KAPITEL 9
Die Letzte der Sieben
Bei Nelja hatte sich, wie Brogan bereits
vermutet hatte, das Talent zur Zauberei gefestigt. So blieb das
junge Mädchen auf der Insel, die unter großen Mühen neu aufgebaut
wurde. Da die Zauberschüler getrennt von allen anderen unterrichtet
wurden, war Rijana in den nächsten zwei Jahren sehr allein. Sie
vermisste ihre Freunde sehr. Mit der Zeit wurde aus lein. Sie
vermisste ihre Freunde sehr. Mit der Zeit wurde aus dem kleinen
Mädchen eine hübsche junge Frau, die von den jungen Männern
bewundert wurde. Doch Rijana schob das selbstverständlich darauf,
dass sie nun nur noch eine von drei Mädchen war und noch dazu die
Älteste.
Das Neujahrsfest näherte sich, und nun war es an
Rijana, getestet zu werden. Einige Tage vor dem großen Tag klopfte
sie an Brogans Tür. Der Zauberer freute sich, sie zu sehen, und bat
sie in den Raum, der mit uralten Büchern und magischen Artefakten
vollgestopft war. Im Gegensatz zu dem pompösen und peinlich
aufgeräumten Arbeitszimmer von Zauberer Hawionn gefiel Rijana die
liebevolle Unordnung Brogans sehr viel besser, und sie fühlte sich
hier wohl. Sie setzte sich in einen uralten Ledersessel.
»Hast du etwas von Saliah und den anderen gehört,
Brogan?«
Der Zauberer lächelte mitleidig. Er wusste, wie
sehr Rijana ihre Freunde vermisste. »Nicht sehr viel«, erzählte er,
»nur, dass Saliah und Falkann jetzt seit einiger Zeit ein Paar
sind.«
Rijana nickte mit einem freudigen Lächeln. Das
hatte sie sich schon beinahe gedacht. Die beiden passten ja auch
wirklich sehr gut zusammen.
»Sie werden das Neujahrsfest sicherlich mit einem
großen Essen feiern. Soweit ich weiß, sind sie wieder in
Balmacann«, fuhr Brogan fort.
Rijana wurde traurig. Dies war jetzt schon das
zweite Jahresfest, das sie ohne ihre Freunde verbringen würde. Aber
viel mehr Angst machte ihr, was sie nach dem Test tun sollte.
Zurück nach Grintal konnte sie kaum. Ihre Eltern würden sie nicht
zurückwollen. Brogan schien ihr die Frage angesehen zu haben. Er
streichelte über Rijanas dicke weiche Haare. »Falls du keine der
Sieben bist, kannst du gerne bei mir arbeiten«, sagte er
beruhigend. Brogan sah sich um und verzog den Mund. »Wie du siehst,
brauche ich schon lange jemanden, der für mich etwas Ordnung
hält.«
Rijanas Gesicht überzog ein erleichtertes Lächeln,
und der Zauberer bemerkte einmal mehr, wie hübsch sie in den
letzten Jahren geworden war. Ihr Gesicht war wohlgeformt mit
langen, geschwungenen Wimpern. Sie hatte wunderschöne füllige Haare
von einem ungewöhnlichen hellen Braunton. Zudem war sie schlank und
durchtrainiert. Er wusste, dass viele der Krieger und beinahe alle
Jungen in der Schule heimlich in sie verliebt waren. Doch Rijana
fehlte es noch immer an Selbstbewusstsein, denn sie selbst hielt
sich für nichts Besonderes.
»Danke Brogan«, rief sie erleichtert, umarmte ihn
und lief anschließend mit federnden Schritten aus dem Raum.
Der Tag des Jahreswechsels kam. Fünfundzwanzig
Jungen wurden getestet, und sehr zu Hawionns Unwillen war kein Sohn
Thondras dabei. Falkann hatte freiwillig sein Schwert
zurückgelassen, denn eines brauchten sie ja, um die jungen Krieger
zu testen. Rijana war das einzige Mädchen und erst
ganz zum Schluss an der Reihe. Unsicher trat sie vor und blickte
den großen alten Zauberer schüchtern an.Vor Hawionn hatte sie noch
immer ein wenig Scheu. Brogan zwinkerte ihr heimlich zu, was ihr
Mut machte.
Rijana ergriff das magische Schwert, und sogleich
erschienen merkwürdige Bilder vor ihrem geistigen Auge. Bilder von
vergangenen Schlachten und von Kriegern, die ihr eigenartig
vertraut vorkamen. Sie taumelte überwältigt zurück. So wie bei
ihren Freunden in den Jahren zuvor brach Jubel aus, und Brogan
umarmte sie überschwänglich.
»Rijana, Kind, du bist eine der Sieben!«, rief er
aus.
Das Mädchen wusste gar nicht, wie ihr geschah.
Rijana ließ Glückwünsche und Umarmungen über sich ergehen.
Einerseits konnte sie es kaum erwarten, bald wieder mit ihren
besten Freunden zusammen zu sein, doch andererseits konnte sie
nicht glauben, dass ausgerechnet sie – ein Bauernmädchen aus
Northfort – eine der Sieben sein sollte.
An diesem Abend war Rijana die Hauptperson, und
alle jungen Männer rissen sich darum, mit ihr zu tanzen. Als es
schon Nacht war, kam Nelja zu ihr ans Bett. Rijana hatte ohnehin
noch nicht schlafen können.
»Du wirst bald gehen«, sagte die junge Zauberin
seufzend, und auch Rijana wirkt etwas bedrückt. Dann kramte Nelja
in der Tasche ihres Gewandes herum und fragte mit ängstlichem
Blick: »Kannst du Tovion etwas von mir geben?« Sie schluckte und
schlug die Augen nieder. »Falls er mich noch nicht vergessen
hat.«
Rijana schüttelte den Kopf und umarmte die
Freundin. »Das hat er sicher nicht, und selbstverständlich mache
ich das gern.«
Nelja gab ihr ein flaches, mit Runen verziertes
Amulett. »Es ist ein Schutzamulett«, erklärte Nelja verlegen und
wurde ein wenig rot.
»Es ist wunderschön«, sagte Rijana lächelnd. Sie
legte sich
ins Bett und grübelte beinahe die ganze Nacht darüber nach, wie
ihr Leben weitergehen würde.
