebenfalls wohl. Hier konnte er Lesen und Schreiben lernen, etwas,
das ihm sehr wichtig war. Das hatte sein Vater, der Schmied, der
zwar ein gutmütiger, aber doch eher einfacher Mann war, nie
verstehen können. Tovion vermisste seine Familie, aber hier hatte
er etwas anderes, ebenfalls sehr wichtiges gefunden. Er war ein
guter Schwertkämpfer und Bogenschütze, und mittlerweile ritt er
auch hervorragend. Tovion war von den sechs Freunden der kluge und
ruhige Denker, den alle mochten.
Einige Tage später reiste König Hylonn von
Catharga mit seinem Gefolge an.
Falkann war ein wenig nervös, doch er freute sich
auch. Seit über sechs Jahren hatte er seinen Vater nicht mehr
gesehen, der nur einmal nach Camasann gekommen war, seitdem Falkann
dort ausgebildet wurde. Mit einer Eskorte von vierzig Kriegern,
welche alle die blauen Umhänge mit dem Greifen, der über einem
Felsmassiv schwebte, trugen, näherte sich der König dem Schloss.
Sein jüngerer Sohn Hyldor begleitete ihn.
Zauberer Hawionn begrüßte den König noch vor dem
Tor und verbeugte sich tief. »Herzlich willkommen. Ich hoffe, Ihr
hattet eine gute Reise.«
König Hylonn nickte und blickte zu den hohen Mauern
des Schlosses auf, in dem er selbst seine Kindheit und Jugend
verbracht hatte.
Dann stieg er von seinem braunen Hengst, und
Hawionn sagte rasch: »Tretet ein, Euer Sohn wartet bereits auf
Euch. Meine Leute werden Euren Kriegern sagen, wo sie die Pferde
unterbringen können.«
»Sehr gut«, sagte König Hylonn und bedeutete seinem
Sohn, mit ihm zu kommen. Hyldor, der nur ein Jahr jünger
als Falkann war, folgte seinem Vater. Er war ein wenig kleiner und
breiter gebaut, gerade an der Grenze, nicht dicklich zu wirken.
Hyldor war nicht so gutaussehend wie sein älterer Bruder, doch das
war es nicht einmal, was Hyldor so störte. Ihn hatte es immer
geärgert, dass er nicht nach Camasann gehen durfte, obwohl er sich
selbst für einen sehr guten Schwertkämpfer hielt und die letzten
Jahre über eisern trainiert hatte. Falkann war immer das glänzende
Vorbild ganz Cathargas gewesen, und Hyldor war eifersüchtig.
Der König und sein jüngster Sohn wurden durch die
große Halle geführt, in der die gesamte Schülerschar ihm zu Ehren
aufgestellt war. Hyldor schielte neidisch auf die Kinder und
Krieger.
Falkann stand mit seinen Freunden zusammen am
Aufgang zur Treppe. Er straffte die Schultern und trat vor seinen
Vater. Zunächst war er ein wenig verwundert, denn sein Vater war
für ihn immer ein gewaltiger, mächtiger und furchteinflößender Mann
gewesen. Doch jetzt überragte Falkann ihn sogar um einige
Fingerbreit.Viele Jahre waren vergangen und die dunkelblonden Haare
des Königs bereits mit grauen Strähnen durchzogen.
»Guten Tag, Falkann«, sagte sein Vater zur
Begrüßung und umarmte seinen Sohn. »Ich bin sehr stolz auf
dich!«
Hyldor verzog seinen schmalen Mund spöttisch und
nickte dem älteren Bruder nur flüchtig zu. Doch auf Falkanns
Gesicht breitete sich ein sympathisches Lachen aus, das alle so an
ihm mochten. Er führte seinen Vater und den Bruder gemeinsam mit
Hawionn hinauf in das große Arbeitszimmer des Zauberers. Hyldor
setzte sich mit missmutigem Gesicht in einen der tiefen Sessel und
begann an seinem Dolch herumzuspielen. Hawionn schenkte dem König
von Catharga ein Glas Rotwein ein, und König Hylonn ging erneut zu
seinem ältesten Sohn, der mit dem magischen Schwert am Gürtel neben
dem Schreibtisch des Zauberers stand.
»Ich wusste immer, dass einmal etwas Großes aus dir
wird«, sagte sein Vater stolz, und Falkann lächelte zurück. »Deine
Mutter ist übrigens ebenfalls sehr stolz auf dich.«
Falkann lächelte. Er konnte sich gar nicht mehr
richtig an seine Mutter erinnern, wusste nur, dass sie immer sehr
streng gewesen war. Hyldors Miene wurde immer finsterer. Er konnte
dieses ewige Gerede um Falkann einfach nicht mehr ertragen. Nun kam
Falkann auch noch auf ihn zu.
»Na, Hyldor, wie geht es dir?«, fragte er
freundlich und stellte sich neben seinen jüngeren Bruder. »Nun
wirst du König werden.«
»Natürlich, was du nicht willst, bekomme ich«,
knurrte dieser.
»Hyldor, reiß dich zusammen!«, wies ihn sein Vater
erbost zurecht.
Falkann runzelte überrascht die Stirn. Er hatte
eigentlich immer gedacht, Hyldor wäre gerne König geworden.
