KAPITEL 13
Steppe
Sieben Tage lang stiegen Rijana und Ariac
stetig bergab. Am Anfang war es noch sehr steil, und viele
Felsbrocken machten das Laufen schwer und das Reiten unmöglich.
Einmal rutschte Rijanas Stute so unglücklich aus, dass sie den
Abhang auf der Seite hinunterrutschte. Doch zum Glück trug Lenya
außer einigen Schürfwunden keine Verletzungen davon. Ab dem vierten
Tag wagten Rijana und Ariac es wieder zu reiten. Die Abhänge wurden
ein wenig sanfter, die Wälder lichter. Dank der Zwerge hatten sie
genügend zu essen, aber Ariac fing trotzdem immer wieder Wildhühner
aus den Wäldern und manchmal auch Fische aus einem der klaren
Bäche.
In der siebten Nacht, als sie schon beinahe im Tal
angelangt waren, erschütterte erneut ein heftiges Erdbeben das
Donnergebirge. Ariac fuhr aus seinem Schlaf hoch, und Rijana, die
gerade auf einem Felsen gestanden und Ausschau gehalten hatte, kam
erschrocken zurück. Die Bäume schwankten bedenklich, und als ein
dicker morscher Stamm nicht weit von ihnen herunterkrachte,
galoppierten die Pferde panisch davon. Ariac nahm Rijana an der
Hand und rannte mit ihr unter den spärlichen Schutz eines
vorstehenden Felsens. Überall krachten Steine und Äste herab, und
der Boden bebte ohne Unterlass.
Als der Morgen dämmerte, war es endlich vorbei. Die
ersten Vögel begannen zu zwitschern, und die beiden Pferde kehrten
zurück. Nawárr hatte eine lange Schnittwunde an
der linken Flanke, wahrscheinlich von einem heruntergefallenen
Ast.
»Ich bin froh, wenn wir auf der Ebene sind«, sagte
Ariac mit zusammengezogenen Augenbrauen und legte einige Kräuter
auf die Wunde. Nawárr schnaubte, blieb jedoch stehen. »Dort unten
kann uns zumindest kein Ast oder Felsen auf den Kopf fallen.«
Noch bis etwa zur Mittagszeit ritten sie die
letzten, sanft verlaufenden Hügel hinab, dann erstreckte sich die
Steppe vor ihnen. Hier, in der Nähe der Berge, war das Gras noch
grün und saftig. Es reichte den Pferden bis weit die Beine hinauf.
In der Ferne war ein großer See zu sehen.
Ariacs Augen begannen zu glänzen.
»Wollen wir galoppieren?«, fragte er.
Rijana nickte, und schon stoben die beiden Pferde
davon durch das wogende grüne Meer, das sich vor ihnen erstreckte.
Wie Pfeile schossen Nawárr und Lenya nebeneinanderher. Ihre Hufe
schienen kaum den Boden zu berühren. Nach einiger Zeit ließen
Rijana und Ariac ihre Pferde wieder in einen raschen Trab und
schließlich in Schritt fallen. Sie blickten sich um. Die Berge
waren nun schon ein ganzes Stück entfernt, sie hatten eine gute
Strecke hinter sich gebracht. Die Sonne wanderte langsam am
westlichen Horizont entlang und tauchte das Gras in ein weiches
Licht. Nicht weit entfernt sah man die Ruine einer lange
verlassenen Burg.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Rijana.
Ariac nickte. Er war zwar noch nie dort gewesen,
aber er kannte die Ruine aus Erzählungen.
»Der südliche Rand der Steppe, die Donnerberge und
auch der Myrensee sollen vor langer Zeit ein Königreich gewesen
sein. Das hier ist die Ruine der Burg. Wir können dort die Nacht
verbringen.«
Rijana blickte neugierig auf die Überreste zweier
Türme. Als sie näher kamen, sahen sie, dass es eine große
Burganlage
gewesen sein musste. Mit vier runden Türmen, einem großen Innenhof
und mehreren Wirtschaftsgebäuden. Aber jetzt war alles verfallen.
Gras und Moos überwucherten die Steine, und auf den Türmen hausten
die Krähen. Ariac blickte in den Himmel.
»Gut, dass wir heute Nacht ein Dach über dem Kopf
haben, es sieht nach Regen aus.«
Rijana sah zum Himmel hinauf, aber sie konnte beim
besten Willen nichts erkennen, was nach Regenwolken aussah.
Als Ariac das bemerkte, meinte er lächelnd: »Die
Nebelschleier über dem östlichen Rand des Myrensees bedeuten immer
Regen.«
Rijana zuckte die Achseln. »Du musst es ja
wissen.«
Sie führten die Pferde in den Innenhof und suchten
sich den untersten Raum des am wenigsten verfallenen Turmes aus.
Dort wollten sie schlafen. Ariac sammelte noch ein wenig Holz und
entzündete ein Feuer. Die beiden aßen geräucherten Schinken und das
Brot der Zwerge, dann blickten sie eine Weile in die Flammen.
»Wie willst du deine Leute eigentlich finden?«,
fragte Rijana plötzlich vorsichtig. Diese Frage hatte ihr schon
lange Zeit auf der Seele gelegen, sie hatte sich jedoch bisher
nicht getraut zu fragen.
Ariacs Gesicht spannte sich augenblicklich an, und
seine Augen wurden hart. »Wenn sie überhaupt noch leben und die
Zwerge Recht damit hatten, dass starke Stürme über das Land fegen,
dann werden sie in den östlichen Senken lagern, nicht weit vom
Myrensee.«
Rijana nickte, dann schluckte sie: »Falls … falls
sich herausstellt, dass wirklich Krieger aus Camasann die Arrowann
getötet haben … wirst … wirst du mich dann hassen?«, fragte sie
stockend und mit Tränen in den Augen. Sie biss sich auf die Lippe,
nachdem es heraus war.
Ariacs harte Augen wurden plötzlich wieder weich.
Er
nahm sie vorsichtig in den Arm. »Nein, das werde ich nicht, denn
du kannst nichts dafür.«
Er wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Du hasst
mich ja schließlich auch nicht, weil Scurrs Soldaten einige deiner
Freunde getötet haben, oder?«
Sie schniefte einmal und schüttelte dann den Kopf.
Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Ich wünsche mir sehr, dass
deine Familie noch lebt.«
Er nickte und lehnte seinen Kopf an die Mauer. Das
wünschte er sich auch, aber wirklich darauf zu hoffen traute er
sich nicht.
Sie hielten in der Nacht abwechselnd Wache, und als
der Mond bereits hoch am Himmel stand, zogen tatsächlich
Regenwolken auf. Ein heftiger Sturm erhob sich, der die alten
Mauern erbeben ließ. Der Regen prasselte unerbittlich herab. Selbst
die Pferde hatten sich unter den Mauerbogen einer Galerie
zurückgezogen. Am Morgen regnete es noch so stark, dass Rijana und
Ariac beschlossen, abzuwarten. Als die Wolken endlich weitergezogen
waren, tobte der heftige Sturm jedoch noch immer.
»Sollen wir weiter?«, fragte Ariac
vorsichtig.
Rijana nickte zögernd. Sie würden nicht ewig warten
können. Also stiegen sie auf ihre Pferde, zogen sich die Kapuzen
weit ins Gesicht und trabten im Sturmwind über die aufgeweichten
Wiesen. Zum Glück kam der Wind von hinten, und die Elfenmäntel
ließen zu ihrer Überraschung kein Lüftchen durch. Sie schienen ein
Teil des Windes zu sein. Die Pferde griffen weit aus und hatten
offensichtlich Spaß an dem rasenden Galopp. Am Abend war der
Myrensee schon nicht mehr fern. Rijana und Ariac verbrachten eine
stürmische und ziemlich unangenehm feuchte Nacht in einer kleinen
Senke, sodass sie am nächsten Morgen schon vor Sonnenaufgang
aufbrachen.
Als sie am Ufer des Sees entlangritten, war außer
einigen
Enten, Gänsen und sonstigen Wasservögeln nichts zu sehen. Alles
wirkte friedlich und still. Nur zweimal bebte die Erde noch, aber
auf der Ebene war das nicht so beängstigend wie in den Bergen. Zum
Glück hatte auch der Sturm nachgelassen.
An einem warmen, sonnigen Tag sagte Rijana, als sie
abends Rast gemacht hatten: »Ich gehe jetzt baden.«
Ariac nickte. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit
eine der trägen Schilfenten gefangen, die hier immer am Ufer
saßen.
»Ich brate so lange die Ente, aber pass auf. Der
See hat tückische Strömungen, schwimm nicht zu weit hinaus!«
Rijana versprach es und zog sich im Schutze des
mehr als mannshohen, dicken Schilfs aus. Ihre verdreckten Kleider
wusch sie gleich mit. Sie biss die Zähne zusammen, als sie in das
eiskalte Wasser tauchte, aber nach kurzer Zeit hatte sie sich daran
gewöhnt. Rijana schwamm einige Zeit am Ufer entlang und kam
schließlich sauber und zufrieden wieder heraus. Da ihre Kleider
noch nicht getrocknet waren, wickelte sie sich in ihre Decke und
setzte sich zu Ariac ans Feuer.
Der lächelte sie an. »Na, dann werde ich auch mal
baden gehen, sonst schäme ich mich, wenn du so schön sauber
bist.«
Sie grinste und drehte die Ente um, die über einem
brennenden Haufen getrocknetem Schilf briet. Die beiden Pferde
grasten derweil friedlich in der Nähe.
Ariac blieb eine ganze Weile verschwunden. Rijanas
Hemd und Unterwäsche waren mittlerweile getrocknet, und sie zog
sich gerade an, als Ariac in nassen Kleidern zurückgerannt kam und
sein Schwert packte.
»Es sind Soldaten, östlich von uns. Sie lagern auch
am See.«
Erschrocken riss Rijana die Augen auf und band sich
ihren Schwertgurt wieder um, doch Ariac rief ihr zu: »Nein, bleib
hier, ich mache das allein. Lösch das Feuer, damit sie uns nicht
entdecken.«
»Wie viele sind es denn?«
»Nicht so viele«, antwortete Ariac und rannte auch
schon fort.
»Warte«, rief Rijana leise. »Du kannst doch nicht
ganz allein gehen.«
Er zögerte kurz, denn eigentlich hätte er das
lieber allein erledigt.
»Also gut, aber halte dich zurück.«
Die beiden schlichen leise durch das Schilf.