Eigentlich sollte Rijana noch im Herbst abreisen
und zu König Greedeon und den anderen gebracht werden, doch dann
tobten derart schwere Stürme über das ganze Land, dass die Seereise
zu gefährlich gewesen wäre. Also musste Rijana den ganzen Winter
auf dem noch immer nicht komplett renovierten Schloss verbringen.
Doch als sich die ersten Frühlingsboten zeigten, war es so weit.
Hawionn verabschiedete Rijana mit großen Gesten und gab ihr eine
Eskorte von fünfundzwanzig Soldaten mit. Brogan blickte der
hübschen jungen Frau hinterher, die auf dem kleinen Segelschiff in
Richtung Festland fuhr.
»Pass auf dich auf, Rijana«, flüsterte er in die
steife Brise, die von Westen kam. Er machte sich um alle Sorgen,
doch die kleine Rijana lag ihm von jeher besonders am Herzen.
»Ich bin gespannt, ob wir auch das siebte der
Kinder Thondras bei uns haben«, meinte Rittmeister Londov, der mit
dem Zauberer zurückritt.
»Das werden die nächsten Jahre zeigen«, sagte
Brogan nachdenklich. »Wenn wir Glück haben, war auch der zweite
Junge von Scurr eine Lüge.«
Rijana ritt mit den Soldaten, die sie zum größten
Teil schon sehr lange kannte, durch Balmacann. Eigentlich war es
ein sehr fruchtbares und reiches Land, doch die Winterstürme hatten
vieles zerstört. Überall sah man Bauern, die ihre beschädigten
Hütten neu aufbauten, und eine Menge Bäume waren umgestürzt. Trotz
allem genoss Rijana die Reise. Sie freute sich so sehr, ihre
Freunde wiederzusehen. Im zweiten Frühlingsmond erreichten sie das
mit Gold verzierte, riesige Tor des Schlosses. Überall blühten
Blumen und Büsche, hier war nichts von der Zerstörung zu sehen, die
sonst im
ganzen Land herrschte. Wächter verbeugten sich ehrfürchtig vor
Rijana und den Kriegern aus Camasann, was dem Mädchen ziemlich
peinlich war. Sie bemerkte auch nicht die bewundernden Blicke,
welche die Wächter ihr hinterherwarfen. Rijana sah wirklich
wunderschön aus, wie sie auf der dunkelbraunen Stute ritt. Ihre
langen Haare glänzten im Sonnenschein, und der magische Umhang
passte sich farblich immer der Umgebung an.
Durch eine riesige Allee ritt sie mit ihrer Eskorte
immer weiter durch einen weitläufigen Park. Künstlich angelegte
Seen und Meere aus Blumen waren zu sehen, und zu den beiden Seiten
des Kiesweges standen hohe alte Bäume, die ein natürliches Dach
bildeten. Rijana bestaunte das alles. Etwas so Prächtiges hatte sie
noch nie gesehen. Immer wieder begegneten ihr Bedienstete, die sich
rasch verbeugten, woraufhin Rijana jedes Mal rot anlief. Dann
näherten sie sich einem wirklich ungewöhnlichen Schloss. Es lag
mitten im Park, davor ein gepflegter Rasen, und Rijana überlegte,
wo sie so etwas schon einmal gesehen hatte. Es war strahlend weiß
und hatte jede Menge Türme und Erker, doch irgendetwas kam ihr
merkwürdig vor. Aber Rijana blieb keine Zeit, weiter darüber
nachzudenken.
Durch das riesige, mit steinernen Blüten verzierte
Tor stürmten ihre fünf Freunde ihr entgegen. Rudrinn, der in den
letzten zwei Jahren ebenso zum Mann geworden war wie die anderen,
hob sie hoch, nachdem sie abgestiegen war, und wirbelte sie herum.
Er trug jetzt einen kurzen Bart, und seine leicht gelockten,
rabenschwarzen Haare waren etwas länger als früher.
Anschließend ließ er sie lachend herunter, hielt
sie ein Stück von sich weg und rief: »Du meine Güte, Rijana! Du
bist ja eine wunderschöne junge Frau geworden!«
Rijana lief rot an und schubste ihn von sich. »Red
nicht so einen Blödsinn, Rudrinn.«
Doch auch die anderen musterten sie bewundernd,
sodass Rijana nur verlegen ihren Blick senkte. Anschließend
betrachtete Rijana alle noch einmal genau. Sie hatte ihre Freunde
wirklich vermisst. Alle trugen edle Gewänder in blau und weiß und
sahen elegant aus. Falkann wirkte muskulöser als früher und trug
nun genauso wie Rudrinn einen Bart. Tovion war glattrasiert, und
auch er sah jetzt wie ein junger Mann aus, nicht mehr wie ein
schlaksiger Junge. Den verträumten Blick hatte er allerdings immer
noch. Broderick, der bereits bei ihrer Abreise einen Stoppelbart
getragen hatte, wirkte nun ebenfalls kräftiger und männlicher. Es
waren nur zwei Jahre gewesen, doch sie alle hatten sich sehr
verändert. Saliah war in dieser Zeit natürlich noch schöner
geworden, stellte Rijana ein wenig neidisch fest.
König Greedeon, der schon beim ersten Mal, als
Rijana ihn gesehen hatte, sehr imposant und mächtig gewirkt hatte,
trat nun ebenfalls aus dem Tor. Er bedachte sie mit einem Lächeln.
»Herzlich willkommen«, sagte er und machte eine ausholende
Handbewegung. »Nun ist auch die Sechste der Sieben bei mir.«
Sie verbeugte sich ein wenig unsicher. Der König
nahm sie an der Hand, und Rijana lief schon wieder rot an.
»Du bist ebenso schön wie deine Freundin Saliah«,
stellte König Greedeon fest.
Rijana lächelte unverbindlich. Der König führte sie
durch das riesige Schloss. Jeder Raum war mit edlen Teppichen
ausgekleidet, die Türknäufe und Geländer vergoldet, und alles
wirkte sauber und gepflegt. Rijana musste sich sehr beherrschen, um
nicht vor Staunen stehen zu bleiben. Zum Schluss führte der König
Rijana in einen großzügigen Raum, in dem ein riesiges Himmelbett
stand.
»Hier kannst du schlafen.« Er deutete auf das
prachtvolle Zimmer.
Rijana setzte sich ehrfürchtig auf das große
Bett.
