KAPITEL 4
Camasann
Rijana und Rudrinn wurden erst einige Zeit nach Sonnenaufgang von Brogan geweckt. Sie hatten beide so tief und fest geschlafen wie schon lange nicht mehr. Der Zauberer führte sie die Treppe hinab in einen großen Saal, wo an vielen hölzernen Tischen über hundert Kinder und mit Sicherheit zweihundert erwachsene Krieger saßen.
»Das hier«, erklärte Brogan, »ist unser Speisesaal. Auf der linken Seite sitzen die Kinder, rechts die Soldaten, die nicht Wache halten oder nicht gerade in den Ländern unterwegs sind. Sucht euch einen Platz und nehmt euch, so viel ihr wollt.«
Am Rande des großen Saales standen Körbe mit Brot, Käse, Obst und Wurst. Rijana staunte. So viel zu essen hatte sie noch nie gesehen. Auch Rudrinn wirkte plötzlich etwas unsicher, vor allem, da die anderen Kinder sie neugierig anstarrten. Die beiden nahmen sich etwas von den Leckereien, setzten sich ganz hinten an das leere Ende eines Tisches und aßen, bis sie satt waren. Um sie herum wurde getuschelt und geredet. Rijana fiel auf, dass nur sehr wenige Mädchen hier waren. Sie konnte zwar nicht gut zählen, aber es waren nicht einmal zwei Handvoll.
Als alle Kinder gegessen hatten, kam Brogan zu Rijana und Rudrinn und sagte den beiden, dass sie sich erheben sollten. Anschließend führte er sie ans Ende des Saales, wo ein Podest stand. Als wäre er durch die Wand gekommen, stand plötzlich der große Zauberer im Raum. Rijana und Rudrinn hatten ihn bereits am letzten Abend gesehen, und nun musterte er sie mit stechendem Blick.
»Ruhe bitte!«, dröhnte Brogans Stimme durch den Saal, und augenblicklich verstummten alle Gespräche. »Ich möchte Euch zwei neue Gefährten vorstellen. Das hier ist Rijana, sie kommt aus Northfort, und der junge Mann hier ist Rudrinn, er stammt von den Inseln.«
»Ein Pirat«, tönte die Stimme eines Jungen durch den Raum, der etwas zu laut gesprochen hatte und nun knallrot anlief.
»Sehr richtig«, sagte Brogan streng, und der Junge wurde immer kleiner unter dem Blick des Zauberers. »Ich möchte, dass ihr die beiden gut aufnehmt und mit Respekt behandelt.«
Alle nickten zustimmend, obwohl Brogan wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Neuankömmlinge akzeptiert werden würden. Nun trat Hawionn vor.
»Ich bin Zauberer Hawionn, das Oberhaupt der Schule«, sagte er streng. »Wir werden uns später in meinem Zimmer allein unterhalten. Nun bekommt ihr erst einmal einen Mentor zugewiesen, der euch alles zeigen wird.« Er blickte sich um, dann deutete er mit der Hand auf einen fünfzehnjährigen Jungen mit rötlichen Haaren. »Firon, du wirst dich um Rudrinn kümmern.«
Der schlaksige Junge kam langsam näher und nickte dem Piratenjungen unsicher zu, der ein wenig begeistertes Gesicht machte.
»Und du, Falkann«, sagte das Oberhaupt der Schule bestimmt zu einem gutaussehenden, großen Jungen mit dunkelblonden Haaren, »bist für Rijana verantwortlich.«
Ein Raunen ging durch den Saal. Falkann war der Sohn des Königs von Catharga und bei den meisten sehr beliebt.
Der fünfzehnjährige Falkann ging zu der wesentlich kleineren Rijana und legte ihr freundschaftlich einen Arm auf die Schulter. »Komm mit, ich zeige dir die Unterkunft der Mädchen.«
Die Kleine warf Brogan noch einen unsicheren Blick zu, dann folgte sie Falkann, der zielsicher durch den Speisesaal auf eine der hohen, hölzernen Türen zuging.
»Ich bin schon hier, seitdem ich sechs Jahre alt bin«, erzählte Falkann, als die beiden durch das verwinkelte Schloss mit den vielen Türmen und Treppen liefen. Rijana verlor schon nach kurzer Zeit die Orientierung. An den Wänden hingen überall Fackeln und viele Bilder, die Krieger auf edlen Pferden und Schlachten zeigten. Rijana betrachtete das alles ehrfürchtig. Sie war noch nie in einem Schloss gewesen.
»Wahrscheinlich hättest du lieber ein Mädchen als Mentor gehabt, aber wir haben leider nur drei größere Mädchen, und die sind alle schon Mentorinnen für die Kleineren«, sagte er bedauernd und hob anschließend die Augenbrauen. »Ich hoffe, du hast keine Angst vor mir.«
Rijana schüttelte entschieden den Kopf. Das alles hier verunsicherte sie zwar furchtbar, aber vor Falkann hatte sie wirklich keine Angst. Die beiden stiegen weiter den hohen Turm hinauf. An einer hölzernen Tür, an der getrocknete Sommerblumen hingen, hielt Falkann an und öffnete sie. Sie traten in einen hellen Raum mit vielen Nischen. In den Ecken standen fünf Betten. Durch eine weitere Tür kam man in einen zweiten Raum, wo ebenfalls fünf Betten zu finden waren.