Schließlich hörten sie von weitem Stimmen. Die Soldaten schienen
keine Angst zu haben, entdeckt zu werden. Es waren zehn Männer,
allesamt in den Umhängen der Blutroten Schatten König Scurrs
gekleidet. Ariac erstarrte. In seinen Augen loderte der blanke
Hass.
Rijana griff ihr Schwert fester und packte Ariac am
Arm. Kaum hörbar flüsterte sie: »Es sind zu viele.«
Doch Ariac schüttelte den Kopf. »Bleib hier, ich
mach das allein.«
»Das kannst du nicht«, erwiderte sie
entsetzt.
Er zog sie am Arm nach unten auf den Boden. »Du
weißt nicht, wie Scurrs Leute kämpfen. Sie sind gnadenlos und
machen auch vor Frauen und Kindern nicht halt.«
»Ich habe schon gegen sie gekämpft«, erwiderte
Rijana. »Dich werden sie genauso umbringen. Zu zweit haben wir
bessere Chancen.«
Ariac schnaubte. »Aber wenn ich sage, du sollst
weglaufen, dann musst du das tun. Und zwar sofort. Schlag dich ins
Schilf und schwimm, wenn möglich, zu unserem Lagerplatz. Die
meisten von Scurrs Leuten können nicht schwimmen. Dann steigst du
auf Lenya und reitest, so schnell du kannst, fort.«
Rijana nickte nervös und wischte sich ihre feuchte
Hand ab.
Ariac schlich leise weiter und winkte Rijana zu
sich. Bald waren sie den Soldaten ganz nah, die sich laut grölend
unterhielten. Anscheinend waren einige betrunken. Das hätte es in
Worrans oder Scurrs Beisein nicht gegeben.
»Ich habe drei von diesen schwarzhaarigen Schlampen
hintereinander genommen«, prahlte nun ein Soldat mit
kurzgeschorenen blonden Haaren.
»Drei, pah! Ich hatte fünf …«, lallte ein weiterer,
»… haben ganz schön geschrien, bevor ich ihnen die Kehle
durchgeschnitten habe.«
»Endlich können wir diese lächerliche blau-weiße
Kleidung ablegen«.
Ariacs Gesicht verzerrte sich zu einer
hasserfüllten Maske. Scurr hatte ihn also tatsächlich
angelogen.
»Gibst du mir deinen Dolch?«, fragte Ariac kaum
hörbar und zog seinen eigenen.
Sie reichte ihm mit zitternden Händen den schlanken
Silberdolch.
Ariac sprang flink auf, und bevor einer der
betrunkenen Soldaten reagieren konnte, hatten zwei von ihnen die
beiden Dolche bis zum Heft im Hals stecken. Dann rammte Ariac einem
der Männer sein Schwert in die Seite und ging gleich auf den
nächsten los.
Scurrs Soldaten waren kurzzeitig wie gelähmt, doch
dann formierten sie sich. Vier der sechs gingen auf Ariac los, die
restlichen zwei auf Rijana, die sich tapfer wehrte.
Sie war selbst ein wenig überrascht, aber sie hatte
kaum Schwierigkeiten, die Soldaten in Schach zu halten. Durch das
magische Schwert schien sie sehr viel stärker und schneller zu
sein, auch wenn die Männer gnadenlos zuschlugen. Bald hatte sie
einen der Männer besiegt und den zweiten so schwer verwundet, dass
er nicht mehr weiterkämpfen konnte. Sie warf Ariac einen Blick zu,
der ein furchtbares Gemetzel veranstaltete. Drei der Soldaten lagen
bereits tot am Boden,
dem vierten hatte Ariac gerade den linken Arm abgetrennt, aber der
Soldat gab nicht auf, sondern kämpfte noch immer mit voller Kraft.
Schließlich, als er strauchelte, stieß ihm Ariac das Schwert in den
Rücken. Als der Mann sich noch einmal mühsam erheben wollte, stach
Ariac erneut verbissen zu und dann noch einmal und immer wieder.
Auch als Scurrs Soldat sich schon lange nicht mehr rührte, machte
Ariac weiter. Schließlich musste Rijana zu ihm gehen und ihn
zurückhalten, damit er endlich aufhörte.
Wütend fuhr er herum, ließ aber dann sein Schwert
sinken und torkelte erschöpft zurück. Er war über und über mit Blut
bespritzt, jedoch weitestgehend unverletzt. Er packte den Soldaten,
den Rijana nicht vollständig getötet hatte, und zog ihn an seinem
Hemd nach oben.
»Habt ihr die Steppenleute getötet?«, schrie er
hasserfüllt. »Seid ihr dafür verantwortlich?«
Der Krieger hustete etwas Blut, dann verzerrte sich
sein Gesicht zu einer Grimasse. »König Scurr ist der Herrscher über
alles. Er kann tun und lassen, was er will.«
Ariac stieß einen Schrei aus und trennte dem Mann
den Kopf von den Schultern. Blut spritzte zu allen Seiten. Rijana
wandte rasch den Blick ab. In Momenten wie diesem schien Ariac ihr
so fremd zu sein, dass sie sogar ein wenig Angst vor ihm
hatte.
Schließlich stapfte er davon und stieg mitsamt
seinen blutbespritzten Kleidern erneut in den See. Rijana ging
nachdenklich zurück zum Lagerplatz, säuberte ihr Schwert und wusch
sich eine Schnittwunde am Arm aus.
Nach einer Weile kehrte Ariac zurück. Seine Kleider
und Haare waren nass. Wortlos ging er zu seinen Satteltaschen und
nahm sich Kleidung zum Umziehen. Kurz verschwand er im Schilf und
setzte sich anschließend neben Rijana, die gerade versuchte, die
Überreste des Feuers wieder in Gang zu bekommen.
»Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«,
sagte er schuldbewusst.
Rijana nickte, ohne den Blick zu heben. »Du
musstest es wohl tun.«
Ariac seufzte und fuhr sich durch die
schulterlangen Haare.
»Wenn man gegen Scurrs Soldaten kämpft, dann darf
man keine Gnade kennen, so wie auch sie keine Gnade erteilen
werden. Du darfst nur daran denken, den anderen zu töten, sonst
bist du selbst tot.«
Rijana erschütterten die harten Worte. »Wenn du
mich damals nicht an der Kette erkannt hättest, dann hättest du
mich wohl auch einfach umgebracht, oder?«
Ariac konnte das leider nicht abstreiten.Vorsichtig
nahm er die Pfeilspitze an Rijanas Lederband in die Hand.
Dann blickte er sie ernst an und erwiderte:
»Hättest du mich nicht an meinen Tätowierungen erkannt, hättest du
mich auch getötet.«
Tränen traten in Rijanas blaue Augen, denn sie
wusste, dass er Recht hatte. Dann nahm sie Ariacs Hand und fragte
mit zittriger Stimme: »Was haben sie nur aus uns gemacht?«
Ariac nahm sie wortlos in den Arm und streichelte
ihr über die langen, seidigen Haare.
Am nächsten Morgen erhob sich erneut ein starker
Westwind. Die beiden packten ihre Sachen zusammen und sattelten
ihre Pferde. Sie vermieden bewusst den Blick auf die toten Soldaten
am Ufer des Sees. In raschem Trab ritten sie weiter über die
Steppe. Am Ende des Tages hatten sie den Myrensee hinter sich
gelassen. Mit dem Wind galoppierten sie nach Osten über das
zunehmend trockenere Gras. So ging es weitere drei Tage. Es gab
immer weniger Wasser, aber Ariac kannte sich gut aus. Er fand die
Stellen, wo man graben musste, um eine Wasserader zu finden.
Dann, eines Morgens, sah man in der Ferne,
versteckt in einer kleinen Senke, eine Ansammlung von Zelten, die
sich beinahe perfekt der Umgebung anpassten. Ariac zügelte seinen
Hengst hart und kniff die Augen zusammen.
»Wer ist das?«, fragte Rijana vorsichtig.
»Der Wolfsclan«, antwortete Ariac knapp.
»Und, sind sie gefährlich?«
Ariac schüttelte den Kopf. »Nein, es sind Freunde
der Arrowann.«
Rijana konnte verstehen, dass Ariac zögerte. Jetzt
würde sich herausstellen, ob seine Familie noch lebte oder tot
war.
Schließlich atmete er einmal tief durch und trieb
sein Pferd an. Rijana folgte ihm. Sie trabten einen kleinen Abhang
hinunter, einen Hügel hinauf, und schon stellte sich ihnen, wie aus
dem Nichts, eine Gruppe von fünfzehn Männern in den Weg. Sie waren
mit Bögen und Speeren bewaffnet und hatten auffällige
Tätowierungen.
Ariac hob beide Hände. »Ich bin Ariac, Sohn von
Rudgarr, dem Oberhaupt der Arrowann«, sagte er laut und deutlich.
»Wir kommen in friedlicher Absicht.«
Sofort senkten alle Krieger ihre Waffen und
blickten Ariac mit einer Mischung aus Unglauben und Neugier an.
Sicher, dieser junge Mann hier war einer von ihnen, aber er hatte
kürzere Haare und kaum Tätowierungen. Auf der anderen Seite hatten
alle von der Geschichte gehört, dass der Sohn des Oberhauptes der
Arrowann nach Camasann auf die Insel der Zauberer gebracht worden
war.
»Wer ist das Mädchen?«, fragte ein Mann mit dunkler
Haut und Tätowierungen im Gesicht und auf den Armen.
Rijana blickte ihn fasziniert an. Außer Ariac hatte
sie noch keinen Steppenmann gesehen, und die Tätowierungen
erschreckten sie ein wenig.
»Rijana«, sagte Ariac kurz angebunden und warf
dabei einen
wilden Blick in die Runde. »Sie steht unter meinem Schutz.«
»Mein Name ist Nelos«, sagte der Mann und bedeutete
Rijana und Ariac, mit ihm zu kommen. Die Steppenkrieger musterten
Ariac mehr als neugierig, dem unter ihren Blicken ziemlich
unbehaglich zumute wurde.
Schließlich kamen sie beim größten der Zelte an.
Ariac stieg mit zitternden Beinen von seinem Pferd, das von allen
Frauen und Männern bewundernd gemustert wurde. Rijana folgte ihm in
das große, mit Fellen ausgelegte Zelt, in dem ein älterer Mann mit
hüftlangen, grauen Haaren am Feuer saß.
»Das ist Ariac, der Sohn von Rudgarr, vom Clan der
Arrowann«, erklärte Nelos.
Der alte Mann stand auf und hob überrascht die
Augenbrauen. Auch er war im ganzen Gesicht tätowiert.