»Es liegt Kleidung auf dem Stuhl dort drüben. Ein
Diener wird dich in den Speiseraum führen«, erklärte der König und
zog sich zurück.
Rijana ließ sich auf die weiche Seidendecke fallen.
Sie konnte das alles gar nicht glauben. Schließlich erhob sie sich
widerstrebend, wusch sich den Staub der Reise aus dem Gesicht und
zog anschließend das dunkelblaue Kleid mit den weißen Rüschen an.
Am Oberkörper war es zu weit und unten zu lang, sodass sie dauernd
stolperte. Doch bevor sie daran etwas ändern konnte, klopfte schon
ein Diener in einem blauschwarzen Gewand an ihre Tür und geleitete
sie die Treppe hinunter. Rijana raffte ihren Rock und bemühte sich,
nicht hinzufallen. Ihre Freunde saßen bereits an einem großen
Tisch, der üppig gedeckt war. Der König erhob sich und führte
Rijana zu dem Platz neben sich.
Mit einem Nicken deutete er zu dem Mann, der Rijana
gegenüber an der Tafel saß. »Darf ich dir meinen Berater Flanworn
vorstellen?«
Ein mittelgroßer Mann mit einer Halbglatze, die er
wohl dadurch zu verstecken versuchte, dass er sich die fettigen
Haare nach vorne kämmte, erhob sich und bedachte Rijana mit einem
gierigen Blick.
Rasch zog sie ihren viel zu großen Ausschnitt
zusammen und setzte sich hin.
Saliah, die neben ihr saß, sah natürlich
wunderschön aus in ihrem perfekt sitzenden Kleid. Sie beugte sich
zu Rijana: »Wir werden nachher die Schneiderin aufsuchen.«
Rijana nickte und kam sich neben der Freundin mal
wieder wie ein dummes kleines Bauernmädchen vor. Berater Flanworn
lehnte sich mit einem schmierigen Grinsen über den Tisch, wobei er
schlechte, gelbliche Zähne entblößte.
»Probiert diesen Wein, junge Lady. Er wird Euch
schmecken.« Damit schenkte er Rijana ein Glas Weißwein ein, welchen
diese mit unsicherem Lächeln trank.
Der König unterhielt seine Gäste mit Gesprächen
über Politik und verbreitete Neuigkeiten über König Scurrs
Überfälle. Rijana versuchte immer wieder, den Blicken des Beraters
auszuweichen, der sie mehr als auffällig anstarrte. Falkann, der
neben dem Berater saß, schüttete schließlich absichtlich seinen
Weinbecher auf dessen Hose, sodass der Berater mit einem leisen
Fluchen verschwand. Falkann zwinkerte Rijana zu, die erleichtert
lächelte.
Endlich war das Essen vorüber, sodass Saliah Rijana
zu einer der Schneiderinnen im Schloss begleiten konnte. Dabei
erzählte Saliah die ganze Zeit davon, wie luxuriös das Schloss doch
sei und wie großzügig König Greedeon sich ihnen gegenüber
verhielte.
»Aber dieser Flanworn ist widerlich«, sagte Rijana,
die nun in einem Unterkleid hinter dem Umkleidevorhang stand.
»Ja schon, mich hat er auch immer angestarrt, aber
ich habe ihn schnell in die Schranken gewiesen«, erwiderte Saliah
selbstbewusst und saß anmutig auf einem der samtenen Stühle,
während die Schneiderin Rijanas Kleider enger machte. »Es ist
wirklich schön, dass du eine von uns bist«, fügte sie dann noch mit
ihrem strahlenden Lächeln hinzu.
Rijana nickte, kam mit dem nun passenden Kleid
heraus und seufzte erleichtert.
»Du bist wirklich hübsch geworden«, sagte Saliah
bewundernd und nahm eine von Rijanas langen Haarsträhnen in die
Hand.
»Ach was«, erwiderte diese verlegen.
Die beiden Freundinnen schlenderten durch die
Gänge, und Saliah führte Rijana schließlich durch einen seidenen
Vorhang in einen Hof, wo Falkann, Rudrinn, Broderick und Tovion mit
ihren Schwertern trainierten.
»Sie sind noch besser geworden«, rief Rijana
aus.
Saliah lächelte zustimmend. »Ab morgen müssen wir
wohl auch mitmachen.«
Rijana nickte, und als die jungen Männer mit dem
Training aufhörten, ging sie zu Tovion und gab ihm, etwas abseits
von den anderen, ein in Stoff gehülltes Päckchen.
Der schaute sie fragend an.
»Von Nelja«, erklärte sie.
Tovion errötete ein wenig. »Wie geht es ihr
denn?«
»Sie wird eine gute Zauberin werden, sagt
Brogan.«
»Spricht sie denn noch manchmal von mir?«, wollte
Tovion mit sehr viel Unsicherheit in der Stimme wissen.
Rijana lächelte und umarmte den Freund. »Sie hatte
Angst, dass du sie vergessen hast.«
Tovion seufzte erleichtert. »Ich werde ihr sofort
einen Brief schreiben.«
Er lief mit federnden Schritten zurück zum Schloss.
Als Falkann zu Rijana herüberkam, bedachte er sie erneut mit einem
bewundernden Blick.
»Na, wie geht es dir?« »Ganz gut, auch wenn ich
noch immer nicht glauben kann, dass ich eine der Sieben sein soll«,
antwortete sie.
Falkann nickte. »Das ging uns allen so, aber es ist
gut, dass wir alle Freunde sind.«
»Aber der Siebte?«, fragte Rijana unsicher. »Kann
es wirklich Lugan gewesen sein, oder ist es der andere Junge, den
König Scurr hat?«
Falkann seufzte. »Darüber haben wir uns schon so
oft den Kopf zerbrochen, aber auch wir wissen es nicht.«
Dann verbeugte er sich lächelnd vor ihr und bot ihr
seinen Arm an. »Darf ich der jungen Lady etwas von diesen
wunderschönen Gärten zeigen?«
Rijana lachte und boxte ihn in die Seite. »Du
darfst, aber ich bin keine Lady.«
»Du siehst aber wie eine aus«, erwiderte er und
bedachte sie mit einem Blick, der ihr ein Prickeln über den Rücken
laufen ließ.
So hatte Falkann sie noch nie angesehen. Rijana
schüttelte sich und ging dann auf das geschmiedete Tor zu, das nach
draußen führte.