»Normalerweise darf ich hier nicht hinein«, sagte Falkann mit einem frechen Grinsen, »aber ich denke, heute ist eine Ausnahme. Zwei Betten sind noch frei. Du darfst dir eines aussuchen.« Er deutete auf eines der Regale, die an den Wänden angebracht waren. »Hier kannst du deine Sachen reinlegen.«
Rijana blickte verschämt zu Boden. »Ich habe nichts dabei.«
Falkann war etwas überrascht, sagte dann aber freundlich: »Das macht nichts, dann bekommst du Kleider von der Schule. So, jetzt gehe ich mal lieber, denn die anderen Mädchen werden gleich hier sein.«
Rijana nickte, und plötzlich kämpfte sie mit den Tränen. Sie kam sich hier so allein und fehl am Platz vor, doch sie drehte sich rasch um, damit Falkann ihre Tränen nicht sah. Er wollte gerade zur Tür hinausgehen, als zwei Mädchen den Raum betraten. Eine war sehr groß und schlank, wahrscheinlich beinahe siebzehn Jahre alt, die andere wohl etwa in Rijanas Alter mit einem sehr hübschen Gesicht und strohblonden, gelockten Haaren. Rijana erinnerte sie ein wenig an ihre Schwestern.
»Was tust du denn hier?«, kreischte die Rothaarige und begann, mit einer Decke nach Falkann zu schlagen, der lachend die Hände hob, um die Schläge abzuwehren.
»Ich habe nur Rijana ihr Bett gezeigt, sonst nichts«, rechtfertigte er sich und verschwand rasch, als das ältere Mädchen ihn entschieden nach draußen schob.
»Viel Glück mit diesen Hyänen, Rijana«, rief er noch lachend, als ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde.
Das rothaarige Mädchen schüttelte empört den Kopf. »Er ist unmöglich! Aber sein bester Freund Broderick ist noch schlimmer.« Dann meinte sie zu Rijana: »Mein Name ist Ronda.«
Rijana sah unsicher zu der Älteren hinüber. Das hübsche blonde Mädchen kam gleich auf sie zu und lächelte sie aufmunternd an. »Ich heiße Saliah. Hast du dir schon ein Bett ausgesucht?«
Rijana zuckte mit den Schultern, dann ging sie zu einem der einfachen Holzbetten in einer Nische unter dem Fenster. Von dort aus konnte man auf das Meer hinaussehen. »Ich nehme das hier.«
Saliah nickte lächelnd. »Du bekommst später Kleider, Rock und Bluse für die Abende und Lederhosen, Hemd und Stiefel für die Ausbildung zur Kriegerin«, erklärte sie anschließend.
Rijana kam das alles noch immer total verrückt vor. Saliah legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Keine Angst, Rijana. Am Anfang findet man alles ein wenig erschreckend, und ich muss zugeben, die Ausbildung ist hart, aber alle hier sind sehr nett, und mit der Zeit gewöhnt man sich auch an das Reiten und an das Kämpfen.«
Rijana zögerte: »Wie lange bist du denn schon hier?« »Zum Jahreswechsel werden es zwei Jahre. Als ich acht war, haben meine Eltern mich hergebracht, damit ich getestet werde«, antwortete sie, als wäre es das Normalste der Welt.
»Sie haben dich hergebracht?«, fragte Rijana erstaunt.
Ronda grinste und schnitt eine Grimasse. »Saliah ist eine Adlige, bei denen ist das so. Na ja, eigentlich hätte sie schon mit sechs herkommen sollen, aber sie wollten ihre kleine Prinzessin wohl ein wenig länger behalten«, neckte Ronda das hübsche blonde Mädchen. Daraufhin ging Saliah auf die Ältere los und jagte sie durch den Raum. Es war jedoch nur freundschaftliches Geplänkel, denn eigentlich waren Ronda und Saliah gute Freundinnen.
Rijana kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie wurde hier also gemeinsam mit Adligen ausgebildet – unglaublich.
»Keine Angst, ich bin ganz normal«, beruhigte Saliah sie rasch, nachdem sie von Ronda abgelassen hatte. »Außerdem komme ich nur aus einem sehr kleinen Adelshaus in Catharga. Falkann dagegen«, sie grinste, »der ist der Sohn des Königs.«
Rijana schluckte. Sie konnte es nicht fassen – ausgerechnet ihr Mentor war ein Königssohn!
»Ich kann nicht einmal schreiben«, murmelte sie und war schon wieder den Tränen nahe.
»Das lernst du hier alles«, sagte Saliah beruhigend.
Ronda zog ihre sommersprossige Nase hoch. »Zauberer Tomis ist zwar furchtbar langweilig, aber bei ihm hat es noch jeder gelernt.«
Rijana nickte und setzte sich auf ihr Bett. Nun kamen nach und nach sechs weitere Mädchen herein, die sich einzeln vorstellten. Zwei waren wie Ronda beinahe siebzehn, eine fünfzehn und zwei weitere Mädchen sechzehn. Nur ein sehr kleines Mädchen mit lockigen, braunen Haaren war jünger als Rijana. Sie war noch nicht lange hier und hieß Ellis.
Alle nahmen Rijana, die sich langsam ein wenig entspannte und den Geschichten aus der Schule aufmerksam lauschte, wohlwollend auf.
Nach einiger Zeit klopfte es an der Tür, und eine gewaltige, sehr breite Frau mit einem freundlichen Gesicht erschien. Ihre leicht ergrauten Haare hatte sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Mit den Armen voller Decken und Kleider trat sie ein. Mit einem breiten Lächeln legte sie die Sachen auf das freie Bett. Dann nahm sie die überraschte Rijana in den Arm und drückte sie an ihren gewaltigen Busen.
»Willkommen, mein Kind, ich bin Birrna. Wenn du irgendwelche Probleme hast oder diese gackernden Weiber dich ärgern, dann komm zu mir.«
Empörte Rufe waren zu hören, doch Birrna setzte ein strenges Gesicht auf. »Ärgert mir die Kleine nur nicht, sie ist sicher kaum älter als sechs Jahre.«
»Ich bin acht Jahre alt«, stellte Rijana richtig und streckte sich, um ein wenig größer zu wirken.