»Ariac von den Arrowann«, murmelte er und bedeutete
Ariac und Rijana, sich hinzusetzen. »Ich bin Krommos.«
Ariac kannte den alten Mann schon, seitdem er ein
kleiner Junge war.
»Es wird dich freuen, dass deine Schwester mit
meinem Sohn verheiratet ist«, sagte Krommos und bot den beiden
etwas zu trinken an.
»Meine Schwester?«, fragte Ariac atemlos, und aus
seinem Gesicht wich jegliche Farbe. »Ist sie nicht tot?«
»Nein, warum sollte sie das?«
»Sind … sind die Arrowann nicht ausgelöscht
worden?«, fragte Ariac mit zitternder Stimme.
Krommos schüttelte den Kopf. »Nein, die Arrowann
nicht. Unter dem Seeclan und den Falcanen haben Scurrs Soldaten
übel gewütet, aber die Arrowann haben sich immer gut versteckt
gehalten ebenso wie wir.«
In Ariacs Kopf drehte sich alles. Er stützte das
Gesicht in die Hände und konnte gar nicht glauben, was er da gehört
hatte. Rijana nahm ihn vorsichtig am Arm und lächelte ihm
aufmunternd zu.
»Siehst du, ich habe die Wahrheit gesagt.«
Er hob den Kopf und nickte zögernd.
»Und wer bist du, mein Kind?«, fragte der alte
Clanführer freundlich.
Rijana wich unwillkürlich ein wenig zurück.
»Rijana, ich komme aus Camasann«, antwortete sie mit unsicherer
Stimme.
»Dann seid ihr wohl gemeinsam ausgebildet worden«,
vermutete der alte Mann.
Ariac schüttelte den Kopf und murmelte: »Nicht
ganz.«
Der Clanführer wollte wohl noch etwas fragen, doch
da wurde das Zelt aufgerissen, und eine hochgewachsene, sehr
hübsche junge Frau mit rabenschwarzen Haaren und Tätowierungen an
den bloßen Armen kam hereingestürzt.
»Ariac?«, rief sie mit überschlagender Stimme.
»Bist du’s wirklich?«
Er war bereits aufgesprungen, sodass sich seine
Schwester ihm nun an den Hals warf. Sie lachte und weinte
gleichzeitig.
Ariac hielt sie ein Stück von sich weg und
betrachtete sie genau. »Lynn?«, fragte er unsicher.
Sie nickte unter Tränen. »Du bist wirklich
zurückgekommen!«
Lynn war nun eine erwachsene Frau, drei Jahre älter
als er selbst. Er konnte es kaum fassen.
»Du meine Güte«, sagte sie und wischte sich die
Tränen aus dem Gesicht. »Jetzt ist doch tatsächlich aus diesem
dürren und ungelenken Jungen ein gutaussehender, erwachsener Mann
geworden«, sagte sie mit in die Hüften gestützten Händen. Das war
wieder die Lynn, die er gekannt hatte.
Zum ersten Mal, seitdem Ariac bei König Scurr
gelandet war, konnte er wieder aus tiefstem Herzen lachen. Seine
freche Schwester hatte sich nicht geändert.
Dann blieb Lynns Blick an seinen Haaren hängen.
»Was ist denn mit deinen Haaren passiert?«
Ariacs Gesicht verfinsterte sich wieder. »Das ist
eine lange Geschichte.«
Lynn bemerkte erst jetzt Rijana, die etwas verlegen
auf den Fellen saß.
»Und wen hast du da mitgebracht?«, fragte Lynn und
sah Rijana neugierig an. »Sie ist ziemlich hübsch, auch wenn sie
nicht vom Steppenvolk ist.«
Rijana lief knallrot an und biss sich auf die
Lippen.
»Sie heißt Rijana«, sagte Ariac mit einem
angedeuteten Lächeln, »und kommt aus Camasann.«
Rijana stand unsicher auf und wurde von Lynn sofort
stürmisch umarmt.
»Ariacs Freunde sind auch meine Freunde«, sagte sie
herzlich. »Kommt, ich stelle euch meinen Mann vor.« Sie grinste.
»Und eine Nichte und einen Neffen hast du auch schon, Ariac.«
Überrascht schaute er sie an und gratulierte ihr
dann. Vor sich hin schwatzend führte Lynn die beiden zu einem etwas
kleineren Zelt, vor dem ein kleiner Junge von vielleicht drei
Jahren und ein noch etwas jüngeres Mädchen im Sand spielten.
Als Ariac sich zu den beiden herunterbeugte, traten
ihm Tränen in die Augen. Auch Lynn beugte sich hinab. »Seht mal,
das ist euer Onkel. Ich hätte es nie gedacht, aber aus ihm ist
tatsächlich ein Krieger geworden.«
Ariac lächelte halbherzig, und das kleine Mädchen
kletterte sogleich auf seinen Schoß und begann, an seinen Haaren
herumzuziehen.
»Wie ist es dir auf der Insel ergangen?«, fragte
Lynn.
»Ich war nicht …«, begann Ariac, doch da sprang
Lynn schon wieder auf. Ein Mann mit einem dunkelbraunen Pferd kam
ins Lager galoppiert und stieg geschmeidig aus
dem Sattel. Offensichtlich hatte er eine gute Jagd hinter sich,
denn an seinem Sattel hingen mehrere Hühner und ein Reh. Lynn warf
sich ihm um den Hals und zog ihn vor das Zelt.
»Das ist Narinn«, sagte Lynn und lächelte zu ihrem
Mann auf.
Er war etwas größer als sie, gutaussehend mit den
typischen Tätowierungen.
»Und das ist mein Bruder Ariac.«
Narinn war kurz überrascht und fasste Ariac dann
nach der Art der Steppenleute zum Gruß an der Schulter.
»Willkommen, ich habe schon einiges über dich
gehört«, sagte er mit einer angenehmen Stimme. Er blickte stolz auf
seine beiden Kinder, die sich an sein Bein hängten. »Und unseren
Nachwuchs hast du ja bereits kennen gelernt.«
Ariac nickte, dann ging Narinn schwingenden
Schrittes zu Rijana und begrüßte auch sie freundlich. Langsam
entspannte diese sich ein wenig. Diese tätowierten, hochgewachsenen
Männer wirkten zwar auf den ersten Blick furchteinflößend, aber sie
waren bisher alle sehr nett zu ihr gewesen.
»Unsere Eltern«, sagte Ariac plötzlich, »wo sind
sie? Man hat mir gesagt, die Arrowann wären alle getötet
worden.«
Lynn und Narinn blickten sich verwirrt an. »Nein,
sie lagern vielleicht zwei Tagesritte von hier.«
Lynns Augen begannen zu glänzen. »Wenn du willst,
können wir hinreiten. Ich war schon lange nicht mehr fort.«
Narinn seufzte genervt. »Lange nicht mehr fort?
Erst im letzten Mond warst du beinahe zehn Tage auf der
Jagd.«
Lynn lachte hell auf. »Na und, ich brauch eben
meine Freiheit.«
»Deine Schwester ist nicht gerade das, was man eine
gefügige Ehefrau nennt«, sagte Narinn zu Ariac und verdrehte dabei
die Augen.
Der grinste verständnisvoll. »Wem sagst du
das?«
Narinn lachte herzlich und umarmte seine Frau.
»Also von mir aus, dann reitet ruhig zu euren Eltern.«
»Wann wollen wir?«, fragte Lynn mit blitzenden
Augen.
Ariac warf Rijana einen unsicheren Blick zu. »Wenn
du nicht zu müde bist, dann würde ich gerne sofort reiten.«
Sie lächelte beruhigend. »Natürlich, das macht mir
nichts aus.«
Lynn war begeistert. »Gut, ich hole mir ein Pferd,
und dann kann es losgehen.« Sie rannte davon, und Narinn blickte
ihr grinsend hinterher.
»Vielleicht hätte ich doch lieber Leá heiraten
sollen.«
Als er Rijanas fragenden Blick sah, erklärte er:
»Ihre Zwillingsschwester.«
Die nickte und beobachtete Ariac besorgt, in dessen
Gesicht sich widerstrebende Gefühle abzeichneten. Er konnte wohl
noch immer nicht glauben, dass seine Familie lebte.
»Wollen wir unsere Pferde holen?«, fragte Rijana
vorsichtig.
Ariac stimmte zu, und die beiden gingen zu dem
Pferch, wo die Stute und der Hengst standen. Sie sattelten gerade
auf, als Lynn auch schon mit einer zotteligen Schimmelstute und den
beiden Kindern vor sich auf einem weichen Sattelkissen angaloppiert
kam.
»Du meine Güte«, rief sie aus, »ich dachte schon,
die anderen würden übertreiben. Diese Pferde sind ja wirklich
wunderschön!«
Ariac nickte und streichelte seinem Hengst stolz
über den Hals.
»Du willst die Kleinen wirklich auf den langen Ritt
mitnehmen?«, fragte Rijana überrascht.
Lynn grinste sie an und nickte. »Natürlich, wir
Steppenleute können meist reiten, bevor wir laufen können.«
Rijana hob überrascht die Augenbrauen und staunte,
die beiden Kleinen vor Freude jauchzen zu sehen, als Lynn ihr Pferd
angaloppieren ließ.
Sie ritten auf die Steppe hinaus. Lynn führte sie
zielsicher durch die vielen Hügel und über die Ebenen, die
teilweise von hohen Büschen gesäumt waren.
»Wie kommst du eigentlich darauf, dass die Arrowann
umgebracht worden wären?«, fragte Lynn am Abend, als sie ein Feuer
entzündeten. Es war eine milde, sternenklare Nacht. Die beiden
Kleinen schliefen bereits in dicke Felle gewickelt.
Ariac seufzte und blickte mit seinen dunklen Augen
ins Feuer.
»Das ist eine lange Geschichte. Ich werde dir alles
erzählen, wenn wir bei unseren Eltern sind.«
Lynn nickte zögernd. Normalerweise hätte sie nicht
so leicht lockergelassen, aber ihr Bruder wirkte zu fremd, so hart
und verschlossen. So kannte sie Ariac gar nicht.
»Wie geht es denn unseren Eltern und Leá?«, fragte
er nach einer Weile.
Lynn seufzte. »Leá geht es nicht so gut. Sie war
einem Krieger von den nördlichen Steppen versprochen, aber er wurde
bei einem Jagdunfall getötet.«
»Das tut mir leid«, sagte Ariac aufrichtig.