Falkann zeigte ihr die blühenden Gärten, die Seen,
auf denen Schwäne schwammen, und die weitläufigen Koppeln, auf
denen wunderschöne Pferde mit langen Mähnen grasten.
»Du wirst dir eines aussuchen dürfen«, sagte er und
deutete anschließend auf einen fuchsfarbenen Hengst. »Der hier
gehört mir.«
Rijana staunte. Die Pferde waren alle
wunderschön.
»Warum darf ich mir eines aussuchen?«, fragte sie
verwirrt.
Falkann lächelte. »Das durften wir alle. König
Greedeon ist sehr großzügig. Er will uns wohl bei Laune
halten.«
Rijana mochte diese ganzen undurchsichtigen Spiele
der Könige, Lords und Herrscher nicht. Ihr hatte es schon gereicht,
in der Schule davon zu hören.
Falkann streichelte ihr sanft über die Wange, und
Rijana hielt die Luft an.
»Es ist schön, dass du hier bist«, sagte er
leise.
Sie nickte nur, räusperte sich anschließend und
sagte: »Wir sollten zurückgehen, es ist schon beinahe
dunkel.«
Falkann lächelte, nahm ihre Hand und führte sie
zurück zu dem weißen Schloss. Dann geleitete er sie zu ihrem Zimmer
und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Schlaf
gut!«
Rijana blickte ihm verwirrt hinterher und legte
sich in ihr riesiges Bett.Von hier aus konnte man hinunter auf
einen der großen Seen blicken, in dem sich der aufgehende Mond
spiegelte. Rijana dachte über den heutigen verwirrenden Tag nach,
als es leise an ihrer Tür klopfte.
»Herein«, sagte sie unsicher. Wer konnte das denn
jetzt noch sein?
Eine grinsende Saliah stand in der Tür. In ihrer
Hand balancierte sie zwei Becher mit einer dampfenden
Flüssigkeit.
»Darf ich reinkommen, oder bist du müde?«
Rijana schüttelte lachend den Kopf.
Die beiden Freundinnen setzten sich auf das breite
Bett, und Saliah drückte Rijana den Becher in die Hand.
»Hier, nimm! Es ist heiße Schokolade. Ich habe
einen Küchenjungen bestochen«, erklärte sie frech grinsend.
Rijana lachte leise. »Ich nehme mal an, du hast ihn
nur anlächeln müssen, oder?«
Saliah nickte grinsend und nippte an ihrem Becher.
Auch Rijana trank vorsichtig. Heiße Schokolade hatte es auf
Camasann nur in Ausnahmefällen oder wenn jemand krank war gegeben.
Birrna war damit nicht sehr großzügig gewesen.
»Falkann sind beinahe die Augen herausgefallen, als
er dich gesehen hat«, sagte Saliah grinsend.
Rijana lief rot an und stammelte: »Entschuldige,
ich weiß auch nicht …«
Doch Saliah legte ihr beruhigend eine Hand auf den
Arm. »Das macht doch nichts! Wir sind schließlich schon lange kein
Paar mehr.«
»Nicht?«, fragte Rijana überrascht und verschüttete
vor Schreck beinahe ihre heiße Schokolade. Saliah schüttelte den
Kopf, und eine blonde Strähne löste sich aus der silbernen
Haarspange.
»Weißt du, alle haben immer erwartet, dass wir
eines Tages heiraten. Ich habe Falkann ja auch gern, aber eben
nicht so sehr, dass ich mein Leben mit ihm verbringen möchte«,
sagte Saliah ernst. Dann lächelte sie verträumt und erzählte: »Es
gibt hier allerdings einen jungen Soldaten, der hat dunkle Haare
und ist schon einige Jahre älter als ich …«
Rijana lächelte. Saliah könnte sicherlich jeden
Mann haben, den sie wollte. Aber Rijana konnte sich beim besten
Willen nicht vorstellen, dass Falkann sich ernsthaft für sie, das
kleine Bauernmädchen aus Grintal, interessierte.
Saliah redete noch eine ganze Weile über das
Schloss und die vielen Reisen, die sie in den letzten zwei Jahren
unternommen hatten, doch Rijana konnte irgendwann einfach die Augen
nicht mehr offen halten.
»Entschuldige bitte«, sagte Saliah irgendwann
erschrocken. »Du hast eine lange Reise hinter dir, und ich rede wie
ein Wasserfall.«
Rijana winkte ab, konnte jedoch ein Gähnen nicht
verhindern. Saliah umarmte sie noch einmal.
»Schön, dass du da bist«, strahlte Saliah und
verschwand aus dem Zimmer.
Müde ließ sich Rijana in die weichen Kissen fallen.
In dieser Nacht hatte sie wirre Träume von galoppierenden Pferden,
von Falkann, der sie anlächelte, und von diesem merkwürdigen
Schloss. Am Morgen wachte sie mit verquollenen Augen auf und wusste
zunächst gar nicht, wo sie war. Dann streckte sie sich und kleidete
sich an.
Eine Dienerin führte sie in die Halle, wo bereits
einige ihrer Freunde beim Frühstück waren. Zum Glück waren diesmal
der König und sein Berater nicht anwesend, sodass die Gespräche
wesentlich ungezwungener waren. Genau betrachtet hatten sich die
Freunde gar nicht so sehr verändert, wie Rijana fand. Gut, alle
waren ein wenig älter und erwachsener geworden, aber im Grunde
waren sie doch immer noch dieselben geblieben. Broderick war noch
immer ein Scherzbold und Rudrinn ein Rabauke, der mit Kirschkernen
auf ein Ölgemälde an der Wand zu schießen versuchte. Tovion saß wie
immer nachdenklich auf seinem Stuhl, und Saliah bezauberte alle mit
ihrem strahlenden Lächeln. Nur Falkann verhielt sich anders, denn
er betrachtete sie neuerdings mit merkwürdigen Blicken.
Nach dem Frühstück kam der König in den Raum, der
zuerst etwas verwirrt die Kirschkerne auf dem Boden zur Kenntnis
nahm, bevor er sich an Rijana wandte: »Rijana, darf
ich dich nun zu den Pferdekoppeln führen? Es wird Zeit, dass du
dir ein passendes Pferd aussuchst«.