Birrna stemmte ihre Hände in die breiten Hüften und schüttelte den Kopf. »Na, du bist viel zu dürr, hast wohl nicht genug zu essen bekommen. Aber ich werde dich schon aufpäppeln.« Lächelnd zog sie ein Stück Kuchen aus ihrer Tasche heraus und reichte es der überraschten Rijana.
Die biss vorsichtig hinein, und ein Strahlen überzog ihr Gesicht – so etwas Gutes hatte sie noch nie gegessen.
»Pass nur auf, sonst siehst du bald aus wie Birrna«, meinte Ronda frech grinsend, worauf Birrna das Mädchen am Ohr packte.
»Sei nicht so vorlaut, aus dir wird ohnehin nie eine anständige Frau mit Rundungen an der rechten Stelle.« Sie seufzte. »Aber das ist bei dem harten Training auch kein Wunder. So etwas mit jungen Mädchen zu machen …« Birrna schüttelte anklagend den Kopf, dann wandte sie sich zum Gehen. »Gut, es gibt die Morgenmahlzeit nach Sonnenaufgang und zu Sonnenuntergang etwas Warmes. Um die Mittagszeit seid ihr meist unterwegs, dann kannst du dir etwas in der Küche abholen, aber das werden dir die anderen dann schon zeigen.«
Rijana nickte und betrachtete die neuen Kleider. Nun kam ihr das eigene, mehrfach geflickte und ausgeblichene Kleid noch erbärmlicher vor. Sie hatte zwei Lederhosen, zwei dünne Leinenhemden für den Sommer und zwei dicke für den Winter bekommen. Außerdem einen langen sandfarbenen Rock, wie ihn die meisten anderen Mädchen trugen, und zwei weiße Blusen mit leicht ausgestellten Ärmeln. So schöne Kleider hatte sie noch nie gehabt. Außerdem lagen ganz unten ein dünner Sommerumhang und ein dicker aus Wolle für den Winter. Beide hatten eine dunkelgrüne Farbe.
»Los, zieh dich um«, Ronda grinste, »dann zeigen wir dir die Insel.«
Auch die anderen Mädchen waren bester Laune. Nur die kleine Ellis seufzte, sie wusste, was Rijana jetzt bevorstand. Rijana zog sich hinter einem Umkleidevorhang die Lederhose und das Hemd an. Das Ganze band sie mit einem Ledergürtel zusammen. Sie hatte außerdem halbhohe Lederschuhe zum Schnüren bekommen.
»Warte, ich flechte dir die Haare«¸ bot Saliah an, »hier auf der Insel weht immer ein starker Wind.«
Kurz darauf machten sich alle Mädchen lachend und schwatzend auf den Weg nach unten. Auf der Treppe traf Rijana auf Rudrinn, der in seinen neuen Kleidern, die denen von Rijana ähnelten, nicht sehr glücklich wirkte. Er quetschte sich durch die Jungen und knurrte Rijana zu: »Ich sehe aus wie ein Narr!«
Die schüttelte den Kopf. »Finde ich gar nicht, du siehst doch gut aus«, entgegnete sie ehrlich.
Rudrinn zupfte genervt an seinem Hemd herum – solche Kleider war er einfach nicht gewohnt.
Von überall her strömten Kinder, die sich der Gruppe anschlossen. Nur etwa dreißig Jungen, im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren, hatten sich in der Halle unter der Aufsicht eines großen, durchtrainierten Mannes versammelt. Er hatte ein schmales Gesicht und einen schwarzen Bart, der nur sein Kinn bedeckte.
Falkann drängte sich zu Rijana durch und betrachtete sie zufrieden. »Gut, du hast deine Kleider schon, dann hast du sicher schon Birrna, die gute Seele des Schlosses, kennen gelernt. Sie ist die Hausmutter und Köchin.«
Rijana nickte und lief in dem Pulk weiter die Treppen hinunter.
»Der Mann dort unten«, Falkann deutete auf den Schwarzhaarigen, »ist Schwertmeister Tharn. Er und gelegentlich auch Brogan sind für die Kampfausbildung verantwortlich. Tharn ist sehr streng. Du solltest dich lieber gut mit ihm stellen.«
Rijana schaute den großen Mann neugierig an, der sie eindringlich musterte, als sie vorbeiging. Er hatte wie die Jungen, die ihm folgten, ein langes schlankes Schwert an der Hüfte hängen.
»Du bekommst in den nächsten Tagen ein Holzschwert zum Trainieren, außerdem einen Dolch und einen Bogen«, erzählte Falkann. »Wenn du etwas älter bist, dann bekommst du auch ein richtiges Schwert und ein Pferd.«
»Ich bekomme ein eigenes Pferd?«, fragte Rijana überrascht.
»Na ja, nicht ganz allein, denn es müssen sich immer drei Kinder ein Pferd teilen, weil sonst zu viele Pferde auf der Insel wären.«
Rijana war begeistert.
Endlich hatte die ganze Gruppe das Schloss verlassen. Über weiche grüne Wiesen spazierten sie hinab in ein Tal. In der Ferne sah Rijana einige Pferde grasen. Sie fragte sich, welches davon ihres werden würde.
Auf einem Hügel sah man, wie Tharn mit den Jungen trainierte. Sie kämpften in Zweiergruppen, und Tharn erteilte immer wieder Befehle.
Die restlichen neunzig Kinder, die gerade keinen Unterricht hatten, liefen lachend und sich immer wieder anstoßend hinter Rijana und Rudrinn her. Die beiden Neuankömmlinge wurden nun auf einen Fluss zugetrieben, der den westlichen Hügeln entsprang. Rijana wollte etwas fragen, doch Falkann war plötzlich verschwunden.