»Es ist schon vier Jahre her, aber sie wollte
seitdem keinen anderen Mann mehr. Aber unsere Eltern … na ja,« Lynn
lächelte bereits wieder, »die haben wohl eine Überraschung für
dich.«
Ariac sah sie fragend an, aber Lynn wollte nichts
mehr sagen.
Irgendwie kam sich Rijana plötzlich ein wenig
ausgeschlossen vor. Sicher, Lynn war nett, aber sie befand sich in
einer ganz anderen Welt, in der sie sich nicht auskannte. Aber
es ist sicherlich nicht die schlechteste Welt, dachte sie,
bevor sie einschlief.
Der nächste Tag brachte wieder stürmisches Wetter.
Den ganzen Tag zogen die drei Reiter über die menschenleeren
Ebenen. Auch Lynns Kinder zogen inzwischen den Kopf ein und
versteckten sich unter ihren Kapuzen.
»Es ist merkwürdig mit dem Wetter in den letzten
Jahren«, rief Lynn gegen den heftigen Wind an.
Ariac und Rijana blickten sich an, sie dachten wohl
beide an die Elfen. Es war bereits kurz vor der Abenddämmerung, als
sie in einer schmalen, grasbewachsenen Senke Zelte stehen
sahen.
Ariac war mulmig zumute. Jetzt, nach zehn Jahren,
würde er seine Eltern wiedersehen. Rijana lächelte ihm aufmunternd
zu, als Lynn mit ihren Kindern bereits auf das Lager zugaloppierte.
Sie rief den Wachen etwas entgegen, und nur wenig später standen
Ariacs Eltern sprachlos vor den Zelten.
Ariac hielt seinen Hengst vor ihnen an und brachte
selbst keinen Ton heraus. Schließlich stieg er ab und wurde
sogleich von seiner Mutter umarmt. Auch sein Vater nahm ihn in den
Arm.
»Du meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dass wir
dich noch einmal wiedersehen«, sagte Rudgarr mit zitternder
Stimme.
Ariac betrachtete seine Eltern genau. Sie waren ein
wenig älter geworden, aber so sehr hatten sie sich nicht verändert.
Hinter ihnen tauchte plötzlich ein kleiner Junge mit dunklen Augen
auf, der ihn neugierig musterte. Lynn nahm ihn grinsend an der Hand
und sagte: »Sieh mal, Ruric, das ist dein älterer Bruder.«
»Du bist Ariac?«, fragte der Kleine mit großen
Augen.
Ariac nickte und blickte seine Eltern verwirrt
an.
»Im Sommer, nachdem du nach Camasann gegangen bist,
haben wir noch ein Kind bekommen«, erklärte seine Mutter. Thyra
»Ich wusste damals noch gar nicht, dass ich schwanger war.«
Ariac lächelte halbherzig. Camasann, dachte
er, das wäre schön gewesen.
Zu seinen Eltern sagte er: »Das freut mich, dann
kann er der neue Anführer der Arrowann werden.«
»Du kannst also nicht bleiben?«, fragte seine
Mutter traurig.
Ariac schüttelte den Kopf und umarmte seinen
kleinen Bruder zärtlich.
»Du wirst ein wunderbarer Anführer werden.«
Ruric nickte begeistert. »Willst du mal mein Pferd
sehen, Ariac?«
Ariac nickte lächelnd, und sein kleiner Bruder zog
ihn mit zu der Pferdeherde, die nicht weit entfernt graste.
Der Blick von Thyra und Rudgarr fiel nun auf
Rijana, die verlegen neben ihrer Stute stand.
Lynn kam zu ihr. »Und das ist Rijana, sie war mit
Ariac zusammen auf Camasann«, erklärte sie ihren Eltern und
lächelte dabei freundlich.
Rijana, die den Irrtum nicht aufklären wollte,
begrüßte Ariacs Eltern ein wenig unsicher. Aber Rudgarr nahm sie
gleich in den Arm.
»Wenn es auf Camasann noch mehr solch hübsche
Mädchen gibt, dann wundert es mich nicht, dass er so lange nicht
nach Hause gekommen ist«, sagte er mit einem Lächeln, das seine
wilden Tätowierungen viel weniger bedrohlich wirken ließ.
Thyra verpasste ihrem Mann einen Seitenhieb.
»Willkommen Rijana, komm, setz dich mit ans Feuer. Du bist sicher
hungrig.«
»Kann ich Lenya irgendwo unterbringen?«, fragte sie
mit einem Blick auf die Stute.
Lynn nahm die Zügel. »Ich bringe sie zu den anderen
Pferden.«
Nun folgte Rijana Ariacs Eltern zu dem großen
Kochfeuer, wo schon eine Menge Arrowann saßen. Alle musterten
Rijana neugierig, aber sehr freundlich. Beim Steppenvolk gab
es kaum Frauen mit so hellbraunem Haar, wie Rijana es hatte. Aber
zu ihrer eigenen Verwunderung waren die Blicke ihr nicht einmal
sonderlich unangenehm.
Als sie eine Zeit lang beisammengesessen hatten,
Lynn war inzwischen auch wieder zu ihnen gestoßen, näherte sich
eine schlanke Gestalt dem Feuer. Sofort sprang Lynn auf und umarmte
sie. Die Zwillinge kamen nun näher. Sie sahen sich wirklich
unheimlich ähnlich, nur dass Leá etwas schmaler im Gesicht war und
ernster wirkte als ihre Schwester.
»Wo ist Ariac?«, fragte Leá aufgeregt.
»Ruric zeigt ihm gerade sein Pferd. Ich befürchte,
er muss es reiten«, erklärte Thyra mit einem Seufzen.
Auf Leás Gesicht zeichnete sich ein Grinsen ab.
»Seit er im letzten Herbst ein Pferd bekommen hat, muss er ständig
jedem zeigen, was er ihm beigebracht hat«, erzählte Leá ihrer
Schwester.
Dann ging Leá zu Rijana und begrüßte auch sie. Sie
musterte das hübsche Mädchen eingehend und setzte sich neben
sie.
»Wart ihr schon auf Camasann Freunde?«, fragte sie
nach dem Essen.
»Wir haben uns auf der Reise dorthin kennen
gelernt«, antwortete Rijana ausweichend.
Leá blickte sie durchdringend an, und Rijana wurde
den Eindruck nicht los, dass Leá genau wusste, dass irgendetwas
nicht stimmte. Doch in dem Augenblick kam Ariac zum Glück zurück.
Rijana hatte ihn noch nie so gelöst und fröhlich gesehen. Sein
kleiner Bruder erzählte ihm scheinbar gerade etwas, und Ariac
lachte herzlich. Langsam konnte Rijana sich vorstellen, wie er
gewesen war, als er noch bei seinen Leuten gelebt hatte. Er
begrüßte nun auch seine zweite Schwester und setzte sich neben sie
und Rijana. Auch Ariac bekam von dem frisch gebratenen Fleisch und
dem Fladenbrot zu essen. Zur Nachspeise gab es Früchte. Alle
bestürmten
ihn mit Fragen, doch Ariac blieb sehr einsilbig und antwortete nur
ausweichend.
»Nun erzähl uns doch von Camasann«, verlangte
Halran, einer der älteren Jäger, und auch die anderen nickten
auffordernd. Das Steppenvolk liebte Geschichten am
Lagerfeuer.
Ariac verschlug es die Sprache, und sein Gesicht
war blass geworden.
Rijana packte Ariac beruhigend am Arm. »Ariac hat
schon so viel erzählt, wenn es euch nichts ausmacht, dann werde ich
etwas von der Insel berichten.«
Nun blickten alle zu ihr und nickten begeistert.
Kaum einer vom Steppenvolk kam jemals in die anderen Länder.
Rijana erzählte von der sturmumtosten Insel, von
den langen Sandstränden, dem riesigen Schloss und den grünen
Weiden. Sie berichtete von ihrer Ausbildung im Reiten, Schwertkampf
und den teilweise sehr ermüdenden Lehrstunden von Zauberer Tomis.
Alle lachten, als Rijana die schnarrende Stimme des kleinen
Zauberers nachmachte.
»Rudrinn, du verdammter Pirat, du wirst es nie
fertigbringen, einen anständigen Brief zu schreiben!«, schnarrte
sie.
Lynn wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht.
»Ariac, dann kannst du ja sogar meinen Kindern das Lesen und
Schreiben beibringen.«
Ariac stand ruckartig auf. »Ich bin müde. Habt ihr
ein Zelt für uns?«
»Natürlich, entschuldigt«, sagte Thyra lächelnd.
»Ihr habt einen langen Ritt hinter euch. Rijana kann in Leás Zelt
schlafen, zusammen mit Lynn«, sie lächelte ihrer Tochter zu, »das
kann ich wohl ohnehin nicht verhindern.«
Diese legte ihrer Zwillingsschwester lachend einen
Arm um die Schulter. »Nein, sie hat mir furchtbar gefehlt.«
»Ariac soll mit bei mir schlafen«, verlangte Ruric
entschieden.
»Nun gut, dann wäre das geklärt«, sagte Rudgarr und
erhob
sich. »Rijana, falls du Wasser brauchst, hinter den Zelten ist
eine Wasserstelle.«
Sie nickte und machte sich auf den Weg dorthin.
Kurz hinter den Zelten holte Ariac sie atemlos ein und hielt sie am
Arm fest.
»Danke«, sagte er.
»Wofür?«
»Dass du nichts verraten hast«, fügte Ariac hinzu,
und seine dunklen Augen glänzten. Er rang nach Worten. »Ich kann
meinen Eltern nicht sagen, dass ich bei König Scurr war, das würde
ihnen das Herz brechen.«
Rijana nickte verständnisvoll. Sie nahm seine Hand
und drückte sie.
»Keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas.«
»Danke«, sagte er noch einmal und verschwand wie
ein Schatten in der Dunkelheit.
Rijana wusch sich das Gesicht und kehrte
anschließend zu dem Zelt zurück, in dem Lynn und Leá sich gerade
aufgeregt unterhielten. Rijana wurde ein wenig traurig. Sie dachte
an Saliah. Ihr hatte sie auch immer alles anvertrauen können.
Nachdenklich legte sie sich auf ein paar weiche Felle und war bald
darauf eingeschlafen.
Am nächsten Morgen kam Rudgarr zu seinem Sohn, der
sich gerade an der Wasserstelle wusch.
»Möchtest du mit mir ausreiten?«, fragte er. »Dein
Hengst ist wunderschön.«
»Du kannst Nawárr gerne reiten, wenn du
möchtest.«
Rudgarr nickte und sattelte den edlen Hengst
ehrfurchtsvoll. Die beiden ritten aus dem Lager heraus und stürmten
eine Weile über die Ebenen. Dann ließen sie ihre Pferde im Schritt
gehen.