Sie nickte zögernd und erhob sich. Der König bot
ihr lächelnd seinen Arm an, und sie ging, während sie einen
unsicheren Blick auf ihre Freunde warf, mit ihm aus dem Raum.
Greedeon überhäufte sie mit Komplimenten, sodass Rijana immer
unbehaglicher zumute wurde.
»Vielleicht sollte ich mir lieber Reitkleidung
anziehen«, sagte sie, bevor König Greedeon sie ins Freie
geleitete.
Der ältere Mann lächelte verständnisvoll. »Sicher,
sicher, du wirst das Tier natürlich zuerst testen wollen. Wie
konnte ich das nur vergessen?«
Rijana nickte und deutete ein Lächeln an, dann lief
sie so schnell, wie sie es für höflich hielt, die Treppe hinauf. In
ihrem Zimmer lehnte sie sich tief durchatmend an die Wand. Diese
höfischen Sitten waren einfach nichts für sie. König Greedeon war
sehr freundlich und zuvorkommend, doch irgendetwas störte sie an
ihm. Rijana zog sich die Sachen an, die sie aus Camasann
mitgebracht hatte, und als sie schließlich herunterkam, verzog der
König leicht missbilligend sein Gesicht.
»Haben die Diener dir keine Hosen und Hemden in
meinen Farben gebracht?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte leichthin: »Nein,
aber das macht nichts.«
»Das tut es sehr wohl!«, sagte der König mit einem
Unterton, der keinen Widerspruch duldete.
König Greedeon führte das Mädchen durch den Park zu
den Pferdekoppeln.
»Such dir ein Pferd aus«, verlangte er.
Rijana kletterte auf den hohen Holzzaun und schaute
sich die einzelnen Pferde lange an. Es waren wirklich wunderschöne
Tiere, sodass es ihr sichtlich schwerfiel, sich zu
entscheiden.
»Darf ich näher herangehen?«, fragte sie.
Der König nickte. »Natürlich, aber sei
vorsichtig!«
Rijana betrachtete jedes Pferd aus der Nähe. Jedes
einzelne sah sie mit sanften Augen neugierig an. Schließlich blieb
sie vor einer eleganten braunen Stute stehen.
»Ich würde sie gerne reiten«, rief Rijana dem König
zu.
Der winkte einem Diener, der sofort loseilte und
Sattel und Zaumzeug holte. Rijana streichelte das Pferd, das ihr
seinen warmen Atem in die Haare blies. Die Stute war schlank und
geschmeidig, hatte die Muskeln jedoch an der richtigen Stelle und
wirkte feurig. Der Diener eilte herbei und wollte anfangen, das
Pferd zu satteln.
»Danke, aber das kann ich selbst«, sagte sie
freundlich.
Doch der König rief von weitem: »Nein, lass das den
Diener machen.«
»Ich tue es gerne«, erwiderte Rijana und nahm dem
Mann das Zaumzeug aus der Hand.
Nun kam der König wütenden Schrittes auf sie zu,
sein eben noch so freundliches Gesicht wutverzerrt. »Ich sagte,
lass das den Diener machen!«, sagte er bissig. »Es gehört sich
nicht für eine Lady.«
Rijana hielt überrascht inne. Der erschrockene
Diener nahm ihr rasch das Zaumzeug ab. Sie starrte den König
verwirrt an, doch der hatte sich scheinbar schon wieder unter
Kontrolle.
»Nun gut, reite sie dort drüben in der leeren
Koppel«, schlug Greedeon vor.
Rijana nickte, doch das Verhalten des Königs hatte
sie erschreckt. Sie bestieg die Stute, die sich wunderbar weich
lenken ließ. Rijana trabte und galoppierte ein paar Mal auf der
Koppel herum.
»Ich würde diese Stute gerne nehmen, wenn Ihr sie
mir wirklich überlassen wollt.«
König Greedeon nickte huldvoll. »Für die Sieben ist
mir nichts zu teuer.«
Rijana nickte unsicher und stieg ab. Anschließend
folgte sie dem König, der sie zu den anderen führte, die bereits
beim Schwertkampftraining waren. Rijana schloss sich ihnen an, und
König Greedeons Soldaten staunten nicht schlecht, wie gut das
junge, zierliche Mädchen mit dem Schwert umgehen konnte. Als sie
etwa zur Mittagszeit das Training beendeten, sah Rijana, wie Saliah
mit einem gutaussehenden Soldaten flirtete.
Bei Saliah sieht das alles immer so
selbstverständlich aus, dachte Rijana betrübt. Sie selbst wäre
wahrscheinlich knallrot angelaufen und hätte keinen Ton
herausbekommen.
Falkann kam lächelnd auf Rijana zu, wurde jedoch
von König Greedeon aufgehalten, der ihm irgendetwas erzählte.
Rijana ging langsam in Richtung des großen
Schlosses zurück.
Rudrinn rannte hinter ihr her und grinste sie an.
»Na, hast du dir ein Pferd ausgesucht?«
Sie nickte. »Ja, eine wunderschöne braune
Stute.«
»Na, dann passt sie ja zu dir.«
Rijana errötete zu ihrem Ärger schon wieder. »Ha,
kaum dass du einen Bart trägst, denkst du wohl, du kannst hier mit
Komplimenten um dich werfen?«, meinte sie, um ihre Verlegenheit zu
überspielen.
Rudrinn grinste und fuhr sich über die dunklen
Bartstoppeln, die sein Gesicht bedeckten. »So wirke ich wenigstens
ein bisschen älter«, sagte er augenzwinkernd.
Rijana hob kritisch die Augenbrauen. »Besonders,
wenn du mit Kirschkernen auf die Portraits ehrenwerter Könige
spuckst.«
Rudrinn lachte laut auf, nahm Rijana bei der Hüfte
und hob sie über seine Schulter, sodass diese nur erschrocken
quietschte. »Na schön, dann bin ich eben nicht erwachsen und werde
es hoffentlich nie werden«, rief er und drehte sie
im Kreis. Rijana trommelte so lange auf seinen Rücken, bis er sie
herunterließ.
Falkann betrachtete die Szene von weitem mit
gerunzelter Stirn – was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Er
hörte König Greedeon gar nicht mehr richtig zu, der über die
Probleme in Catharga und die Verhandlungen mit Falkanns Vater
sprach. Falkann wusste selbst nicht, was mit ihm los war. Er hatte
Rijana schon immer gerngehabt. In den ersten Jahren auf Camasann
war er ihr Mentor gewesen, aber sie war für ihn immer nur das
niedliche kleine Mädchen. Doch jetzt war sie zu einer
wunderhübschen jungen Frau herangewachsen. Er hatte sich in sie
verliebt.