»Wo führen die uns denn hin?«, fragte Rudrinn ungehalten und drehte sich um.
Sie näherten sich einem sehr felsigen und kargen Berg, der in der Mitte gespalten war. Eine Schlucht teilte den Felsen in zwei Hälften. Alle kletterten hinauf. Hier oben wehte ein starker Ostwind.
»So«, erklärte einer der ältesten Jungen, der aus Gronsdale kam, »ihr müsst über die Schlucht springen oder balancieren. Das ist eine Mutprobe, damit ihr offiziell aufgenommen werdet.«
»So ein Blödsinn«, knurrte Rudrinn, nahm jedoch Anlauf und sprang mit Leichtigkeit über den Spalt zwischen den Felsen, unter dem ein wild schäumender Bach rauschte. Kurz darauf war er auf der anderen Seite angekommen.
Rijana schluckte. Ihre Beine waren viel zu kurz, um hinüberzuspringen. Zögernd ging sie auf den schmalen Baumstamm zu, der über dem Felsspalt lag, schloss kurz die Augen und blickte in die Tiefe. Ihr wurde schwindlig, doch sie wollte sich nicht vor den anderen blamieren und balancierte mutig hinüber. Die Kinder klatschten laut, als sie wieder bei ihnen war.
»Sehr schön«, verkündete der große Junge, »dann gehen wir jetzt hinunter zum Fluss.«
Die ganze Gruppe machte sich an den Abstieg. Auf einer mit Blumen übersäten Wiese gingen sie näher ans Ufer heran. Ganz überraschend wurden Rudrinn und auch Rijana von jeweils zwei älteren Jungen gepackt.
»Hey, was soll das?«, schrie Rudrinn, während er um sich trat. Zwei weitere Jungen mussten zu Hilfe kommen.
Ein relativ kleiner, breiter Junge, der bereits den Flaum eines beginnenden Bartes im Gesicht hatte, rief lachend: »Auf in den Fluss!«
Ehe sich Rijana und Rudrinn versahen, landeten sie mit einem lauten Platschen in dem eiskalten Wasser. Beiden blieb kurz die Luft weg. Die kleine Rijana wurde ein wenig flussabwärts getrieben, während Rudrinn bereits wutschnaubend ans Ufer schwamm, hinauskletterte und dem erstbesten Jungen ein blaues Auge verpasste.
Rijana schluckte immer wieder Wasser, aber zum Glück konnte sie schwimmen und kam ganz langsam ans Ufer. Falkann tauchte heftig atmend auf. Er war Rijana hinterhergerannt und streckte ihr nun die Hand entgegen, um ihr ans Ufer zu helfen. Doch Rijana ignorierte diese freundliche Geste und kletterte zitternd, klatschnass und wütend das steinige Ufer hinauf, wobei sie sich ein Knie aufschürfte.
Falkann hielt ihr seinen Umhang hin. »Jetzt komm schon«, sagte er, »sei nicht beleidigt. Das ist bei uns schon seit über hundert Jahren Tradition, nun gehörst du zu uns.«
Rijana schnaubte verächtlich und begann mit tropfenden Kleidern in Richtung Schloss zu laufen. Falkann folgte ihr und hielt sie an.
»Ich bin vor über neun Jahren auch im Wasser gelandet«, er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, »und ich hatte nicht so viel Glück wie du, denn ich bin im Frühling angekommen, es hat sogar noch Schnee gelegen. Ich hatte Eiszapfen an der Nase, als ich wieder zurück im Schloss war.«
Daraufhin musste Rijana lachen, nahm den angebotenen Umhang an und wickelte sich hinein.
»Blöde Tradition«, sagte sie niesend. »Wie viele sind denn schon dabei ertrunken?«
»Oh, es hält sich in Grenzen«, erwiderte Falkann verschmitzt.
Schon von weitem hörte man Rudrinn schimpfen und toben. Er schlug wild um sich und schien sich gar nicht mehr zu beruhigen. Rijana lief auf ihn zu und stellte sich vor den tobenden Piratenjungen.
»Rudrinn, hör auf, das ist Tradition. Alle, die hier stehen, sind schon im Wasser gelandet«, rief sie laut, und nach kurzer Zeit hielt Rudrinn tatsächlich inne.
Er blickte das kleinere, tropfnasse Mädchen überrascht an und rief dann mit wütend gerunzelter Stirn: »Wenn ihr noch einmal so etwas macht, ihr verfluchten Bastarde, dann reiße ich euch die Gedärme raus und verfüttere sie an die Aasgeier!«
Vielen der Kinder, die größtenteils aus Adelshäusern stammten, entfuhren empörte Ausrufe, aber einige, die in Schenken oder ärmeren Dörfern aufgewachsen waren, grinsten verständnisvoll. Auch der Junge, dem Rudrinn ein Veilchen verpasst hatte, kam lachend näher und schlug dem Piratenjungen auf die Schulter.
»Jetzt komm schon, ein bisschen Wasser schadet doch nicht, und als Pirat solltest du das gewöhnt sein. Mein Name ist Broderick, und ich komme aus Errindale. Du kannst mir sicher noch einige Schimpfwörter und Flüche beibringen, was?«
Rudrinn runzelte die Stirn, nickte aber schließlich. Der kleinere, breitere Junge, der in demselben Saal schlief wie Rudrinn, war ihm spontan sympathisch. An Broderick war eigentlich alles breit. Die Schultern, das Gesicht und vor allem das Grinsen, das sein Gesicht häufig überzog.
Firon, Rudrinns Mentor, kam langsam näher. »Los, du solltest dich umziehen, sonst wirst du noch krank.«
»Das geht dich gar nichts an«, schimpfte Rudrinn, nahm Rijana an der Hand und eilte mit ihr zusammen zum Schloss.