»Wie auch immer«, sagte der König mit einem
Lächeln. »Falkann wird nun nach Catharga zurückkehren.«
Doch Hawionn schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre
zu gefährlich. Er braucht noch ein wenig Ausbildung, und hier auf
Camasann ist er sicherer vor Scurrs Meuchelmördern.«
»Ach was«, rief der König selbstsicher. »Mein Sohn
ist einer der Sieben, er kann jeden besiegen.«
Doch der Zauberer schüttelte den Kopf. »Er ist noch
sehr jung, und bisher hat sich noch kein weiteres von Thondras
Kindern gezeigt. Lasst ihn noch eine Zeit lang hier. Außerdem
möchte König Greedeon ihn in einigen Jahren zu sich nehmen, und er
ist schließlich der Gönner dieser Schule.«
Das Gesicht von König Hylonn verfinsterte sich. Er
diskutierte noch eine Weile mit Hawionn, sodass Falkann mal wieder
den Eindruck hatte, dass es hier gar nicht um ihn ging. Er war nur
ein Spielball zwischen verschiedenen Königreichen, und das missfiel
ihm.
»Ich werde bleiben«, rief er plötzlich, und der
Zauberer und sein Vater blickten ihn überrascht an.
»Ich brauche wirklich noch ein wenig Ausbildung,
und die meisten anderen Krieger verlassen auch erst mit
einundzwanzig die Insel«, sagte er fest.
Hawionn machte ein erleichtertes Gesicht, während
König Hylonn unwillig wirkte.
»Nun gut«, meinte König Hylonn, machte jedoch einen
etwas beleidigten Eindruck. »Bleib noch eine Weile hier, aber falls
Scurr noch unverschämter wird und unser Land angreift, dann werde
ich dich und, falls die anderen Sieben bis dahin auftauchen, auch
diese in unserem Land brauchen.« Er fasste seinen Sohn energisch am
Arm. »Du weißt, wo du geboren wurdest!«
Falkann nickte, während Hawionn ein missbilligendes
Gesicht zog.
»Den Oberbefehl über die Sieben haben Camasann und
König Greedeon«, bemerkte der alte Zauberer und fixierte mit seinem
Blick den König von Catharga.
»Das werden wir ja noch sehen«, erwiderte dieser,
wirkte allerdings nun ein wenig verunsichert. Er winkte seinem
jüngsten Sohn, nickte Falkann noch kurz zu und verließ dann das
Schloss. Noch am selben Tag reiste er ab und segelte auf einem
großen Schiff zurück aufs Festland.
Falkann ging in Gedanken versunken zu seinen
Freunden zurück, die ihn bereits erwarteten. Er wirkte sehr
nachdenklich und bat die anderen, mit ihm auszureiten. Wegen des
Besuchs des Königs war heute der Unterricht abgesagt worden. So
liefen die sechs Freunde zu den Ställen, sattelten ihre Pferde und
ritten zum Strand hinab, wo Falkann allen voran durch die Brandung
galoppierte. Irgendwann hielten sie an und setzten sich in die
Dünen, während ihre Pferde an dem verdörrten Gras zupften.
»Was hast du denn?«, fragte Saliah vorsichtig und
legte Falkann ihre schlanke Hand auf den Arm.
Falkann seufzte, legte sich zurück in den Sand und
beobachtete die Wolken, die am Himmel vorbeizogen.
»Für alle bin ich jetzt nur noch ›einer der
Sieben‹«, sagte er bitter. »Ich als Mensch interessiere doch
niemanden mehr.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte Saliah, die anderen
nickten zustimmend. »Du bist unser Freund, und wir werden immer zu
dir halten.«
Falkann seufzte erneut und richtete sich wieder
auf. »Das weiß ich schon, aber wenn es Hawionn oder König Greedeon
einfällt, dann schicken sie mich in irgendeine Schlacht, egal gegen
wen.«
Die anderen nickten betrübt, wahrscheinlich hatte
er Recht. Broderick schlug ihm schließlich freundschaftlich auf die
Schulter.
»Komm schon, wenn du erst die anderen sechs
gefunden hast, dann seid ihr stark und könnt euch gegen Greedeon
und Hawionn behaupten.« Er schnitt eine Grimasse. »Dann wirst du
uns sowieso vergessen.«
Doch Falkann schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, ihr seid meine besten Freunde! Euch werde ich niemals
vergessen!«
So blieb Falkann auf Camasann. Ein weiteres Jahr
verging. Immer wieder hörte man, dass König Scurr die anderen
Länder überfallen ließ, und viele Krieger wurden von Camasann
abgezogen, bis beinahe nur noch die Kinder, Zauberer und einige
wenige Wachen auf der Insel blieben. Im Frühling des neuen Jahres
kam ein Mädchen mit schwarzen lockigen Haaren nach Camasann. Brogan
hatte sie in Balmacann gefunden. Ihr Name war Nelja, und sie war im
gleichen Alter wie Saliah. Gleich von Anfang an schien sie
dazuzugehören, als hätten die anderen nur auf sie gewartet, sodass
es fortan sieben
Freunde waren. Zum Jahreswechsel stellte sich Broderick als ein
Kind Thondras heraus. Er war genauso verwirrt wie Falkann im
letzten Jahr, aber Letzterer war mehr als froh, dass sein bester
Freund einer der Sieben war. Wie Falkann zuvor hatte auch Broderick
das Gefühl, dass eines der Schwerter genau zu ihm gehörte.
König Scurr tobte, als er davon erfuhr. Er holte
Ausbilder Worran zu sich, der das Schlimmste befürchtete.
»Wir bemühen uns wirklich. Jedes Jahr testen wir
eine Menge Kinder und haben auch schon einige von Hawionn entführt.
Es ist nicht meine Schuld!«
Scurr zischte missbilligend und lief unruhig auf
und ab.
»Wir müssen etwas unternehmen, das diesen
arroganten Zauberern den Wind aus den Segeln nimmt«, sagte Scurr
mit seiner geisterhaften Stimme. Er fuhr sich über die feine Narbe
auf seiner rechten Wange, wie immer, wenn er nervös war.
»Aber was, mein König?«, wagte Worran zu
fragen.