»Rudrinn, du bist ein fürchterlicher, ungehobelter
Pirat!«, rief Rijana, nachdem sie endlich wieder am Boden war und
sich die Haare aus dem geröteten Gesicht strich.
»Ja, und ich bin stolz darauf«, erwiderte Rudrinn
und streckte seine Brust raus. Rijana piekste ihn mit dem Finger in
die Seite und rannte lachend in Richtung Schloss. Rudrinn holte sie
nach wenigen Schritten ein, doch sie stellte ihm ein Bein, sodass
er mit überraschtem Gesicht zu Boden fiel. Kurz darauf erhob er
sich mit empörtem Blick und rieb sich das Schienbein.
»Du bist auch nicht besser. Du würdest eine
hervorragende Piratin abgeben.«
Sie grinste frech, stemmte die Hände in die
Hüften.
»Nein«, sagte sie bestimmt, »auf dem Meer fühle ich
mich nicht so richtig wohl.«
Rudrinn seufzte wehmütig. »Manchmal vermisse ich
das sehr!« Er blickte nachdenklich in die Ferne. »Einfach frei und
ohne Verpflichtungen über das Meer segeln zu können …«
Rijana lächelte Rudrinn verständnisvoll zu, bevor
sie gemeinsam zum Schloss gingen. »Sag mal, Rudrinn, an was
erinnert dich das Schloss?«, fragte Rijana plötzlich und blieb
zwischen zwei riesigen Kastanienbäumen stehen.
Rudrinn runzelte die Stirn. »Das frage ich mich
auch schon die ganze Zeit, komisch, dass es dir auch bekannt
vorkommt.« Er blickte sie auffordernd an.
Rijana lächelte. »Ich bin zuerst auch nicht drauf
gekommen, aber dann ist es mir plötzlich eingefallen. Kannst du
dich noch daran erinnern, wie Brogan uns gefunden hat und wir
einfach in den Wald geritten sind?«
Rudrinn verzog das Gesicht zu einer Grimasse, denn
der Zauberer hatte sie damals ziemlich heruntergeputzt. Doch
plötzlich durchfuhr es ihn: »Das Schloss! Das Schloss auf dem Hügel
mitten im Wald. Meine Güte, du hast Recht! Daran hat es mich die
ganze Zeit erinnert«, rief er aus.
Rijana nickte zufrieden. Ihre Vermutung war also
doch richtig. »Dieses Schloss ist gewaltig und edel, aber irgendwie
ist es nicht so perfekt wie das im Wald, oder?«
Rudrinn nickte zustimmend. Er hatte lange nicht
mehr an dieses wunderschöne und verwunschen wirkende Gebäude
gedacht.
»Komisch eigentlich, Brogan hat uns nie erzählt,
warum er damals so wütend war.«
Rijana zuckte die Schultern. »Vielleicht finden wir
das noch heraus. Jetzt bin ich auf jeden Fall erst mal froh, dass
wir alle zusammenbleiben können.«
Rudrinn grinste und zwinkerte ihr zu. »Nur Nelja
fehlt leider. Der arme Tovion, der hat jetzt wohl Liebeskummer. Er
hat Nelja so viele Briefe geschrieben, aber sie hat nie
geantwortet.«
»Komisch«, erwiderte Rijana überrascht. »Nelja hat
sich wirklich Gedanken gemacht, ob er noch an sie denkt.« Dann
grinste sie frech. »Und, hast du ein Mädchen?«
Rudrinns Gesicht nahm die Farbe einer überreifen
Tomate an, bevor er sich räusperte und verlegen zu Boden blickte.
»Nein, wie kommst du denn darauf?«
Sie grinste breit und piekste ihn in die Seite. »Na
los, komm
schon, wer ist sie? Eine der Dienerinnen?« Sie hob die
Augenbrauen. »Oder etwa eine der Edeldamen?«
Rudrinns Gesicht wurde noch röter, dann riss er
sich jedoch zusammen und hob sie erneut hoch. »Du bist meine
einzige wahre Liebe, edle Dame aus Grintal.«
Rijana lachte nur laut und zappelte, um wieder
runterzukommen.
»Du kannst mir nichts vormachen«, sagte sie
grinsend. »Ich werde es schon noch herausbekommen.«
Nach dem Mittagessen mussten die sechs Freunde
einen äußerst ermüdenden Empfang mit einer Menge Lords und Ladys
über sich ergehen lassen. Alle wollten das neue Mitglied persönlich
kennen lernen. Rijana war das alles allerdings nur furchtbar
peinlich.
Eine Lady mit hoch aufgetürmten Haaren und einem
dürren, ausgezehrten Gesicht unterhielt sich gerade, affektiert an
ihrem Wein schlürfend, mit Rijana, die kaum etwas sagte, doch Lady
Zelena schien das nicht zu stören. Plötzlich stand Rudrinn hinter
der Frau, winkelte die Arme an und wedelte mit ihnen wie ein
Huhn.
Rijana prustete los und schaffte es gerade noch,
das Ganze in einen Hustenanfall übergehen zu lassen.
»Oh, Ihr habt Euch sicher auf der Reise hierher
erkältet«, rief Lady Zelena. Ihre Stimme ähnelte tatsächlich einem
gackernden Huhn, was Rudrinn natürlich sofort zum Anlass nahm, sie
lautlos nachzuäffen.
Rijana lief knallrot an und wusste gar nicht mehr,
wo sie hinschauen sollte. Nun stieg auch noch Broderick, wie konnte
es auch anders sein, auf das Ganze ein. Er stellte sich hinter
einen kleinen und sehr runden Lord, der ein breites, rosafarbenes
Gesicht hatte. Broderick blies die Backen auf und wackelte mit
seinem Kopf. Rijana biss sich krampfhaft auf die Lippe, stammelte
eine Entschuldigung
und drehte sich mit mühsam unterdrücktem Lachen um. Dabei prallte
sie gegen Falkann, der auf dem Weg zu ihr gewesen war.
»Bitte, rette mich, ich kann nicht mehr«, keuchte
sie. Zum Glück schien es niemand bemerkt zu haben.