Am Eingang wurden sie sogleich von Birrna begrüßt, die ihnen einen Becher mit dampfendem Tee hinhielt. Sie schüttelte den Kopf. »Immer das Gleiche. Sie können es einfach nicht lassen!«
Rijana grinste nur, inzwischen war sie niemandem mehr böse. Rasch zog sie sich um und rannte anschließend die Treppen hinunter, wo sie auf den grantigen Rudrinn traf. Auf halbem Weg nach draußen kam ihnen Brogan entgegen. »Na, habt ihr den Aufnahmeritus überstanden?«
Rijana nickte und grinste, während Rudrinn noch immer vor sich hin knurrte.
»Seht euch heute noch ein wenig um, ab morgen beginnt eure Ausbildung«, erklärte der Zauberer. »Am Morgen lernt ihr Lesen und Schreiben, am Nachmittag findet Reiten, Schwertkampf- und Bogenschießtraining statt. Später kommen noch andere Kampftechniken, Schwimmen und Ausdauertraining hinzu.«
Rudrinn schnaubte verächtlich. »Ich kann Seekarten lesen, das reicht.«
»Nein, das tut es nicht«, erwiderte Brogan mit strengem Blick. »Und nun geht, und seht euch um.«
Die beiden verschwanden nach draußen und sahen sich die nähere Umgebung des Schlosses an. Unterhalb des Hügels lag ein kleiner See, in dem nun einige Kinder schwammen. Eine Gruppe von dreißig Jungen ritt gerade unter der Führung eines großen weißhaarigen Mannes vorbei. Der große Mann hielt seinen imposanten hellgrauen Hengst an und beugte sich zu den beiden Kindern herunter.
»Ihr seid die Neuen, nicht wahr? Ich bin Rittmeister Londov. Könnt ihr schon reiten?«, fragte er mit einer sehr rauen und eigentümlichen Aussprache. Er war vor beinahe vierzig Jahren aus Gronsdale hierhergekommen und unterrichtete die jungen Krieger im Reiten.
Bevor Rijana etwas erwidern konnte, sagte Rudrinn verächtlich: »Ich brauche das nicht, schließlich bin ich ein Pirat.«
Rittmeister Londov hob seine schneeweißen Augenbrauen. »Du wirst Gefallen daran finden.«
Rudrinn machte nur ein abwertendes Geräusch und wandte sich ab.
»Ich möchte gerne richtig Reiten lernen«, sagte Rijana und streckte vorsichtig eine Hand nach dem großen Pferd aus.
Rittmeister Londov schenkte ihr ein Lächeln und trieb sein Pferd an. Die Gruppe galoppierte geschlossen einen Hügel hinauf, wo sie anschließend Lanzenstechen übten. Eine Zeit lang sahen Rijana und Rudrinn aus der Ferne zu, dann liefen sie den Berg hinab und strichen eine Weile ziellos durch den Wald, der unterhalb des Schlosses lag. Rijana sog die frische klare Luft ein und bewunderte die vielen kleinen Blumen, die am Boden blühten. Hier war alles so friedlich, fast so wie im Wald zu Hause. Es war beinahe Abend, als die beiden ins Schloss zurückkehrten. Sie gingen in ihre Räume und bald darauf mit den anderen zusammen zum Abendessen.
Falkann passte Rijana an der Tür zum Speisesaal ab. »Ihr wart lange fort.«
Rijana nickte und blickte zu Falkann auf. »Wir haben uns ein wenig umgesehen.«
»Bist du noch beleidigt?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und deutete anschließend grinsend auf Rudrinn, der sich gerade mit einem Jungen stritt. »Er aber schon.«
Falkann seufzte, dann deutete er auf einen der Tische, an dem unter anderem auch Saliah und Broderick saßen. »Möchtest du dich zu uns setzen?«
Rijana blickte sich unsicher nach Rudrinn um, doch der wurde gerade von Firon zu einem der anderen Tische gezerrt.
»Ja, gerne«, antwortete sie.
Heute gab es frischen Hirschbraten, Kartoffeln und Gemüse. Rijana staunte. So gutes Essen hatte sie noch nie gehabt, nicht einmal beim Herbstfest zu Beginn des neuen Jahres.
»Bald ist das Neujahrsfest«, erklärte Falkann beim Essen, »dann werden die Siebzehnjährigen geprüft. Es gibt immer ein Festessen, Musik und Tanz. Das wird dir gefallen.«
Rijana war überrascht. Es sollte noch besseres Essen geben?
»Dieses Jahr wird auch Ronda geprüft«, sagte Broderick mit vollem Mund. »Möge Thondra verhindern, dass sie eine der Sieben ist, sonst sieht es schlecht für die Länder aus.«
Ronda streckte ihm die Zunge heraus. »Lass dir erst mal einen Bart wachsen, bevor du mit Erwachsenen sprichst«, erwiderte sie würdevoll.
Broderick fuhr sich mit gerunzelter Stirn über den spärlichen Flaum auf seinem Gesicht. »Pah, von wegen erwachsen«, grummelte er, »du bist ein freches, rothaariges Gör.«
Ronda beachtete ihn nicht weiter und wandte sich einer Freundin zu.
»Was passiert am Neujahrsfest?«, fragte Rijana.
»Alle, die in diesem Jahr siebzehn geworden sind, müssen eines der Schwerter der Kinder Thondras berühren. Leuchtet es auf, dann ist derjenige einer der Sieben«, erklärte Falkann. »Drei Schwerter haben wir hier, zwei besitzt König Scurr.« Sein Gesicht verzog sich angewidert. »Und zwei sind verschwunden.«
»Ist denn schon einer der Sieben hier aufgetaucht?«
Falkann schüttelte den Kopf. »Nein, es ist beinahe tausend Jahre her.«
 
Brogan und Hawionn saßen gemeinsam mit den anderen Zauberern und Lehrern an einem großen Tisch etwas abseits und beobachteten ihre Schützlinge.