»Warum hast du dir die Haare abgeschnitten?«,
fragte Rudgarr plötzlich ernst. »Hat man das von euch
verlangt?«
Ariac musste schlucken und nickte anschließend. In
die Augen konnte er seinem Vater allerdings nicht sehen.
Rudgarr musterte seinen Sohn nachdenklich. Ariac
hatte sich sehr verändert, und das nicht nur äußerlich.
»Ist es dir gut ergangen auf Camasann?«, fragte er
weiter.
Erneut nickte Ariac. Er wusste nicht, was er sagen
sollte.
»Warum bist du nicht früher zurückgekehrt?«
Ariac blickte seinen Vater nun mit einem Anflug von
Verzweiflung an.
»Ich bin einer der Sieben und Rijana
ebenfalls.«
Rudgarr riss die Augen auf und wusste zunächst
nicht, was er sagen sollte.
»Ja … ja aber, warum bist du denn dann nicht bei
den anderen?«, fragte er.
Ariac fuhr sich durch die halblangen Haare, die im
leichten Steppenwind wehten.
»Ich wurde fälschlicherweise eines Mordes
beschuldigt«, sagte er, zumindest jetzt musste er nicht lügen.
»Außerdem ging das Gerücht um, dass die Arrowann ausgerottet worden
wären, und ich musste mir Gewissheit verschaffen, dass das nicht
stimmt.«
Rudgarr blickte seinen Sohn entsetzt an. »Nein,
viele Stämme haben Ärger mit Soldaten, aber wir konnten immer
entkommen. Aber im Namen von Nawárronn, wie kam denn das Gerücht
mit dem Mord zustande?«
Ariac erzählte zögerlich und in Kurzfassung von der
Sache mit Rijana und Berater Flanworn.
Rudgarr nickte nachdenklich. »Ich glaube dir. Es
wäre in Ordnung gewesen, wenn du den Kerl im Kampf getötet hättest.
Aber haben dir deine Freunde nicht geglaubt?«
Ariac senkte den Blick. »Keiner außer Rijana und
Brogan, dem Zauberer.«
Rudgarr betrachtete Ariac nachdenklich. »Das
Mädchen bedeutet dir viel, nicht wahr?«
Ariac nickte mit gesenktem Kopf.
Sein Vater legte seine Hand auf Ariacs Arm. »Aber
du weißt, dass du sie nicht heiraten kannst. Sie ist keine vom
Steppenvolk.«
Ariac nickte erneut, dann warf er seinem Vater
einen Blick zu, der diesem durch Mark und Bein ging. »Bin ich es
denn noch?«
Rijana verbrachte den Morgen gemeinsam mit Lynn
und Leá. Die beiden waren sehr nett und zeigten ihr die Zelte und
ihre Pferde. Allerdings antwortete sie auf die Fragen der Zwillinge
über die gemeinsame Zeit von ihr und Ariac auf Camasann erneut nur
sehr ausweichend, und Leá bedachte sie wieder mit diesem
misstrauischen Blick.
Später kamen Ariac und sein Vater von ihrem Ausritt
zurück, und Rijana empfing ihn erleichtert. Sie hoffte, dass er
seiner Familie vielleicht doch noch die Sache mit König Scurr
gestehen würde, sonst hätten sie wohl bald ernsthafte Probleme
damit, immer wieder Ausreden zu finden.
»Eure Pferde sind wirklich wunderschön«, sagte
Rudgarr gerade.
Ariac nickte. »Nawárr kann einige eurer Stuten
decken, dann habt ihr im nächsten Frühjahr gute Fohlen.«
»Das ist eine wunderbare Idee«, rief Rudgarr
begeistert und schlug seinem Sohn auf die Schulter.
Beim gemeinsamen Essen ging es zum Glück
hauptsächlich um die geplante Jagd, die in einigen Tagen
stattfinden sollte, und die bevorstehende Hochzeit von zwei jungen
Männern. Erneut fiel Rijana auf, wie viel gelöster und fröhlicher
Ariac hier zwischen seinen eigenen Leuten war.
Die Tage vergingen. Rijana und Ariac nahmen an der
Jagd auf die scheuen Steppenrehe teil, und für Rijana war es ein
wunderbares Erlebnis, in der Gruppe über die Ebene zu stürmen.
Sie machten gute Beute, nahmen sich aber nur so viele Tiere, wie
benötigt wurden.
Am Abend gab es ein großes Fest zu Ehren von
Nawárronn, dem Gott des Sturmes. Der schwere Wein aus den dunklen
Trauben des Steppenbusches floss an diesem Tag in Strömen, und
Rijana war schon bald total beschwipst. Nur Ariac rührte kaum etwas
an und starrte am Abend nachdenklich ins Feuer.
Schließlich kam Leá zu ihm. »Kommst du mit mir?«,
fragte sie lächelnd.
Er runzelte die Stirn und nickte. Die beiden gingen
im Licht des Mondes ein Stück auf die Steppe hinaus. Ariac sog den
klaren, kalten Duft der Steppe ein. Das hatte ihm immer gefehlt.
Jetzt im Frühling duftete alles nach Gras und Blumen.
»Es tut mir leid, dass dein Verlobter gestorben
ist«, sagte Ariac nach einer Weile.
Leá biss sich auf die Lippe und nickte. »Es tut
noch immer weh«, erwiderte sie mit gesenktem Blick, doch dann
lächelte sie ihren Bruder an. »Aber Warga hat bei mir ein Talent
zum Lesen der Runen entdeckt, außerdem kann ich ganz gut mit
Heilkräutern umgehen. Vielleicht werde ich nun eine Kräuterfrau.
Obwohl sie immer zu mir sagt, das sei nicht mein Schicksal, denn
ich sei zur Kriegerin geboren.«
Ariac blickte seine Schwester nachdenklich an.
»Wargas Vorhersagen sind meist sehr treffend.«
»Hat sie dir prophezeit, dass du nach Camasann
gehen wirst?«
»So ähnlich«, murmelte Ariac. »Sie sagte, mein
Schicksal sei mit dem der Sieben verbunden.«
»Du bist einer von ihnen, nicht wahr?«, fragte Leá
leise.
Ariac nickte. »Rijana ebenfalls.«
»Ich habe ihr Schwert gesehen«, sagte Leá lächelnd.
»Es ist beeindruckend.«
»Meines ist verschwunden«, fügte Ariac nachdenklich
hinzu.
Leá nickte. Plötzlich nahm sie ihren Bruder an der
Schulter.
»Was ist los, Ariac? Was ist mit dir geschehen? Du
bist so ganz anders als früher. Was bedrückt dich?«
Ariac war zusammengezuckt und kurz davor, die
Flucht zu ergreifen. Dann überlegte er es sich jedoch anders.
»Nichts«, sagte er abweisend. »Ich war lange
fort.«
Leá lächelte ihn im Mondlicht an. »Das ist es
nicht, ich kenne dich.«
Ariac senkte den Kopf. Leá hatte ihn immer gut
verstanden. Eine Weile sagte er gar nichts, sodass Leá schon die
Hoffnung aufgegeben hatte, etwas aus ihm herauszubekommen. Doch
dann begann er leise und kaum verständlich zu reden.
»Ich war niemals auf Camasann.«
Leá blickte überrascht auf, unterbrach ihren Bruder
jedoch nicht.
»In dem Frühling, als Brogan, der Zauberer, mich
mitgenommen hat, sind wir über die Handelsstraße nach Gronsdale,
Errindale und Northfort gezogen.«
Leá hörte gespannt zu.
»In Northfort kam Rijana zu uns.« Ein leichtes
Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Sie war die Einzige,
die mich nicht für einen Wilden gehalten hat. Wir sind Freunde
geworden.«
Ariac seufzte und legte sich in das weiche
Steppengras. Mit offenen Augen blickte er in die Sterne und ließ
noch einmal alles vor seinem geistigen Auge ablaufen. Er erzählte
seiner Schwester von dem Überfall von Scurrs Soldaten und wie er
nach Naravaack gebracht worden war. Und ansatzweise von den vielen
furchtbaren Jahren der Ausbildung unter Worran.
Mit jedem Wort war Leá ein wenig bleicher geworden.
Sie konnte gar nicht glauben, was Ariac ihr erzählte.
»… aber Leá, du musst mir versprechen, es niemandem
zu erzählen. Ich möchte nicht, dass unsere Eltern oder die anderen
davon erfahren«, sagte er zum Schluss und blickte sie eindringlich
an.
Leá nahm ihn in den Arm und sagte mit erschütterter
Stimme: »Du meine Güte, Ariac, wie hast du das denn nur
überstanden? Wenn wir das gewusst hätten …«
Er schüttelte den Kopf und unterbrach sie. »Das
hätte auch nichts geändert.«
»Wir hätten versucht, dich zu befreien«, sagte sie
bestimmt.
Ariac schüttelte erneut den Kopf. »Das wäre euch
nicht gelungen. Die Berge von Ursann sind unwirtlich und grausam.
Es gibt Orks, Trolle und andere finstere Wesen. Außerdem wird alles
von Scurrs Soldaten kontrolliert.«
»Es tut mir so leid für dich«, sagte Leá mit Tränen
in den Augen, während sie ihm zärtlich über das Gesicht
streichelte.
»Es ist jetzt vorbei!« Aber tief in sich drinnen
wusste er, dass es wohl niemals vorbei sein würde.
»Und wie bist du auf Rijana und die anderen
getroffen?«
Ariac erzählte seiner Schwester bis tief in die
Nacht hinein auch noch den Rest der Geschichte und auch von der
falschen Mordanklage. Sie konnte das alles kaum glauben.
»Aber wie soll es denn jetzt weitergehen?«, fragte
sie am Schluss.
Ariac zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht, aber
jetzt, wo ich gesehen habe, dass ihr noch lebt, weiß ich zumindest,
dass ich den anderen trauen kann.« Er verzog den Mund. »Aber sie
trauen mir nicht.«
Leá nahm seine Hand. »Du weißt, dass ihr unsere
Welt nur zu einem besseren Ort machen könnt, wenn ihr gemeinsam
kämpft.«
»Das ist mir klar, und ich weiß auch, dass Rijana
ihre Freunde vermisst, selbst wenn sie es nicht sagt.«
»Sie ist sehr hübsch«, meinte Leá lächelnd, und
zwei süße Grübchen zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab.
»Ja, aber sie ist keine von uns«, fügte er traurig
hinzu.