Scurr fuhr wütend zu ihm herum. »Unterbrich mich
nicht, du Gewürm!«
Worran wich zurück und lehnte sich an eine der
hohen Säulen. Eine ganze Weile dachte Scurr angestrengt nach, dann
kam er zu Worran und baute sich vor ihm auf. »Welches der Kinder
könnte als ein Kind Thondras durchgehen? Und würde uns zudem noch
bedingungslos dienen?«
Worran ging im Geiste alle Kinder durch. Ohne
Ausnahme waren alle gute Kämpfer und unterwürfig – bis auf diesen
verfluchten Steppenjungen natürlich, dachte Worran wütend. Ariac
war einer der besten Kämpfer, die er jemals ausgebildet hatte,
dafür aber auch einer der unbeugsamsten. Doch Worran hatte keine
Zeit, darüber nachzudenken, König Scurr wartete auf eine
Antwort.
»Ähm, Eure Majestät, ich denke, Lugan wäre geeignet
gewesen,
aber der wurde bereits im vorletzten Jahr getestet, ansonsten
…«
»Warte«, unterbrach Scurr. »Lugan, ich kann mich an
ihn erinnern. Groß, schlank und führt jetzt die Raubzüge an, nicht
wahr?«
Worran stimmte erleichtert zu. Lugan war einer
seiner Lieblinge. Skrupellos, brutal und ihm treu ergeben.
Scurr begann erneut, auf und ab zu laufen. »Würde
er alles für mich oder für Euch tun?«
Worran ließ seine Finger knacken.
»Natürlich.«
»Gut«, sagte Scurr, und ein böses Lachen erschien
auf seinem hageren, ausgezehrten Gesicht. »Beim nächsten
Jahreswechsel wird sich Lugan als Thondras Sohn herausstellen. Wir
werden behaupten, Lugan hätte nicht mehr genau gewusst, wann er
geboren wurde. Sie können ohnehin alle nicht zählen.«
Der brutale Ausbilder hob überrascht seine
Augenbrauen.
Doch König Scurr fuhr unbeirrt fort. »In dem
Moment, in dem Lugan das Schwert berührt, werde ich es mit einem
Zauber zum Glühen bringen. Dann verkünden wir, dass wir ebenfalls
eines von Thondras Kindern hätten.«
Worrans hässliches, narbiges Gesicht verzog sich zu
einem gehässigen Grinsen. »Sehr gut, und wenn wirklich eines der
Sieben auftaucht, können wir Lugan wieder verschwinden
lassen!«
Scurr nickte zustimmend. »Gut, dann pass auf, dass
Lugan bis zum nächsten Jahreswechsel nichts passiert.«
Worran nickte und kehrte nach Naravaack zurück, um
seine Schützlinge noch etwas leiden zu lassen.
Wie geplant nahm der Betrug zum nächsten
Jahreswechsel seinen Lauf. Ariac war nun fünfzehn Jahre alt und
musste mit ansehen, wie ausgerechnet einer seiner größten Feinde
auserwählt wurde. Lugan, der ohnehin schon arrogant genug war,
wurde noch aufgeblasener, brutaler und eingebildeter. Er war
inzwischen sehr viel muskulöser geworden und nun ein ausgewachsener
Krieger.
Zum Zeichen seiner Macht ließ König Scurr den
Nachthimmel mit einem gewaltigen magischen Feuerwerk erstrahlen,
das bis weit nach Catharga gesehen wurde.
Worran machte sich fortan einen besonderen Spaß
daraus, gerade Ariac und einige gleichaltrige Jungen mit Lugan, der
nun von allen verehrt wurde, trainieren zu lassen. Lugan und Ariac
hassten sich von jeher, allerdings war Lugan nun um einiges
stärker. Er ließ keine Gelegenheit aus, den Steppenjungen zu
demütigen.
Eines Tages waren die beiden mit einigen anderen
Jungen in den Bergen unterwegs. Lugan war der große Anführer, der
auf seinem Pferd die unberittenen Jungen gnadenlos mit einer
Peitsche antrieb. Sie sollten gegen Steintrolle kämpfen. Die
feisten gedrungenen Wesen waren zwar keine guten Kämpfer, aber sie
waren unglaublich zäh und schwer zu töten. Ariac kämpfte gegen fünf
der Wesen gleichzeitig, die ihm gerade einmal bis zur Schulter
reichten. Obwohl er nach kurzer Zeit vier der fünf besiegt hatte,
schrie Lugan ihn an: »Na los, du Wilder, zeig es ihnen, so schlecht
wie du kämpft ja nicht mal meine Großmutter!«
Das stachelte Ariacs Wut an, und er besiegte auch
den letzten der Steintrolle. Trotzdem schien Lugan nicht zufrieden
zu sein.
»Du hast beschissen gekämpft«, behauptete er, »du
bist eine Schande.«
»Habe ich nicht«, widersprach Ariac wütend.
Lugan zog sein Schwert. »Du hast mir nicht zu
widersprechen! Ich bin einer der Sieben!«
Ariac schnaubte verächtlich und wandte sich ab.
Lugan blickte sich um, niemand beobachtete sie. So stach er Ariac
hinterrücks in die Schulter. Der Steppenjunge schrie auf und
ging in die Knie. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Rücken.
Lugan wendete sein Pferd.
»Wir gehen nach Hause.«
Ariac tastete nach seiner Schulter, aus der das
Blut schoss. Er konnte sie selbst nur notdürftig verbinden.
Worran tauchte auf und trieb einige Jungen vor sich
her.
»Los, bewegt euch«, schrie er von seinem Pferd aus
und knallte mit der Peitsche.
Einige Zeit hielt Ariac mit, doch er spürte, wie
immer mehr Blut seine Schulter hinunterlief. Nur noch verschwommen
nahm er den Weg wahr. Irgendwann stolperte er und fiel auf dem
steinigen Boden hin. Sofort war Worran hinter ihm und ließ die
Peitsche auf seinen Rücken knallen.