»Die Kleine wurde gut aufgenommen«, stellte Hawionn zufrieden fest. »Aber der Piratenjunge wirkt ziemlich aufsässig.«
Brogan hob beschwichtigend die Hand. »Er ist eben ein Pirat, aber er ist kein schlechter Junge, das spüre ich.«
»Er mag keine Pferde«, kam es missbilligend von Rittmeister Londov.
»Das wird sich geben«, meinte Brogan.
»Ein Pirat«, ertönte die schnarrende Stimme eines sehr kleinen und runzligen Mannes, der neben Hawionn saß. Zauberer Tomis hatte dünne graue Haare, einen ebensolchen Bart und ein Sichtglas in sein eines Auge geklemmt. »Mit Piraten hat man immer Ärger. Vor einhundertfünfunddreißig Jahren hatte ich einen Piraten, der hat sich hartnäckig geweigert, das Lesen zu erlernen.« Der kleine Zauberer schüttelte anklagend den Kopf. »Am Ende hat er mit meinen Büchern ein Lagerfeuer entzündet.«
Alle verdrehten die Augen. Diese Geschichte erzählte Tomis schon seit Jahren. Immer wenn ein Piratenjunge hinzukam, was zum Glück nicht sehr häufig war, schimpfte er tagelang vor sich hin. Auch jetzt grummelte er die ganze Zeit über etwas in seinen Bart und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Aber nur zwei Neue«, sagte Hawionn kopfschüttelnd. »Es ist jetzt schon das fünfte Mal in zehn Jahren, dass Scurr uns die Kinder stiehlt.«
»Wir müssen endlich die Wachen verstärken«, verlangte Brogan nicht zum ersten Mal.
Das ernste, strenge Gesicht von Hawionn verzog sich. Er wusste, dass sie eigentlich mehr Wachen brauchten, aber auf der anderen Seite musste auch die Insel bewacht werden, und König Greedeon, ihr Gönner, brauchte ebenfalls eine Menge Krieger. Hawionn hatte diese Diskussion schon sehr oft mit Brogan geführt. Die beiden Zauberer mochten sich nicht sehr, wie alle wussten.Viele waren insgeheim der Ansicht, dass Brogan es mehr verdiente, das Oberhaupt der Schule zu sein, doch König Greedeon hatte vor beinahe dreißig Jahren auf Hawionn bestanden.
»Gut, fünfzehn Krieger, das müsste gehen«, lenkte Hawionn schließlich ein.
»Was, wenn Scurr nun einen der Sieben hat?«, fragte Tharn ungehalten. Auch er und Brogan standen sich nicht sehr nahe. Tharn legte Wert auf äußerste und bedingungslose Disziplin und Gehorsam, während Brogan den jungen Leuten auch Werte wie Freundschaft und Loyalität lehrte und ihnen hin und wieder sogar zugestand, Autoritäten zu widersprechen.
Brogan hatte zwar die ganze Zeit über ein schlechtes Gewissen, doch nun antwortete er in scharfem Tonfall: »Du hättest es sicherlich verhindert!«
Tharn fühlte sich ertappt, auch ihm waren bereits drei Mal Kinder abhandengekommen. Er und Brogan wechselten sich immer jahresweise mit der Suche ab.
»Es nützt nichts, darüber zu streiten. Bisher ist keiner der Sieben aufgetaucht«, lenkte Rittmeister Londov ein.
Brogan hatte niemandem von der alten Hexe in der Steppe erzählt, denn er glaubte nicht, dass sie Recht hatte. Zu viele Hexen, Zauberer und Scharlatane hatten in den vergangenen Jahrhunderten vorhergesagt, dass die Sieben wiedergeboren wären, aber keiner hatte jemals Recht behalten. Sein Blick streifte über die vielen Kinder, die miteinander aßen und scherzten.
Wenn einer von ihnen dabei ist, werden wir es erfahren, dachte er seufzend.
 
Am Abend, als Rijana in ihrem Bett saß und noch ein wenig auf das dunkle Meer hinabblickte, kam Saliah zu ihr. Das blonde Mädchen setzte sich zu ihr aufs Bett. »Was hast du da eigentlich für eine Kette um den Hals hängen? Hast du die von deinen Eltern?«
Rijana schüttelte den Kopf und wurde traurig. »Nein, die hat mir ein Freund geschenkt.«
Saliah nahm sie mitfühlend in den Arm. »War er aus deinem Dorf?«
Erneut schüttelte Rijana den Kopf. »Eigentlich hätte er auch hierherkommen sollen, aber König Scurrs Soldaten haben ihn mitgenommen. Hoffentlich sehe ich ihn eines Tages wieder.«
Saliah schreckte zurück und packte Rijana anschließend fest am Arm. »Du musst ihn vergessen! Wenn du ihn jemals wiedersiehst, dann wird er dein Feind sein, und du wirst gegen ihn kämpfen müssen.«
Das jüngere Mädchen riss erschrocken die Augen auf und umklammerte die Pfeilspitze. »Nein, wird er nicht! Ariac hat versprochen, mich zu beschützen. Wir sind für den Rest unseres Lebens Freunde.«
Rijana hatte einen wilden Blick aufgesetzt. Sie würde Ariac gegen jeden verteidigen, der etwas Schlechtes über ihn sagte, so, wie Ariac es bei ihr getan hatte.