Leá hob nur die Augenbrauen. »Es gibt immer einen
Weg.«
Ariac konnte dem nicht zustimmen, aber er hatte
ohnehin keine Ahnung, wie sein Leben weitergehen sollte.
»Komm«, Leá zog ihn auf die Beine, »jetzt bist du
erst mal hier bei uns. Ruh dich aus, und denk ausgiebig nach! Wir
werden dir helfen, wo wir können.«
»Aber du …«
Leá packte ihn beruhigend an der Schulter. »Keine
Angst, kleiner Bruder, ich werde nichts sagen.«
»KLEINER Bruder?«, fragte er belustigt.
Leá musste lachen. Er überragte sie um mehr als
einen halben Kopf.»Du wirst immer mein kleiner Bruder bleiben«,
sagte sie und verstrubbelte ihm die Haare.
Ariac verzog das Gesicht. »Das war auch Scurrs
Werk.«
Leá nickte und sagte ernst: »Aber tief in dir drin,
da bist du ein Arrowann geblieben, das hat er dir nicht nehmen
können.«
Die Tage zogen dahin. Rijana und Ariac genossen
die regelmäßige Jagd in der Gruppe. Eines Tages trafen sie auf den
Wolfsclan, der gekommen war, um Lynn wieder abzuholen.
Ihr Mann schimpfte scherzhaft, dass man Lynn kaum
von ihrer Familie fortbringen konnte. Aber wirklich ernst meinte
Narinn das nicht, denn Lynn hatte sich gut im Wolfsclan
eingelebt.
Der Frühling ging langsam in den Sommer über.
Rijana und Ariac fügten sich in das Leben im Lager der Arrowann
ein. Sie wussten beide nicht, wie alles weitergehen sollte, aber es
schien ein stilles Einverständnis zwischen ihnen zu bestehen, dass
sie eine Weile hierbleiben wollten. Rijana gefiel es
immer besser zwischen den Steppenleuten, und häufig fragte sie
sich, ob das vielleicht daran lag, dass sie in ihrem früheren Leben
eine von ihnen gewesen war. Auf Camasann hatte sie sich
wohlgefühlt, aber hier, in der Weite der Steppe, hatte sie das
erste Mal das Gefühl, richtig zu Hause zu sein. Alle waren sehr
nett zu ihr und behandelten sie überhaupt nicht wie eine Fremde.
Die Jäger staunten über ihre Fähigkeit, mit dem Bogen umzugehen,
und Ariacs Mutter schenkte ihr sogar den Jagdbogen, den sie selbst
als junges Mädchen gehabt hatte. Heute ging Thyra nicht mehr auf
die Jagd.
Immer wieder zog der kleine Clan weiter, wenn die
Pferde das Gras abgeweidet hatten oder das Wild knapp wurde. Hin
und wieder bebte die Erde, aber es schien weit entfernt zu sein.
Auch die Stürme waren nicht mehr so bedrohlich.
Da alle gemerkt hatten, dass Ariac nicht gerne von
Camasann oder den anderen der Sieben redete, ließen sie ihn in
Ruhe. Mit der Zeit wurde er etwas entspannter, und Rijana stellte
erleichtert fest, dass er jetzt auch immer häufiger lachte und sich
wohlzufühlen schien. So musste er früher gewesen sein, als er ein
Junge gewesen war.
Rijana musste sich eingestehen, dass sie sich noch
viel mehr in ihn verliebt hatte, aber irgendwie war er noch immer
auffällig zurückhaltend zu ihr.
Es wurde Hochsommer, und die Arrowann zogen weiter
nach Norden, wo es mehrere kleine Bäche gab und der Wind aus den
Bergen Kühlung brachte. Von Scurrs Soldaten sah man zum Glück weit
und breit nichts. Es war eine Reise, die den ganzen zweiten
Sommermond in Anspruch nahm, da viele Kinder und Alte mit unterwegs
waren.
Rijana ritt mit Ariac zusammen an der Spitze. Er
trug nun wieder die helle Lederkleidung der Arrowann, und seine
Haare waren noch länger geworden. Sein Gesicht wirkte entspannt,
so wie er es in den warmen Sommerwind hielt. Auch Rijana war so
glücklich wie selten in ihrem Leben.
Lynn und ihre Kinder waren nun wieder zum Wolfsclan
zurückgekehrt. Sie würden sich wohl erst wieder zum Herbstfest
sehen. Mit Leá hatte Rijana sich angefreundet, und auch die anderen
Arrowann mochte sie wirklich gerne. Ariacs kleiner Bruder war immer
ganz begeistert, wenn sie ihn auf ihrer Stute reiten ließ.
Die Steppenleute hatten gerade ihre Zelte neben
einem kleinen Bachlauf aufgebaut, als eine gebeugte Gestalt langsam
näher kam.
Rijana lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie
wusste nicht warum, aber ihr wurde unheimlich zumute.
Leá, die gerade mit ihr zusammen die letzten
Zeltschnüre gespannt hatte, winkte freudig mit der Hand.
»Wer ist das?«, fragte Rijana.
»Das ist Warga.«
»Die Hexe?«, fragte Rijana gespannt.
Leá nickte. »Komm mit, du brauchst keine Angst vor
ihr zu haben.«
Rijana folgte ihr zögerlich. »Ist sie nicht immer
bei den Arrowann?«
Leá schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat keinen
eigenen Clan. Sie zieht umher und verbringt mal hier, mal dort ein
paar Monde.«
Bald hatten sie die uralte, gebeugte Frau mit der
runzligen Haut erreicht. Lange, dünne weiße Haare hingen ihr ins
Gesicht. Rijana wich unwillkürlich zurück, als Wargas stechend
blaue Augen sie trafen, aber Leá nahm sie beruhigend an der
Hand.
»Das ist Rijana, sie ist mit Ariac hergekommen«,
erklärte sie, zu der Alten gewandt.
Die nickte bedächtig und nahm Rijanas Gesicht in
ihre knorrigen Hände.
»Sie war einmal eine von uns.«
Rijana stolperte nach hinten. Woher wusste die alte
Hexe das?
Auch Leá sah überrascht aus, denn Rijana hatte ihr
davon nichts erzählt.
»Du bist unhöflich geworden, Leá«, schimpfte Warga.
»Du solltest einer alten Frau zunächst etwas zu trinken
anbieten.«
Leá lachte leise und ging voran zu den Zelten.
Ariac hatte gerade ein Steppenreh gehäutet und sprang auf, als er
Warga heranhumpeln sah. Die blickte ihn mit ihren durchdringenden
Augen an, sagte jedoch nichts und setzte sich ans Feuer. Sofort
liefen einige der jüngeren Frauen los und holten Warga frischen
Kräutertee.
Die alte Frau erzählte von ihrer Zeit bei den
verschiedenen Stämmen und was es für Neuigkeiten aus der Steppe
gab.
»… die Stämme, die in der Nähe der Handelsstraße
unterwegs waren, hatten in diesem Frühling schwer zu kämpfen. Immer
wieder wurden sie von Soldaten in blau-weißer Kleidung aufgespürt
und angegriffen. Der Myren-Clan wurde beinahe vollständig
ausgelöscht.«
»Es waren keine Krieger aus Camasann«, stellte
Ariac richtig. »Das ist nur eine List von Scurr, seine Leute haben
sich verkleidet. Eines Tages werden Scurr und Worran dafür
bezahlen«, knurrte er, und Rijana blickte ihn nachdenklich
an.
»Immer wieder fragen sie nach dem Clan der
Arrowann«, fuhr Warga fort. »Ihr müsst gut Acht geben, haltet euch
versteckt und kommt nicht in die Nähe der Straße!«
Nun brachen heftige Diskussionen aus, denn
eigentlich wollten die Arrowann im Herbst Handel treiben, aber das
war in der gegebenen Situation wohl zu gefährlich. Sie würden
diesen Winter wohl ohne Reis, Mehl und andere Annehmlichkeiten
auskommen müssen.
Später kam Leá zu Ariac und bedeutete ihm, mit ihr
zu kommen. Er folgte ihr hinter eines der Zelte.
»Du solltest mit Warga reden, vielleicht kann sie
dir helfen.«
Ariacs Gesicht verfinsterte sich. »Nein, sie hat
mit ihrer Vorhersage schon genügend Unheil angerichtet.«
Leá nahm seine Hand. »Es ist nicht ihre Schuld
gewesen. Warga sieht nur die Dinge, so wie sie sind.« Leá blickte
ihn eindringlich an. »Ich könnte dir zwar auch die Runen legen,
aber ich kann sie noch nicht so gut deuten.«
Ariac schüttelte entschieden den Kopf. Leá hatte es
ihm schon einige Male angeboten, aber er hatte immer
abgelehnt.
Leá seufzte. »Überleg es dir!«
In den folgenden Tagen ging Ariac der alten Frau
jedoch so gut es ging aus dem Weg. Ihre stechend blauen Augen
verfolgten ihn allerdings bis in seine Träume.
Rijana dagegen begleitete Leá häufig zu der alten
Warga, die ihnen immer wieder etwas Neues zu zeigen wusste. Sie
belehrte sie über Kräuter und deren Wirkung gegen verschiedenste
Beschwerden, unterwies Leá weiterhin im Werfen der Runen und
erzählte viele Geschichten über die Stämme der Steppe. Eines Tages
saß Rijana mal wieder in der warmen Sommersonne vor ihrem Zelt. Sie
half Warga, die gerade im Zelt war, die Wurzel einer Steppenblume
zu zermahlen. Diese sollte gegen Zahnschmerzen helfen. Leá war
gerade unterwegs und behandelte ein krankes Pferd.
Gerade kam Ariac mit einigen anderen Arrowann von
der Jagd zurück. Sein Gesicht wirkte glücklich und entspannt. Er
winkte Rijana freudig zu, als er sie sah. Doch dann kam Warga aus
dem Zelt, und sein Gesicht verfinsterte sich. Er wendete Nawárr
rasch und ritt davon.
Rijana seufzte und wandte sich wieder der Pflanze
zu.
»Ariac liebt dich«, sagte Warga plötzlich mit ihrer
krächzenden Stimme.
Rijana zuckte zusammen und lief knallrot an.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie.
Doch die alte Frau nickte. »Das sieht doch jeder.
Weißt du, warum er so zurückhaltend ist?«
Rijana zuckte erneut die Achseln.
Warga zeigte ein zahnloses Lächeln. »Den
Steppenleuten ist es nur erlaubt, eine der ihren zu
heiraten.«
Rijana blickte überrascht auf, das hatte sie nicht
gewusst.