»Steh auf, du kleine Wüstenratte!«
Ariac erhob sich mühsam, kam jedoch nur schwankend
auf die Beine.
»Wenn du nicht mithältst, bleibst du eben hier«,
knurrte der Ausbilder und galoppierte ungerührt davon.
Ariac kam nicht sehr weit, er hatte einfach zu viel
Blut verloren. Irgendwann rollte er sich unter einem Felsvorsprung
zusammen und hoffte, dass ihn kein Ork fressen würde – er konnte
einfach nicht mehr. Er nahm den Stein, den Rijana ihm vor langer
Zeit gegeben hatte, und klammerte sich daran fest.
Vielleicht kann ich weiter, wenn ich mich ein
wenig ausgeruht habe, dachte er, bevor er einschlief.
Worran stellte am nächsten Morgen fest, dass Ariac
noch immer nicht eingetroffen war, doch er kümmerte sich nicht
weiter darum. Insgeheim hoffte er sogar, dass er gar nicht mehr
zurückkommen würde. Lugan hatte gestanden, dass Ariac verletzt war,
und Worran hatte ihn dafür noch gelobt. Erst König Scurr brachte
den brutalen Ausbilder am nächsten Abend in Bedrängnis.
»Wo ist der Steppenjunge?«, fragte er beim
Abendessen.
Worran hielt inne. »Er ist noch in den
Bergen.«
Scurr hob missbilligend die Augenbrauen und winkte
einige Soldaten zu sich. »Sucht ihn!«, befahl er.
Die Soldaten mussten nicht weit ausschwärmen, um
Ariac zu finden. Der hatte sich inzwischen halbtot bis ans Tor
geschleppt. König Scurr tobte vor Wut, denn den Heilern war es nur
mit äußerster Not gelungen, den Jungen zu retten.
»Verdammt, ich sagte doch, dass du ihn am Leben
lassen sollst, bis er siebzehn ist«, sagte er mit gefährlich leiser
Stimme zu Worran.
»Ich habe doch nichts davon gewusst … Ich …«,
stammelte der Ausbilder.
Scurr packte ihn am Hemd. »Noch ein Mal, und ich
werde dich persönlich töten.«
Zwei weitere Jahre vergingen, ohne dass auf
Camasann ein weiterer auserwählter Krieger in Erscheinung getreten
war, was König Greedeon maßlos ärgerte. Vor allem, seitdem er
gehört hatte, dass nun auch Scurr einen Jungen hatte, wollte er
nicht noch einen der Sieben an den finsteren Herrscher
verlieren.
Doch das nächste Jahresfest stand bereits vor der
Tür, und die Hoffnung, in den eigenen Reihen einen der legendären
Sieben zu entdecken, stieg ins Unermessliche. Diesmal waren es nur
fünf Jungen.
Und Rudrinn war einer von ihnen. Natürlich
verkündete er mal wieder lautstark, dass er jetzt endlich auf die
Meere zurückkehren könne. Saliah, die mit ihren fünfzehn Jahren nun
eine wirkliche Schönheit war, stupste ihn in die Seite.
»Dann müssen die Königreiche ja bald vor dir
erzittern!«
Rijana lachte laut auf. Sie war dreizehn Jahre alt
und dachte nur noch selten an ihre frühere Heimat. Sie hoffte, dass
Rudrinn blieb, denn er war ihr ein guter Freund geworden.
Tovion stand gemeinsam mit Nelja etwas abseits. Es war ein offenes
Geheimnis, dass er in das schwarzhaarige Mädchen verliebt war. Auch
zwischen Saliah und Falkann hatte sich eine schüchterne Liebe
angebahnt, auch wenn Falkann nun schon zwanzig war und immer noch
Hemmungen hatte, der jüngeren Saliah den Hof zu machen.
Die Jungen gingen nacheinander zu den Schwertern
und berührten sie ehrfürchtig. Auf manchen Gesichtern war
Enttäuschung, auf anderen Erleichterung zu sehen, als das Schwert
schwieg. Dann kam Rudrinn an die Reihe. Natürlich schlenderte er
betont gelangweilt hinauf und machte ein unwilliges Gesicht. Er
packte das Schwert am Griff und stolperte entsetzt zurück. Die
Runen leuchteten.
Die Zauberer atmeten erleichtert auf. Sie hatten
ein weiteres von Thondras Kindern bei sich. Doch Rudrinn ließ das
Schwert fallen, als hätte er sich die Hände verbrannt. Er rannte
ohne aufzublicken aus dem hohen Saal hinaus. Broderick war der
Erste, der ihm folgte. Er wusste, wo er ihn suchen musste. Und
tatsächlich hatte er richtig vermutet. Rudrinn war ans Meer
geflohen, das ihm jetzt für immer genommen war. Es war ein kalter,
dunkler Abend, und es nieselte, aber Rudrinn schien das nicht zu
bemerken. Er saß auf dem Felsen und starrte auf das schäumende Meer
unter ihm.
Broderick setzte sich neben ihn und wollte ihm eine
Hand auf die Schulter legen, doch Rudrinn fuhr wütend herum.
»Ich will das nicht, und ich kann das nicht. Ich
werde zurück zu den Piraten gehen.«
Broderick seufzte und blickte den Freund
nachdenklich an. Er konnte Rudrinn gut verstehen.
»Weißt du«, begann er, »eigentlich wollte ich vor
zwei Jahren auch zurück nach Errindale gehen, um das Gasthaus zu
besuchen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wollte ein Bauer oder so
etwas werden.«
Überrascht blickte Rudrinn auf. Das hatte Broderick
noch nie erwähnt. Er war immer so lustig und unbeschwert.
»Und warum hast du es nicht getan?«, fragte Rudrinn
mit Zorn in der Stimme, während er kleine Steine ins Wasser
warf.