Ehe Saliah noch etwas erwidern konnte, kam Ronda hinzu. »Schon gut, Saliah, lass sie.«
Widerstrebend ließ Saliah sich von Ronda wegziehen. In einer Ecke flüsterte Ronda ihr zu: »Sie wird ihn ohnehin nicht wiedererkennen und ihn längst vergessen haben.«
Saliah legte sich ins Bett. Kurz bevor sie einschlief, sagte sie noch: »Entschuldige, Rijana, ich wollte dir nicht wehtun.«
Die lag mit offenen Augen im Bett und hielt ihre Kette fest. Sie dachte an Ariac und hoffte, dass es ihm gut ging.
 
Rijana und zu seiner eigenen Überraschung sogar Rudrinn lebten sich in der folgenden Zeit gut auf Camasann ein. Sie lernten Lesen und Schreiben, was Rudrinn allerdings gar nicht gefiel. Er trieb Zauberer Tomis regelmäßig in den Wahnsinn. Sie begannen mit dem Schwertkampftraining und mit dem Bogenschießen, lernten Reiten und auch gutes Benehmen. Es war eine harte, aber auch gerechte Ausbildung. Natürlich kamen die beiden nicht mit allen Kindern aus.Vor allem Rudrinn stritt sich sehr häufig mit seinem Mentor Firon. Doch zum Jahreswechsel, als die Ernte eingebracht war, hatten sich Freundschaften gefestigt.
Rijana, Rudrinn, Broderick, Falkann und Saliah verstanden sich besonders gut miteinander. Broderick und Falkann waren schon seit vielen Jahren gute Freunde, sie hatten beinahe gleichzeitig mit ihrer Ausbildung begonnen. Die beiden konnten zwar unterschiedlicher nicht sein: Falkann war ernsthaft, wohlerzogen und der Schwarm aller jüngeren Mädchen, während Broderick, der aus Errindale stammte und die ersten Jahre in einem Wirtshaus verbracht hatte, ständig nur Blödsinn im Kopf hatte und häufig sehr ungehobelt war. Rudrinn mochte sowohl Falkann als auch Broderick, wobei er sich doch noch mehr zu dem ständig Blödsinn treibenden Jungen aus Errindale hingezogen fühlte.
Einmal saßen Rudrinn, Rijana und weitere zwanzig der jüngeren Kinder in dem kleinen Turmzimmer, wo Lesen und Schreiben unterrichtet wurde. Rijana stellte sich schon sehr geschickt an. Ihr gefiel es, Geschichten aus Büchern zu lesen. Rudrinn hingegen, der neben ihr saß, kritzelte nur mit seiner Feder am Rand des alten Buches herum, in dem sie eigentlich lesen sollten. Zauberer Tomis kam zu ihm und sein schmales Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er packte den Piratenjungen am Ohr und zog ihn hoch.
Rudrinn schrie empört auf.
»Bücher sind etwas sehr Wertvolles«, schnarrte Tomis. »Wenn du ungehobelter Pirat schon nicht Lesen lernen willst, dann zerstöre zumindest nicht das Eigentum der Schule.«
Rudrinn funkelte den Zauberer wütend an. Schon jetzt war er größer als dieser.
»Ich brauche keine Bücher. Seekarten reichen mir!«
Tomis schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist Bildung, und in dieser Schule wirst du gebildet werden, ob es dir nun gefällt oder nicht.«
Rudrinn schnaubte und fegte das Buch mit einer wütenden Handbewegung vom Tisch. »Wenn ich endlich diese verdammte Insel verlassen darf, dann nehme ich einige Bücher mit.« Tomis blickte ihn überrascht an, und Rudrinn fügte verächtlich hinzu: »Damit ich mir damit meinen Hintern abputzen kann.«
Tomis schnappte empört nach Luft, verpasste Rudrinn eine schallende Ohrfeige und schickte ihn in die Ecke.
»Und du schreibst bis morgen die Regeln der Schule zehn Mal ab«, rief er mit hochrotem Kopf.
Die anderen Kinder konnten sich nur mühsam ein Lachen verkneifen, denn sie sahen, wie Rudrinn den kleinen Zauberer hinter seinem Rücken nachäffte, indem er wild herumsprang. Tomis fuhr herum, doch da stand Rudrinn schon wieder brav in seiner Ecke.
So ging es einige Zeit weiter. Rudrinn wollte sich einfach nicht einfügen und war ständig auf Konfrontation aus. Gleichzeitig machte er jedoch gute Fortschritte in seiner Kampfausbildung. Allerdings schaffte es der strenge Tharn auch nur mit Mühe und Not und einer ganzen Menge Strafen, den aufsässigen Piratenjungen zu bändigen.
Saliah und Rijana waren Freundinnen geworden, auch wenn die kleine Rijana etwas eingeschüchtert war von Saliahs Schönheit. Rijana glaubte, dagegen zu verblassen wie ein Dornbusch neben einer Rose. Saliah erinnerte Rijana immer wieder schmerzlich an ihre Schwestern, auch wenn Saliah noch viel hübscher und auch freundlicher war.
 
Das Neujahrsfest ging vorüber, ohne dass eines der Schwerter der Sieben aufleuchtete. Ronda und zwei weitere Mädchen verließen daraufhin Camasann. Sie würden nun als Hofdamen an einem der Königshäuser leben. Zwei Jungen verließen die Insel ebenfalls. Sie hatten sich entschieden, zu ihren Familien zurückzukehren. Doch ein Großteil, dreiundzwanzig weitere Jungen, blieben als Krieger auf der Insel. Sie wollten für König Greedeon kämpfen, falls es nötig wäre. Das Neujahrsfest war wirklich ein großartiges Ereignis. Es gab Unmengen zu essen, für die Älteren guten Wein, und in der Halle wurde Musik gespielt. Wie jedes Jahr besuchte König Greedeon, der Gönner der Schule, Camasann und brachte eine Menge Geschenke mit. Er unterhielt sich angeregt mit den älteren Kindern und tätschelte den Kleinen über den Kopf. Die älteren Kinder und auch die erwachsenen Krieger tanzten mit den wenigen Mädchen und Mägden. Sogar die dicke Birrna musste mitmachen.