»Wie alt bist du, mein Kind?«
»Ich bin im dritten Frühlingsmond geboren, also
achtzehn Jahre alt.«
Warga nickte. »Dann bist du ohnehin noch ein wenig
zu jung. Erst mit neunzehn könnte er dich zur Frau nehmen.«
»Das kann er doch ohnehin nicht«, sagte sie traurig
und schluckte mühsam die aufsteigenden Tränen hinunter.
Wargas knorrige Hand packte sie am Unterarm. »Du
bist eine der Sieben, hat Leá gesagt, und in deinem früheren Leben
warst du ein Mädchen aus der Steppe.«
»Aber in diesem Leben nicht«, erwiderte Rijana
betrübt.
»Fühlst du dich hier wohl?«, fragte Warga
ernst.
Rijana nickte und antwortete ehrlich: »Ich habe
mich nie wohler gefühlt.«
Die alte Hexe war mit der Antwort zufrieden. »Dann
könntest du eine von uns werden, wenn du das möchtest.«
Rijanas Kopf fuhr nach oben. »Wie denn das?«,
fragte sie atemlos.
»Du müsstest dich mit unseren Bräuchen und Sitten
einverstanden erklären. Aber ich denke, dass das für dich kein
Problem wäre.« Warga grinste. »Du bist bereits eine Kriegerin. Ich
habe dich Bogenschießen gesehen, das war beeindruckend.«
Rijana lief erneut rot an. Lob machte sie immer
verlegen.
»Steppenleute leben im Einklang mit der Natur. Wir
bemühen uns, nichts zum Schaden unserer Mitmenschen zu tun, und
kämpfen nur dann, wenn jemand unsere Existenz oder unsere Familie
bedroht.«
Rijana nickte. »Das ist auch meine Einstellung.
Obwohl -«, sie dachte kurz nach, »ich habe für König Greedeon
gekämpft, und ich weiß nicht, ob das richtig war.«
Warga lächelte. »Du bist noch sehr jung, und auch
Ariac wird bereits gekämpft haben, auch wenn er von dessen Nutzen
nicht überzeugt war. Aber nun könnt ihr euer Leben ändern.«
»Was müsste ich noch tun?«
»Du müsstest drei Tage fasten, allein auf die Ebene
hinausreiten und anschließend deine Vision erhalten. Dann kommst du
zurück und wirst tätowiert.«
Rijana zuckte zusammen. Sie hatte sich mittlerweile
an den Anblick des ungewöhnlichen Körperschmucks gewöhnt, aber
selbst fremde Schriftzeichen auf der Haut zu haben, das fand sie
doch noch ein wenig erschreckend.
Warga nahm ihre Hand. »Du musst es nicht tun, es
ist eine Entscheidung, die du in deinem Herzen treffen musst. Ariac
war lange fort. Sicher, er wird immer ein Arrowann bleiben, aber
nun gehört er auch zu einer anderen Welt.«
Rijana schluckte. »Ich werde darüber
nachdenken.«
Warga klopfte ihr zufrieden auf die Schulter. »Tu
das, mein Kind, tu das.«
Auch Ariac redete einige Tage später mit seinem
Vater. Er fragte, ob er nun, wo er wieder zurück war, die
restlichen Tätowierungen erhalten würde, die ihn zum Krieger
machten.
»Ariac, du bist bereits ein Krieger«, meinte
Rudgarr zögernd. »Wenn auch auf eine andere Art als wir
übrigen.«
Daraufhin warf Ariac sein Schwert fort. »Ich bin
wieder hier. Ich brauche das nicht mehr.«
Rudgarr nahm ihn beruhigend am Arm. »Es wird immer
ein Teil von dir sein, und eines Tages wirst du dich deinem
Schicksal stellen müssen.«
»Mein Schicksal«, Ariac schnaubte und blickte auf
die weite Steppe hinaus, die in der Sommerhitze flirrte. »Willst
du, dass ich gehe?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Rudgarr
entschieden. »Aber, Ariac, du bist einer der Sieben. Eines Tages
werdet ihr gemeinsam kämpfen müssen.« Ariacs Gesicht wurde immer
abweisender. »Und wegen der Tätowierungen, geh zu Warga, sie wird
wissen, was das Richtige ist.«
Ariac schnaubte und lief wütend davon zu den
Pferden. Ohne Sattel schwang er sich auf seinen Hengst und preschte
auf die Steppe hinaus.
Rijana saß währenddessen nachdenklich am Bach und
spielte mit einer Hand im Wasser. Die letzten Tage über hatte sie
beinahe ununterbrochen über das nachgedacht, was Warga ihr
vorgeschlagen hatte, aber sie konnte sich einfach nicht
entscheiden.
Leá kam dazu und setzte sich lächelnd neben sie.
Sie zog ihre halbhohen Wildlederstiefel aus. Mit einem
erleichterten Seufzen ließ sie ihre Füße in das klare, kalte Wasser
gleiten.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Du bist in den
letzten Tagen so nachdenklich. Ariac hat mich auch schon gefragt,
ob ich weiß, was mit dir ist.«
Rijana errötete ein wenig. Tatsächlich war sie ihm
aus dem Weg gegangen.
»Ich weiß nicht …«, begann sie zögernd, dann fasste
sie sich ein Herz. »Versprichst du mir, nichts zu verraten?«
»Natürlich, ich kann schweigen.«
Rijana zögerte noch immer und rang ganz
offensichtlich nach Worten. »Warga hat mir einen Vorschlag
gemacht.«
Leá nickte ihr aufmunternd zu.
»Sie … sie meinte, ich könnte … ich meine, ich weiß
ja gar nicht, ob Ariac das überhaupt will …«
Leá lachte leise auf. »Tut mir leid, aber ich
verstehe nicht.«
Rijana senkte den Blick, und ihre langen
hellbraunen Haare fielen ihr vors Gesicht. »Warga meinte, ich
könnte eine von euch werden, falls ich das wollte, weil
Steppenmänner doch keine anderen Frauen …«
Leá runzelte die Stirn und dachte nach. Sie hatte
an so etwas noch gar nicht gedacht, aber Warga hatte Recht.Vor
vielen hundert Jahren war einmal eine junge Frau aus Errindale zu
den Arrowann gekommen und war eine von ihnen geworden.
Leá nahm Rijanas Hand. »Das wäre ja wunderbar, dann
könnte Ariac dich heiraten. Es würde mich sehr freuen.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, ob er das will«,
erwiderte sie weinerlich und schielte verlegen unter ihren Haaren
hervor. »Und ich möchte ihn auch nicht unter Druck setzen.«
Leá nickte und dachte kurz nach. »Das kann ich
verstehen. Aber ich bin mir sicher, dass er dich sehr gerne
hat.«
Rijana zuckte die Achseln und machte ein
unschlüssiges Gesicht.
»Natürlich«, sagte Leá nachdrücklich. Dann wurde
sie ernst. »Aber es geht auch nicht allein darum, ob Ariac dich
heiraten will oder nicht. Die Entscheidung, eine Arrowann zu
werden, muss aus einem tiefen Wunsch heraus kommen.«
Rijana blickte auf und dachte kurz nach. »Ich habe
mich niemals wohler gefühlt als hier bei euch. Ich habe mich immer
danach gesehnt, endlich mein richtiges Zuhause zu finden, und ich
denke, dass ich es nun gefunden habe. Ich fühle eine tiefe
Verbindung zu den Menschen hier.«
»Das ist schön«, sagte Leá mit einem aufrechten
Lächeln.
Rijana zögerte kurz, dann sagte sie stockend: »Ich,
ich habe es nie erzählt, aber ich war in meinem letzten Leben wohl
Nariwa, und die kam aus der Steppe.«
»Na, dann ist es umso verständlicher, dass du dich
hier wohlfühlst«, sagte Leá, blickte sie ernst an und fuhr fort:
»Wenn du eine Arrowann werden möchtest, dann kannst du das, auch
ohne es Ariac sofort sagen zu müssen.« Sie krempelte ihre lange
erdfarbene Bluse hoch. »Wir Frauen haben es einfacher, denn wir
können unsere Tätowierungen verstecken.« Leá zwinkerte ihr zu. »Und
wenn mein kleiner Bruder eines Tages den Mut aufbringen sollte,
dich heiraten zu wollen, dann werdet ihr keine Probleme
bekommen.«
Rijana lächelte nun erleichtert. Jetzt wusste sie,
dass sie wirklich eine Arrowann werden wollte. Es hatte sie nur
gestört, dass Ariac denken könnte, sie würde es nur für ihn tun.
Sie umarmte Leá stürmisch. »Vielen Dank, du bist wirklich eine gute
Freundin.«
»Gut, kann ich Warga dann Bescheid geben?«, fragte
Leá leise lachend.
»Aber Ariac, er wird merken, wenn ich fort bin«,
wandte Rijana ein.
Lea schüttelte den Kopf. »Ich werde ihm sagen, dass
wir gemeinsam fortreiten und Kräuter sammeln, dann merkt er nichts.
Ich werde an einer bestimmten Stelle auf dich warten. Wenn du deine
Vision hattest, kommst du zu mir, und Warga wird dir die
Tätowierungen machen.«
Rijana nickte dankbar. Jetzt war sie sich sicher,
dass es die richtige Entscheidung war.
Am Abend, als alle gemeinsam aßen, erzählte Leá
von dem gemeinsamen Ausflug zum Kräutersammeln.
Ariac, der neben Rijana saß, musterte sie ein wenig
besorgt. »Aber seid vorsichtig, und pass auf sie auf, Leá!«
Die lachte leise auf. »Rijana hatte mit Sicherheit
eine sehr viel bessere Ausbildung als ich. Wahrscheinlicher ist,
dass Rijana auf mich aufpassen wird.«
Die grinste zustimmend, aber Ariac sah nicht sehr
überzeugt
aus. »Nehmt doch bitte zumindest einen der Jäger mit. Nicht, dass
Scurrs Soldaten …«
Rijana hielt erschrocken die Luft an, am Ende würde
ihr ganzer schöner Plan zerstört werden.
Aber Leá beruhigte ihren Bruder. »Es sind weit und
breit keine Soldaten in der Nähe, und wir gehen nicht sehr weit
fort, keine Angst.«
Ariac runzelte die Stirn. »Gut«, sagte er
schließlich. »Aber seid vorsichtig!«
Rijana und Leá versicherten es ihm. Als sie am
Morgen fortreiten wollten, nahm Ariac Rijana beiseite.