»Weil ich eben einer der Sieben bin.«
Rudrinn schnaubte verächtlich. »Nein, ich will
nicht.«
»Auch nicht für deine Freunde?«, fragte Broderick
ernst.
Rudrinn zog seine dunklen Augenbrauen zusammen und
blickte verwirrt auf den Freund.
»Weißt du«, fuhr Broderick fort, »Falkann und ich
könnten jemanden gebrauchen, auf den wir uns verlassen können.
Außerdem soll einer von uns Sieben«, er verzog den Mund, »bei Scurr
sein. Ich habe da so etwas gehört, dass Hawionn plant, den Jungen
zu befreien und zu uns zu bringen.«
»Wirklich?«, fragte Rudrinn überrascht.
Broderick nickte. »Meine Güte, Rudrinn,
wahrscheinlich kommt es früher oder später zu einem Krieg. Willst
du dann auf den Meeren herumsegeln und Handelsschiffe
ausrauben?«
Sosehr es ihn ärgerte, aber das wollte Rudrinn
schon lange nicht mehr. Irgendwie hatte er es sich nur noch nicht
eingestehen wollen. »Gut«, sagte er schließlich ernst, »aber nur
für dich und Falkann. Und vielleicht für das arme Schwein, das bei
Scurr festsitzt.«
Broderick erhob sich und schlug Rudrinn auf die
Schulter. »Sehr gut.«
Die beiden gingen zurück, und Rudrinn erhielt eines
der Schwerter, obwohl ihm noch immer nicht so ganz wohl bei der
Sache war.
Nachdem Rudrinn gegangen war, saßen die Zauberer
im Arbeitsraum von Hawionn.
»Drei Kinder Thondras«, sagte er nachdenklich, »und
alle waren sie schon seit langer Zeit Freunde. Ist das ein Zeichen?
Gehören auch die anderen zu den Auserwählten?«
»Es waren immer nur zwei Mädchen«, wandte Zauberer
Tomis ein, den es etwas wurmte, dass sich der freche und
ungehobelte Rudrinn als einer der Sieben herausgestellt
hatte.
»Wir werden abwarten müssen«, sagte Brogan
seufzend. »Einen hat ohnehin Scurr.«
Hawionn fuhr wütend zu dem anderen Zauberer herum.
»Das weiß ich, und wir werden ihn zu uns holen.«
Nun sprang Brogan auf, denn die beiden stritten
sich schon seit geraumer Zeit um dieses Thema. »Scurr lässt
niemanden bei klarem Verstand. Seine Soldaten sind
Tötungsmaschinen. Auch du wirst keinen von ihnen umerziehen
können.«
»Er ist noch nicht sehr alt, erst achtzehn, es wird
gelingen«, erwiderte er bestimmt. »Ich habe bereits mit König
Greedeon gesprochen, der das ebenso sieht.«
Brogan fluchte. »Das ist unser Untergang. Wir
können keinen von Scurrs Leuten zu uns lassen.«
»Nur wenn die Sieben vereint sind, wird ein Sieg
erzielt werden«, erwiderte Hawionn kalt.
Brogan war völlig außer sich. Er verließ den Raum
und ließ die Tür laut ins Schloss fallen. In seinen Augen war
Hawionn ein verdammter Narr.
Auch Ariac sollte an diesem Abend getestet werden.
Sein Gesicht war übersät mit grünen und blauen Flecken, weil er
noch am selben Tag gegen zwei Orks hatte kämpfen müssen. Sein
Trainingspartner hatte sich nicht dazu herabgelassen, ihm zu
helfen. Worran hatte selbstverständlich auch nicht eingegriffen.
Der grobe Ausbilder schien das Ende des Abends gar nicht abwarten
zu können. Wenn sich erst herausgestellt hatte, dass Ariac keiner
der Sieben war, würde er ihm endlich zeigen können, wer Herr über
Leben und Tod war. Ariac würde den morgigen Tag jedenfalls nicht
überleben.
Nacheinander gingen die Jungen und auch ein Mädchen
zu dem Schwert mit den magischen Runen, doch ein Leuchten
war nicht zu sehen. Dann humpelte Ariac schwerfällig vor König
Scurrs Thron. Er nahm das Schwert in die Hand und wurde von einer
unglaublichen Macht erfüllt. Noch niemals zuvor hatte er so etwas
erlebt. Wie schon die anderen vor ihm sah er wirre Szenen vor
seinem inneren Auge aufflackern, die aus früheren Leben stammen
mussten. Als das Schwert nur noch schwach leuchtete, blickte er in
die Gesichter von König Scurr und Worran. Wäre er nicht so verwirrt
gewesen, hätte er sich an dem Anblick erfreuen können. Zum ersten
Mal sah er bei ihnen Fassungslosigkeit, Verunsicherung und
Entsetzen. Doch das hielt nicht lange an. Worran befreite sich
zuerst aus der Starre und stürzte wütend auf Ariac zu, dem er einen
derart harten Schlag ins Gesicht versetzte, dass dieser zu Boden
geschleudert wurde.
»Er!«, schrie er außer sich, »bei von allen Göttern
verfluchten Kreaturen ausgerechnet er?!« Der Ausbilder hatte
vollkommen die Fassung verloren. Er tobte und trat auf Ariac ein,
der fassungslos am Boden lag.
»Hör sofort auf!«, befahl König Scurr.
Er selbst war mehr als ungehalten darüber, dass
ausgerechnet der Steppenjunge einer der Sieben war. Doch nun hatten
sie zumindest wirklich ein Kind Thondras.
»Steh auf«, befahl er zu Ariac gewandt, der sich
mühsam erhob. »Du wirst von nun an wie Lugan bei mir hier auf dem
Schloss wohnen.«
Worran knurrte und blaffte weiter vor sich hin,
denn er konnte es noch immer nicht glauben.