 
Für Ariac dagegen war die Zeit bis zum Jahreswechsel nicht so angenehm verlaufen. Er war und blieb ein Außenseiter. Während sich die anderen Jungen beinahe augenblicklich Ausbilder Worran und auch König Scurr unterwarfen, rebellierte Ariac gegen alles und jeden. Er wurde häufig mit Wachen, Essensentzug und, als das alles nicht half, auch mit Auspeitschen bestraft. Worran hasste den Steppenjungen schon jetzt abgrundtief, da er Ariacs Willen einfach nicht brechen konnte. Die Ausbildung war grausam. Die Jungen wurden bis an die Grenzen ihrer Kräfte getrieben und meist noch weit darüber hinaus. Ganze Tage mussten sie durch das unwirtliche Gebiet von Ursann laufen, bis zur vollkommenen Erschöpfung mit dem Schwert trainieren und anschließend noch weitere Pflichten erfüllen.
»Sobald diese Steppenratte siebzehn ist, bringe ich ihn um«, schimpfte Worran eines Tages mal wieder, als er bei König Scurr im Schloss war, um Bericht zu erstatten. König Scurr residierte nicht sehr oft in der Ruine von Naravaack, denn dort war es im Sommer unerträglich heiß. Er zog sich dann auf sein Schloss weiter im Süden zurück, wo der Wind vom Meer her ein wenig Kühlung verschaffte.
»Was hat er getan?«, fragte König Scurr gelangweilt.
»Er provoziert mich«, knurrte Worran, und sein hässliches, narbiges Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Ich lasse ihn hungern und nächtelang Wache halten. Ich habe ihn persönlich ausgepeitscht, und als ich von ihm verlangte, vor mir auf die Knie zu fallen, spuckte er mir vor die Füße.« Zum Ende seiner Ausführungen schrie Worran beinahe.
König Scurr seufzte, und seine merkwürdigen Augen beobachteten Worran genau. »Aber er kämpft gut, hast du gesagt.«
»Ja«, knurrte Worran missmutig. »Er besiegt sogar Jungen, die drei Jahre älter sind als er.«
König Scurr erhob sich von seinem Thron. Das Schloss war nicht übermäßig komfortabel, eher eine Festung für den Kriegsfall. Scurr hätte gerne ein wenig mehr Luxus gehabt, doch sein Heer verschlang eine Menge Gold, und so viel konnten auch seine Untergebenen nicht stehlen. Er schritt über den von vielen Generationen abgelaufenen Marmorboden und blieb an einem der hohen, schmalen Fenster stehen. Von dort aus blickte er auf die zackigen Berge hinab. In dem Tal unter ihm trainierten seinen Soldaten und metzelten gerade eine Gruppe Orks nieder, die Scurr immer wieder aus den Bergen bringen ließ, damit Soldaten und auch die älteren Kinder gegen sie kämpften.
»Du wirst Ariac am Leben lassen, bis er siebzehn ist«, verlangte der König grimmig. »Danach kannst du mit ihm tun, was du willst.«
Worran knirschte mit den Zähnen und verließ, mehrere Verbeugungen machend, den Raum. Draußen ließ er seine Finger knacken. Er freute sich schon heute auf den Tag, an dem der Junge alt genug wäre.
»Es wird ein langsamer und sehr schmerzhafter Tod sein«¸ knurrte Worran vor sich hin, holte sein Pferd und ritt zurück nach Naravaack.
König Scurr ging unterdessen mit geschmeidigen Schritten zu der gläsernen Vitrine, in der zwei prächtige Schwerter steckten. Sie waren uralt, doch man sah es ihnen nicht an. Immer noch strahlten sie silbern. Sie waren fein gearbeitet und unglaublich scharf.
»Eines Tages werdet ihr Sieben bei mir sein. Ihr werdet euch nicht noch einmal verbünden und gegen mich kämpfen«, flüsterte Scurr und fuhr mit der Hand über eine der Klingen, und sein Blut floss langsam über seine Finger.
 
Ariac saß in einem fensterlosen, engen Loch im Keller der Ruine von Naravaack. Es war jetzt schon der zweite Tag ohne Wasser. Doch immerhin hatte er sich nicht dazu erniedrigt, vor diesem widerlichen Worran auf die Knie zu fallen, und er hatte sich geweigert, einen kleineren Jungen zu verprügeln, wie der Ausbilder es befohlen hatte. So saß er nun in der Hitze dieses stinkenden Loches und kämpfte die Panik nieder, die ihn immer wieder zu ersticken drohte. Es war furchtbar heiß, so wie überall im Tal der Verdammten. Kaum ein Luftzug war hier zu spüren, nicht einmal auf den Türmen. Ein Fluchtversuch im zweiten Mond des Sommers hatte nichts gebracht außer ein paar gebrochenen Rippen, die noch immer wehtaten. Es war einfach hoffnungslos. Er tastete nach dem kleinen Stein, den er in seiner Tasche hatte und gelegentlich auch in seinen Stiefeln versteckte. Wie schon so häufig fragte er sich, wie sein Leben wohl auf Camasann verlaufen wäre.
Wohl kaum schlimmer als hier, dachte er bitter und versuchte zu schlafen, aber es war so stickig, dass er keine Luft bekam. Er umklammerte den Stein und dachte an seine Rijana, die jetzt weit von ihm entfernt auf der Insel Camasann lebte, und ganz langsam fand er Ruhe.