»Was ist denn?«, fragte Falkann verwirrt.
Rijana drückte ihr Gesicht an seine Schulter und
sagte mit halb erstickter Stimme: »Rudrinn und Broderick, schau dir
die beiden nur an.«
Falkann runzelte die Stirn und sah, wie Rudrinn es
gerade noch schaffte, einem hochrangigen Lord, dem er hinter seinem
Rücken ein Paar Hasenohren gemacht hatte, huldvoll
zuzuwinken.
Nun musste Falkann selbst ein Lachen unterdrücken.
Er führte Rijana nach draußen, während Rudrinn ihr mit einem
frechen Grinsen zuzwinkerte.
Draußen lachte sie laut los und wischte sich Tränen
aus dem Gesicht.
»Die beiden sind unmöglich«, keuchte sie und lehnte
sich an einen der kunstvoll verzierten Pfosten. »Aber diese Lords
und Ladys sind auch wirklich todlangweilig!«
Falkann runzelte die Stirn und nickte zögernd. Er
fand diese Veranstaltungen ebenfalls sehr ermüdend, aber er spürte,
wie Eifersucht ihn durchfuhr, als Rijana sagte: »Rudrinn ist
wirklich toll. Er hat sich nie verbiegen lassen und ist so
geblieben, wie er ist.«
»Und wir anderen wohl nicht?«, fragte er ein wenig
schärfer als beabsichtigt.
Rijana runzelte überrascht die Stirn. »So habe ich
das nicht gemeint«, sagte sie. »Ich meine, du und Saliah, ihr seid
ja mit so etwas aufgewachsen, aber wir anderen …«
Falkann winkte ab und ging mit wütenden Schritten
zurück in den großen Saal. Rijana blickte ihm verwirrt hinterher.
Was hatte er denn plötzlich?
Am späten Nachmittag wurde Bogenschießen trainiert.
Mitten in dem riesigen Park waren mehrere Strohscheiben aufgebaut.
Bis zum Einsetzen der Dämmerung wurde geschossen. Alle machten ihre
Sache sehr gut, bis auf Falkann, der ständig danebenschoss,
ununterbrochen fluchte und gar nichts zustande brachte. Als die
sechs Freunde schließlich in der Abenddämmerung zum Schloss
zurückgingen, schlug Rudrinn Falkann freundschaftlich auf die
Schulter.
»Solltest wohl heute Abend etwas Zielwasser
trinken«, meinte er völlig unschuldig.
Falkann fuhr mit wütendem Gesichtsausdruck herum.
»Kümmere dich um deine eigenen Sachen«, rief er, schubste den
perplexen Rudrinn zur Seite und stürmte allein in Richtung
Schloss.
»Was ist denn mit dem los?«, fragte Rudrinn
verwirrt, als Broderick ihm grinsend aufhalf.
Der schwieg allerdings, obwohl er wusste, was mit
Falkann los war, aber er hatte Falkann versprechen müssen,
niemandem etwas zu verraten.
Beim gemeinsamen Abendessen starrte Falkann nur
wütend auf seinen Teller und säbelte verbissen an einem Stück
Fleisch herum. Berater Flanworn verschlang Rijana, der das alles
furchtbar peinlich war, weiterhin mit seinen anzüglichen
Blicken.
»Der Kerl macht mich wahnsinnig«, zischte sie
Saliah zu, als Flanworn mal wieder den Weinkelch in ihre Richtung
hob und lüstern lächelte.
»Er ist ekelhaft«, stimmte das hübsche blonde
Mädchen zu, bevor sie sich mit einem bezaubernden Lächeln an
Broderick wandte. »Wolltest du Berater Flanworn nicht schon die
ganze Zeit etwas über die Kunst des Bierbrauens in Errindale
erzählen, Broderick?«
Broderick brauchte etwas, bevor er verstanden
hatte. Er drehte seinen breiten Rücken so, dass der Blick auf
Rijana
verdeckt war, und begann mit dem Berater des Königs zu sprechen,
der daraufhin ein wütendes Gesicht machte.
Saliah zwinkerte Rijana zu. »So, jetzt hast du
deine Ruhe.«
Nach dem Abendessen setzten sich die Freunde noch
eine Weile ans Kaminfeuer in der großen Bibliothek und unterhielten
sich. Nur Falkann brütete düster vor sich hin und verschwand
bald.
Am Morgen war Rijana schon früh wach. Draußen
dämmerte es noch, doch sie konnte einfach nicht mehr schlafen. Sie
zog sich an. Inzwischen hatte auch sie die blaue Hose, die hohen,
schwarzen Lederstiefel und die weiße Bluse in den Farben Balmacanns
bekommen. Sie band sich die dicken Haare zu einem Zopf und schlich
durch das Schloss nach draußen. Um diese frühe Morgenzeit war noch
niemand unterwegs. Rijana erreichte bald die Stallungen, holte sich
Sattel und Zaumzeug für ihre Stute und lief dann im Frühnebel zu
den Koppeln.
Die braune Stute hob den Kopf, als Rijana zu ihr
kam.
»Na, wollen wir ein wenig ausreiten?«, fragte sie
leise.
Das Pferd schnupperte ihr mit seinen weichen Lippen
am Hals herum, sodass Rijana kichern musste. »Ich sollte dir einen
Namen geben«, murmelte sie.
Sie streichelte dem Pferd über das kurze weiche
Fell.
»Lenya heißt du.«
Die Stute schnaubte und blickte sie mit großen,
klugen Augen an.
Rijana striegelte ihr Pferd bereits eine ganze
Weile, als sie durch die Nebelschwaden hindurch eine Gestalt sah,
die urplötzlich wie vom Donner gerührt stehen blieb. Es war
Falkann, der ebenfalls Sattel und Zaumzeug in der Hand hatte und
augenscheinlich nicht wusste, ob er nun schnell verschwinden oder
hierbleiben sollte. Schließlich kam er zögernd näher, hängte seinen
Sattel über den Zaun und fragte: »Na, bist du auch schon so früh
wach?«
Rijana nickte lächelnd. »Ich konnte nicht mehr
schlafen und hatte Lust auszureiten.«
»Hättest … ähm, hättest du etwas dagegen, wenn ich
dich begleite?«, fragte er unsicher.