Ariac nickte nur unsicher mit dem Kopf. Das alles
war wirklich unglaublich. Lugan, der tatsächlich glaubte,
auserwählt zu sein, schubste ihn angewidert zur Seite.
»Ausgerechnet der Wilde, das ist doch ekelhaft.«
Doch heute erwiderte Ariac nichts. Er wusste ja
nicht einmal mehr, was er selbst denken sollte.
Wie schon zuvor bei Lugan ließ König Scurr alle
Kinder
nach draußen vor die Ruine von Naravaack treten. Aus seinem
Zauberstab fuhr ein gewaltiger magischer Strahl, der einen der
Felsen der Umgebung bersten ließ. Scurr entwich ein irres Lachen.
Als er bemerkte, dass einige der jungen Männer zusammenzuckten,
wurde er still und beugte sich nach vorn.
»Ich kann das auch ohne Zauberstab«, flüsterte er,
und um dies zu beweisen, schloss er seine rechte Hand ruckartig zur
Faust, und im gleichen Moment zerriss es einen weiteren Felsen
regelrecht von innen heraus. »Ich könnte das auch mit euch machen,
vergesst das niemals!« Dies zu betonen war überflüssig.
Scurr blickte zu Ariac, und seine Miene verzog sich
zu einem bösartigen Grinsen. Diesmal hatte er wirklich eines von
Thondras Kindern.Vielleicht würden es noch mehr werden, dann konnte
er endlich alle Länder unterwerfen, und vielleicht gelang es ihm
sogar, die anderen, die auf Camasann waren, für sich zu gewinnen.
Mit den Sieben an seiner Seite würde sich niemand mehr gegen ihn
stellen. Die ganze Welt würde endlich ihm gehören.
Später, als Worran und Scurr allein waren, sagte
der König: »Wir müssen auf Ariac achten und Lugan geschickt
einsetzen.«
»Wie meint Ihr das?«, knurrte Worran.
»Ich habe von einem Spitzel die Nachricht bekommen,
dass Hawionn unseren Jungen befreien und zu sich holen will. Lugan
wäre sehr gut dafür geeignet, Camasann auszuspionieren. Dieser
Ariac wohl eher nicht, solange wir ihn nicht noch ein wenig
zurechtgestutzt haben. Falls Lugan auffliegt, wäre es auch nicht
das Schlimmste«, fügte Scurr gefühllos hinzu, »er ist ohnehin
keiner der Sieben und daher entbehrlich.«
Worran spuckte auf den Boden. »Ich habe Ariac
halbtot
geschlagen, habe ihn mit Essens- und Schlafentzug bestraft und
habe ihn nächtelang Wache halten lassen. Aber er fügt sich einfach
nicht. Diese verdammte Ratte ist einfach nicht kleinzukriegen!«,
schrie der Ausbilder. Was ihn noch viel wütender machte, war die
Tatsache, dass er Ariac jetzt nicht einmal mehr etwas antun konnte,
denn das würde Scurr nicht zulassen.
»Du sagtest, er hat ein zu weiches Herz und würde
bei Überfällen weder Bauern ausrauben noch Mädchen schänden?«
Worran nickte knurrend. Vor einiger Zeit hatten sie
Ariac mit nach Catharga genommen, doch er hatte sich auch unter
Androhung der Todesstrafe nicht dazu überreden lassen, auch nur
einen einzigen Bauern zu töten.
»Gut«, meinte Scurr und fuhr sich über die Narbe,
»dann brauchen wir etwas, das seinen Hass anstachelt. Wir müssen
ihn dazu bringen, freiwillig für uns zu kämpfen.«
»Das wird nicht gelingen«, knurrte Worran, doch
Scurr ließ sich nicht umstimmen, denn er hatte einen Plan.
Bald hörte man auch auf Camasann von den
Ereignissen in Ursann, und Hawionn wurde langsam nervös. »Fünf der
Sieben sind wiedergeboren, verdammt noch mal! Wir haben drei Jungen
und Scurr zwei. Vielleicht haben wir noch eines der Mädchen bei
uns?«
»Ich würde vermuten, dass es Saliah ist, aber auch
Rijana ist talentiert«, murmelte Brogan vor sich hin. »Nelja macht
sich auch gut, obwohl ich bei ihr eher das Gefühl habe, dass sie
der Zauberei zugetan sein könnte.«
Hin und wieder passierte es, aber nur in wenigen
Fällen, dass sich eines der Kinder als Zauberer herausstellte. So
war es bei Brogan selbst gewesen, und daher achtete er sehr genau
auf eventuelle Anzeichen, auch wenn sich die ganzen Fähigkeiten
meist erst mit dem Erwachsenwerden zeigten.
Hawionn nickte zerstreut, denn er hatte gar nicht
richtig zugehört. Sein Plan, Scurr seinen wertvollsten Besitz
abspenstig zu machen, würde bei zwei Kindern umso schwerer
umzusetzen sein. Trotzdem würde er sich nicht davon abbringen
lassen.
»Falkann, Broderick und Rudrinn sollen sich
bereitmachen. In zwei Tagen werden sie aufbrechen, damit sie helfen
können, die westliche Grenze zu Ursann zu verteidigen. Sollten ihre
Seelengefährten auftauchen, werden sie es als Erste merken.«
»Scurr hat sie verdorben, Ihr könnt doch nicht …«,
begann Brogan erneut, doch Hawionn unterbrach ihn donnernd.
»Es ist entschieden!«
»ICH werde ihnen diese Botschaft aber ganz sicher
nicht überbringen«, rief Brogan wütend und stürmte aus dem
Raum.