»Pass gut auf dich auf, und komm bald
zurück!«
»Und du sei vorsichtig bei der Jagd«, verlangte
Rijana.
»Nimm du Nawárr«, sagte Ariac plötzlich zu seiner
Schwester. »Falls ihr in Schwierigkeiten geraten solltet, dann seid
ihr schneller.«
»Oh, sehr gut«, antwortete seine Schwester. »Den
wollte ich schon immer mal reiten.«
Als die beiden das Lager verließen, winkten sie
Ariac noch einmal zu, der nachdenklich zurückblieb.
»Siehst du«, sagte Leá augenzwinkernd. »Wenn ich
mit Warga allein auf Kräutersuche bin, macht er sich nie solche
Gedanken.«
Rijana lächelte zögernd, und die beiden ritten den
ganzen Tag lang auf die Steppe hinaus. Schließlich hielten sie in
einer Senke in der Nähe der Berge an.
»Gut«, sagte Leá. »Ich werde hier warten. Du kannst
die Stelle leicht wiederfinden. Du musst nur auf den höchsten
Gipfel des nördlichen Gebirges zuhalten, dann findest du mich.« Sie
holte eine Flasche mit einer Flüssigkeit aus der Satteltasche.
»Lass dich einfach treiben, und wähle die Richtung, zu der du dich
hingezogen fühlst. Bleibe dort, wo du denkst, es ist richtig. Dann
trinke an jedem Abend einige Schlucke aus der Flasche, ansonsten
nur Wasser.«
Rijana nickte und hängte sich den Trinkbeutel um.
Sie schwang sich auf Lenya und galoppierte auf die Ebene hinaus.
Zunächst gelang es ihr nicht, ihre Gedanken ziehen zu lassen. Sie
wusste nicht, wo sie hinreiten sollte, aber dann entspannte sie
sich und galoppierte einfach mit dem Wind, immer in Richtung der
Berge. Als es Abend wurde, hatte sie die ersten Ausläufer des
nördlichen Gebirges erreicht. Rijana trabte noch eine Weile durch
die Hügel und fand schließlich ein Tal, an dessen Ende ein
Wasserfall in die Tiefe stürzte. Hier ließ sie sich auf den Boden
sinken. Lenya fraß derweil das frische, saftige Gras, das hier
wuchs. Rijana war auch hungrig, aber sie begnügte sich mit einem
Schluck Wasser aus dem Bach, der von dem Wasserfall gespeist wurde.
Sie setzte sich in die warme Sonne und genoss die Ruhe und den
Frieden in dem Tal. Als die Schatten länger wurden, nahm sie einen
Schluck von dem Gebräu. Es schmeckte ein wenig bitter, aber nicht
unangenehm. Auch der Hunger ließ nun ein wenig nach.
In dieser Nacht hatte Rijana wirre Träume, konnte
sich jedoch nicht an sie erinnern, als sie am nächsten Morgen
aufwachte. Den ganzen Tag blieb sie in dem Tal, setzte sich auf
einen Felsen, beobachtete die Vögel und Insekten, lauschte dem Wind
und blickte auf die Wolken, die am Himmel vorbeizogen. Es fiel ihr
sehr schwer, nichts zu essen. Gegen Mittag knurrte Rijanas Magen so
heftig, dass sie glaubte, jeder müsste sie im Umkreis mehrerer
Meilen hören. Aber sie beherrschte sich, trank erneut nur etwas
Wasser und am Abend von dem Trank. Auch in dieser Nacht hatte sie
merkwürdige Träume. Rijana glaubte, von längst vergangenen
Schlachten geträumt zu haben, wahrscheinlich aus ihren früheren
Leben. Am Morgen wusste sie nicht, ob das die Visionen sein
sollten, von denen Leá geredet hatte, und überlegte zurückzureiten.
Aber schließlich entschied sie sich dagegen.
Ariac blieb in dieser Zeit hauptsächlich im Lager.
Er machte sich Sorgen um Rijana und Leá und wartete ungeduldig auf
ihre Rückkehr. Noch immer wusste er nicht, was er wegen seiner
Tätowierungen machen sollte. Wahrscheinlich würde ihm wirklich
nichts anderes übrigbleiben, als mit Warga zu sprechen. Er zögerte
noch drei Tage, dann ging er eines Abends zu der alten Hexe.
Warga saß in ihrem Zelt und bereitete einen
eigenartigen Kräutertrank zu.
»Aha, nun hast du also doch deinen Weg zu mir
gefunden«, krächzte sie.
Ariac war angespannt. »Ich wollte dich nur etwas
fragen.«
Mit einem Nicken deutete Warga auf die Felle, die
auf dem Boden ausgebreitet lagen.
Ariac setzte sich. »Ich habe noch immer nicht alle
Tätowierungen, die anzeigen, dass ich ein Krieger bin.«
Warga nickte. »Und, bist du deswegen keiner?«
»Doch«, erwiderte Ariac verwirrt. »Aber alle Männer
bekommen sie, wenn sie alt genug sind.«
Die alte Frau seufzte und begann in dem Kessel zu
rühren. »Sicher, Ariac, sicher, aber du warst eine lange Zeit
fort.« Er machte den Mund auf, doch Warga hob die Hand und sprach
weiter. »Wir alle wissen, dass du ein guter Krieger bist, aber du
hast in einer anderen Welt gelebt. Du kämpfst nun mit dem Schwert.
Sicher, du bist ein Arrowann, aber du gehörst auch zu den anderen
Menschen.«
»Und deswegen darf ich wohl nicht tätowiert werden,
oder was?«, brauste er auf, seine dunklen Augen funkelten
zornig.
Warga blickte ihn eine ganze Weile schweigend an,
bis Ariac schließlich den Blick senkte. »Natürlich kann ich dir die
restlichen Tätowierungen anbringen. Aber bist du sicher, dass du
sie nicht nur deswegen willst, weil du dein Schicksal verleugnen
möchtest?«
Ariac funkelte sie erneut wütend an. »Ich verfluche
den Tag, an dem du mir mein Schicksal gedeutet hast.«
»Hätte es etwas geändert, wenn ich es nicht getan
hätte?«, fragte sie ernst.
Ariac wollte schon wieder aufbrausen, aber dann
zuckte er die Achseln.
»Wahrscheinlich nicht.«
Warga packte ihn mit ihrer knochigen Hand am Arm.
»Ariac, du gehörst nun in beide Welten. In die der Steppenleute und
die der übrigen. Soll ich dir erneut die Runen werfen? Vielleicht
wird dir dein Weg dann klarer.«
Ariac zuckte zurück und schüttelte den Kopf. Aber
dann besann er sich, vielleicht war es besser zu wissen, was ihn
erwartete.
Warga warf einige Kräuter ins Feuer und begann,
fremde Worte vor sich hinzumurmeln. Dann holte sie einen alten,
abgegriffenen Lederbeutel heraus, sprach einige Worte und warf die
Runen auf die Decke vor sich. Sie beugte sich vor und murmelte:
»Erneut das Zeichen der Sieben, das wundert mich nicht.«
Ariacs Mund war trocken. Warga warf die Runen noch
einmal, dann runzelte sie die Stirn.
»Ich sehe Verrat, ich sehe Kämpfe und Tod.«
»Ich bin kein …«, begann Ariac zornig, doch Warga
hob die Hand.
»Das sagte ich nicht.« Sie schüttelte die Runen
noch einmal und blickte auf die Konstellation vor sich. »Wie ich
mir schon gedacht habe: Du bist der Mittler zwischen mehreren
Welten. Du musst die Völker versöhnen, aber du bist nicht
allein.«
»Rijana?«, fragte er unsicher.
Warga hob die Schultern. »Das weiß ich nicht, aber
es ist wahrscheinlich.«
»Aber was soll ich tun?«, fragte er
verzweifelt.
Warga seufzte und blickte ihn ernst an. »Du musst
die anderen davon überzeugen, dass du auf ihrer Seite stehst, dass
du zu ihnen gehörst und es ehrlich meinst.«
»Aber wie?«, fragte er verzweifelt. »Sie halten
mich für einen Mörder und …« Er stockte. »… Schlimmeres.«
»Was ist geschehen, Ariac?«, fragte Warga
ernst.
Er versteifte sich, und Panik trat in seinen Blick,
er wollte nicht über Ursann reden.
»Du musst es mir nicht sagen, aber ich sehe, dass
es schlimm gewesen sein muss.«
Ariac nickte zögernd und senkte den Blick.
Warga fasste ihn erneut fest am Arm. »In dir ist so
viel Hass und so viel Schmerz, den musst du loslassen und
überwinden. Öffne dich den schönen Dingen im Leben! Freundschaft,
Liebe, Vertrauen.«
»Ich kann niemandem mehr vertrauen«, murmelte
er.
»Wirklich niemandem?«, fragte Warga ernst.
Ariac hob die Schultern. »Zumindest nicht sehr
vielen.«
»Dann konzentriere dich auf die, bei denen du
sicher bist, und halte sie fest.« Sie blickte ihn eindringlich an.
»Und gib auch ihnen das Gefühl, dass sie dir trauen können.«
Ariac dachte an Rijana. Häufig war er viel zu
abweisend gewesen. Er musste ihr zumindest sagen, dass er sie nicht
heiraten konnte, aber dass er immer ihr Freund bleiben würde. Ariac
seufzte. Nun war er ein wenig erleichtert und wollte sich erheben.
Doch Warga hielt ihn zurück.
»Damals, als du deine ersten Tätowierungen erhalten
hast, hast du mir da von deiner ganzen Vision erzählt?«
Ariac wurde bleich und zuckte zusammen. »Woher
weißt du das?«
Sie grinste, und ihr beinahe zahnloser Mund zeigte
sich. »Du hast ein bedeutendes Schicksal, und sicher hast du schon
damals etwas gesehen.«
»Ich habe fremde Schlachten gesehen und mich
selbst, wie
ich mit einem Schwert gekämpft habe«, gab er zu und setzte sich
wieder. »Ich habe es verdrängt, weil ich es nicht glauben
wollte.«
Warga nickte, dann grinste sie. »Wenn du möchtest,
dann kann ich dir das Schwert auf den Arm tätowieren, denn du bist
der Mittler zwischen den Völkern.«
Einen Augenblick zögerte Ariac, dann willigte er
ein. Es war wohl, wie Warga sagte. Er konnte seinem Schicksal nicht
entkommen. Also tätowierte die alte Hexe in dieser Nacht ein
schmales Schwert auf Ariacs Arm. Genau in die Mitte der
verschlungenen Linien mit den Pfeilspitzen am Ende.