Hawionn zog missbilligend seine Augenbrauen
zusammen. Er nahm sich die drei magischen Umhänge, die für die
auserwählten Jungen bestimmt waren, und machte sich selbst auf den
Weg zu den Unterkünften. Die wenigen Soldaten, die noch dort
untergebracht waren, blieben wie erstarrt stehen, als sie Hawionn
sahen. Es kam nicht sehr häufig vor, dass das Oberhaupt der Insel
persönlich in den Unterkünften der Krieger erschien.
Hawionn steuerte zielstrebig auf Falkann, Broderick
und Rudrinn zu, die am Feuer saßen und sich unterhielten.
Die drei standen erstaunt auf, als der alte,
mächtige Zauberer sich näherte.
»Ich habe eine Aufgabe für euch«, begann er ernst.
»Ihr werdet in einigen Tagen aufbrechen und an die Grenze von
Ursann reiten und helfen, Catharga zu verteidigen.«
»Deine Heimat«, meinte Broderick grinsend und stieß
Falkann in die Seite, der nachdenklich nickte.
Zauberer Hawionn gab ihnen jeweils einen Umhang mit
den Worten: »Macht euch bereit, denn das wird eure erste Aufgabe
sein.«
»Aber es ist bald Winter«, knurrte Rudrinn, der
noch immer nicht ganz überzeugt davon war, dass er einer der Sieben
sein sollte.
Der Zauberer sah ihn so eindringlich an, dass sich
ihm die Nackenhaare aufstellten.
»In zwei Tagen«, sagte Hawionn, bevor er auch schon
wieder verschwunden war.
»Toll«, knurrte Rudrinn, »ich habe nicht einmal
eines der magischen Schwerter.«
Rudrinn hatte nicht dieses besondere Gefühl gehabt,
das seine beiden Freunde gespürt hatten, als sie ihre Schwerter zum
ersten Mal berührt hatten. Anscheinend befand sein Schwert sich
nicht auf der Insel. Zudem musste das einzige noch übrige Schwert
sowieso in der Schule bleiben, damit auch die anderen Kinder dem
Test unterzogen werden konnten.
»Die auf der Insel gefertigten Schwerter sind
ebenfalls gut, mach dir nichts draus«, meinte Falkann beruhigend.
»Wir sollten es Tovion und den Mädchen sagen«, fügte er ernst
hinzu.
»Es ist schon dunkel, wir dürfen nicht mehr raus«,
wandte Rudrinn ein.
»Seit wann hältst du dich denn an Vorschriften?«,
fragte Broderick grinsend.
Also schlichen die drei Freunde sich hinaus in die
kalte und regnerische Nacht. Über den Hof erreichten sie rasch den
Haupteingang und schlichen die Treppen hinauf. Unterwegs trafen sie
auf Zauberer Tomis, der mit einer Zipfelmütze bekleidet durch die
Gänge schlurfte. Scheinbar hatte er sich einen Schlaftrunk besorgt,
doch die drei drückten sich rasch in eine Ecke, sodass der alte
Zauberer sie nicht entdeckte.
Zuerst klopfte Rudrinn an die Tür eines der
Jungenschlafsäle.
Tovion kam sofort heraus und schloss sich ihnen an, dann lief
Falkann hinauf zu den Mädchen.
Die kleine Ellis öffnete, und Falkann flüsterte nur
kurz: »Sei bitte leise, und hol Saliah, Rijana und Nelja.«
Die drei kamen kurz darauf mit ihren Umhängen
heraus und folgten Falkann nach unten, wo sie auf die anderen
trafen. Die sieben Freunde schlichen sich hinunter in einen der
verlassenen Gemeinschaftsräume, in dem nur noch ein beinahe
heruntergebranntes Feuer leuchtete. Als Falkann die Neuigkeiten
verkündete, wirkten die Mädchen und auch Tovion betrübt.
Saliahs strahlend blaue Augen füllten sich mit
Tränen. »Ihr müsst wirklich gehen? Aber … es ist doch gefährlich,
in der Nähe von Ursann zu sein. All die Orks und dann auch noch
Scurrs Soldaten.«
Falkann nahm sie zärtlich in die Arme. »Dafür sind
wir doch ausgebildet worden, und dass wir eines Tages werden
kämpfen müssen, war uns allen klar.«
Sie schluckte die Tränen tapfer herunter, dann sah
sie ihre Freunde und ganz besonders Falkann mit ernster Miene an.
»Kommt bald zurück!«
Die drei hätten ihr darauf gerne ihr Wort gegeben,
wenn es in ihrer Macht gestanden hätte. Doch sie wussten, dass ihre
Zukunft ungewiss war. Dann zog Broderick einen der Umhänge heraus,
die ihnen Hawionn gegeben hatte. »Seht mal, das Ding ist klasse«,
meinte er grinsend. »Genau so einen Umhang hat Hawionn auch. Er
dient zur Tarnung, weil er jeweils die Farbe der Umgebung annimmt.
Damit sieht man uns kaum, wenn wir uns verstecken müssen.« Er
zeigte den Umhang aus ganz feinem, weichem Stoff herum. Aber auch
das konnte sie alle nicht wirklich aufheitern.
Als am übernächsten Morgen Falkann, Broderick und
Rudrinn, begleitet von dreißig Kriegern, auf ihren Pferden saßen,
konnte die übrigen Freunde nur beruhigen, dass sich
auf dem Festland weitere fünfzig Krieger anschließen würden.
Saliah gab Falkann einen ganz schüchternen Kuss und schenkte ihm
ein Paar mit Schafswolle gefütterte Handschuhe, die sie in den
letzten Nächten im Schein einer Kerze genäht hatte.
»Damit du nicht frierst. Es wird doch bald Winter«,
meinte sie verlegen.
Falkann lächelte ihr noch einmal zu. Allen war
bewusst, dass es mehr als ungewiss war, ob sie sich jemals
wiedersehen würden. Dann ritten die drei langsam den Berg hinunter.
Saliah, Rijana, Tovion und Nelja blieben auch dann noch vor dem Tor
stehen, als man von den dreien schon lange nichts mehr sehen
konnte. Ihnen blieb nur zu hoffen, dass dies nicht ein Abschied für
immer gewesen war.
Brogan hatte alles von einem der obersten
Turmzimmer beobachtet. Er war nach wie vor gegen die Abreise.
Hawionn hatte überall verkünden lassen, dass sich die Kinder
Thondras dem Kampf gegen König Scurr anschlossen, denn er hoffte,
dass auch Scurr nun seine zwei Jungen einsetzen würde. Aber das war
gefährlich, wie Brogan fand. Scurr würde versuchen, die drei zu
töten oder zu fangen, da war er sich beinahe sicher. Doch er war ja
nicht das Oberhaupt dieser Schule. Er durfte nicht
entscheiden.
So kurz vor Wintereinbruch schafften es die drei
Freunde, begleitet von den älteren Soldaten, nicht einmal bis zur
Brücke, die Catharga mit Balmacann verband. Hatten sie ihre
Ausbildung schon als hart empfunden, so wurden sie nun richtig
gefordert und an die Grenzen ihrer Kräfte gebracht. Es war
bitterkalt. Eisige Stürme fegten über das Land, und nicht immer
konnten sie rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit das nächste
Dorf erreichen. So mussten sie häufig in der Eiseskälte, in Sturm,
Regen und Wind draußen schlafen. Hungrige Wölfe, die in den wenigen
Wäldern keine Nahrung
mehr fanden, griffen sie an. Ihre Fähigkeiten im Kampf wurden nun
auf die Probe gestellt. Falkann, Broderick und Rudrinn hielten sich
tapfer. Sie hatten eine gute Ausbildung genossen, doch nicht selten
wünschten sie sich zurück nach Camasann. Der Schnee lag schon
kniehoch, als sie in einem Dorf nahe der Brücke bleiben mussten, da
diese unpassierbar war. Gigantische Wellen spülten um diese
Jahreszeit unentwegt über die Brücke, sodass es einfach zu
gefährlich war, die lange Überquerung in Angriff zu nehmen. Sie
mussten wohl oder übel warten, bis das Wetter besser werden
würde.
Seitdem Ariac sich als einer der Sieben
herausgestellt hatte, wurde sein Leben ein klein wenig angenehmer.
Er hatte nun ein eigenes, wenn auch sehr ärmliches Zimmer, in dem
sogar ein Bett aus Stroh stand. Regelmäßig bekam er warmes und
nahrhaftes Essen, was besonders Worran missfiel, doch Scurr hatte
darauf bestanden. So wurde aus dem mageren, sehnigen Jungen im
Laufe des Winters ein stattlicher junger Mann, der durchtrainiert
und gutaussehend wirkte. Scurr redete immer wieder eindringlich auf
ihn ein, versuchte ihm zu erklären, dass nicht er der Böse war,
sondern Hawionn und die anderen Zauberer ebenso wie die Könige der
anderen Länder. Angeblich würden sie ihm, Scurr, und damit auch
Ariac Reichtum und Anerkennung vorenthalten.
»Du weißt doch, dass sie das Steppenvolk
verachten«, erklärte Scurr mal wieder eines Abends, als er zusammen
mit Ariac vor dem Feuer saß, was dem jungen Mann aus der Steppe
überhaupt nicht behagte.
»Das weiß ich«, knurrte Ariac nur und bemühte sich,
König Scurr nicht in die unheimlichen Augen zu sehen. »Aber das
scheint hier ja auch nicht anders zu sein.«
»Hab ich dich jemals anders behandelt als die
anderen Kinder?«, fragte Scurr ernst.
Ariac wurde unsicher, denn das konnte er nicht
direkt behaupten.
Allerdings hatte Scurr auch nichts gegen Worrans Foltermethoden
getan.
Der König fasste Ariac, was diesem mehr als
unangenehm war, am Arm. Es fühlte sich an wie der Griff des
Todes.
»Ich weiß, unsere Ausbildung ist hart, aber sie ist
notwendig, wenn wir gegen Hawionn und die anderen bestehen wollen.«
Er zwang Ariac, ihm in die Augen zu sehen, sodass dieser nur knapp
ein Würgen unterdrücken konnte. »Entbehrungen machen einen Mann nur
hart und stark.« Scurrs unheimliche Augen schienen sich geradezu in
die des jungen Steppenkriegers hineinzubohren. »König Greedeons
Krieger hassen die Steppenleute. Sie wollen ihnen ihre Art zu leben
aufzwingen.«
»Und hier auf Naravaack ist das Steppenvolk
selbstverständlich hoch angesehen«, erwiderte Ariac zynisch.
Lautlos fluchend sah Scurr Ariac weiterhin
eindringlich an. »Sie töten das Steppenvolk, denn sie wollen es
ausrotten …«
Ariac erhob sich ruckartig. »Entschuldigt bitte,
aber ich bin müde.«
Damit verließ er den Raum, wobei er sich sehr darum
bemühte, nicht zu rennen. In Scurrs Anwesenheit fühlte er sich
immer mehr als unwohl, und glauben konnte er dem unheimlichen König
sowieso kein Wort. Er hatte Brogan kennen gelernt, der ihm wie ein
ehrenvoller Mann vorgekommen war. Allerdings konnte Ariac auch
nicht verhehlen, dass er manchmal versucht war, Scurr zu glauben.
Was, wenn er Recht hatte? Was, wenn sein Steppenvolk in Gefahr
war?
König Scurr zischte verärgert, als Ariac
fluchtartig den Raum verließ. Der Junge war ein harter Brocken, da
hatte Worran Recht.