»Natürlich nicht!«, rief Rijana lachend. »Wie
kommst du denn darauf?«
Falkann antwortete nicht und holte stattdessen
seinen stattlichen Fuchshengst von der Koppel. Die beiden sattelten
auf und ritten anschließend durch den stillen, nebelverhangenen
Park. Alles wirkte so friedlich und still, dass sie beide zunächst
schwiegen. Irgendwann brach die Sonne durch, und die Vögel begannen
zu zwitschern.
»Komm, lass uns um die Wette reiten«, rief Rijana
und trieb ihre Stute an, die wie ein Pfeil durch die weit
auseinanderstehenden Bäume jagte.
Falkann holte auf seinem Hengst rasch auf und
gewann um Haaresbreite mit seinem etwas größeren und kräftigeren
Pferd. Rijana hielt lachend an: »Das nächste Mal schlage ich
dich.«
Falkann grinste nur, und die beiden ritten im
Schritt auf ihren schnaubenden Pferden am Ufer eines Sees entlang,
der von Schilf eingerahmt war. In der Mitte des Sees lag eine
kleine Insel mit vielen Bäumen.
»Es ist schön hier«, sagte Rijana. »Aber irgendwie
auch, ich weiß nicht …«
Falkann nickte ernst. »Es wirkt einfach nicht
natürlich, nicht wahr?«
Sie lächelte zustimmend. An einem kleinen
Sandstrand am Ufer des Sees ließen sie die Pferde anhalten und
stiegen in stillem Einvernehmen ab. Falkann pflückte ein paar rote
Beeren, und die beiden setzten sich ans Ufer.
»Möchtest du welche?«
Rijana nickte, nahm ein paar von den süßen Beeren
und schmierte sich dabei etwas roten Saft auf die linke
Wange.
Falkann lächelte sie an und wischte ihr den Saft
vorsichtig ab. »So hast du als kleines Mädchen auch immer
ausgesehen.« Er schluckte und sagte ein wenig heiser: »Aber das
bist du jetzt nicht mehr.« Falkann ließ seine Hand auf ihrer Wange,
und Rijana konnte ihn nur mit großen Augen ansehen. Doch bevor
Falkann sich wirklich dazu entschließen konnte, ihr einen Kuss zu
geben, brach plötzlich ein Reiter aus dem nächsten Gebüsch heraus.
Die beiden fuhren erschrocken auf.
»Da seid ihr!«, rief der Mann in der blauweißen
Gardekleidung des Königs. »König Greedeon lässt euch schon
suchen.«
Rijana beeilte sich, zu ihrem Pferd zu kommen,
während Falkann unwillig die Stirn runzelte. In leichtem Galopp
brachten sie den Weg zum Schloss rasch hinter sich. Rijana warf
Falkann immer wieder unsichere Blicke zu. Hatte sie es sich
eingebildet, oder hatte er sie wirklich küssen wollen? Doch das
konnte sie einfach nicht wirklich glauben.
Als die beiden in den großen Saal kamen, trat ihnen
König Greedeon mit wutverzerrtem Gesicht entgegen.
»Wo wart ihr? Ihr wisst doch, dass ihr euch
abmelden müsst.«
»Tut mir leid, das war mir nicht klar«, sagte
Rijana überrascht und blickte ihre Freunde nacheinander an.
»Ihr seid sehr wertvoll«, erwiderte König Greedeon
ernst. »Ich möchte immer wissen, wo ihr seid, damit euch nichts
passiert.«
»Ich bin doch kein Hund«, knurrte Falkann und
setzte sich.
König Greedeon fuhr zu ihm herum und sagte mit
stechendem Blick: »Vergiss nicht, dass ich diese Schule finanziere
und dass ihr nur durch mich zu so großartigen Kriegern ausgebildet
worden seid.«
»Ich dachte, das würde uns im Blut liegen«,
erwiderte Falkann
herausfordernd. Er war noch immer wütend wegen des Soldaten.
»Ich will jederzeit wissen, wo ihr seid!«,
wiederholte der König gefährlich leise und auch ein wenig
drohend.
Alle blickten etwas betreten in die Runde. Keiner
wusste, was er sagen sollte. Doch dann wurde der König urplötzlich
wieder sehr freundlich. »Aber nun esst, ihr seid jung und braucht
Kraft.« Damit verließ er festen Schrittes den Raum.
»Und?«, fragte Broderick Falkann leise und nickte
unauffällig zu Rijana hinüber, die nachdenklich auf den Obstteller
vor sich blickte.
Falkann schnaubte nur und winkte ab.
Später fand das alltägliche Schwertkampftraining
statt, doch Falkann war so unkonzentriert, dass er von Tovions
Schwert am Kopf gestreift wurde und zum Heiler gebracht werden
musste. Nachdem Rijana in den Baderäumen gewesen war, lief sie in
einem frischen Kleid Broderick über den Weg. Er hatte sich gerade
noch etwas zu essen aus der Küche holen wollen.
»Ist alles in Ordnung mit Falkann?«, fragte
Rijana.
Broderick grinste. »Sein Kopf ist noch dran, falls
du das meinst.«
Sie schnaubte. »Was ist denn eigentlich los mit
ihm?«
»Weißt du das wirklich nicht?«, fragte er
ungläubig.
Sie schüttelte mit absolut unschuldigem Gesicht den
Kopf. Broderick seufzte und zog Rijana am Ärmel ihres Kleides
hinaus in den warmen Frühlingstag. Er drückte sie auf die von der
Sonne gewärmten Steine am Rand eines sprudelnden Brunnens.
»Also, bevor er sich noch aus Versehen umbringt,
sage ich es dir«, meinte Broderick seufzend, dann blickte er sie
eindringlich an. »Aber du darfst nichts verraten!«
Sie nickte und wusste gar nicht, auf was Broderick
hinauswollte.
»Er ist verliebt.«
»In wen?«, fragte Rijana mit großen Augen.
Broderick schüttelte lachend den Kopf.
»Na in dich, du Dummkopf! Selbst du musst doch
gemerkt haben, wie er dich ansieht.«
Rijana schluckte, wurde abwechselnd rot und bleich
und schnappte nach Luft. Nie hatte sie ernsthaft daran gedacht,
dass Falkann, der Prinz aus Catharga und noch dazu der Älteste und
mit Abstand der Bestaussehende der vier, sich in sie verliebt haben
könnte.
»Das kann nicht sein«, stammelte sie.
Broderick lachte. »Aber warum denn nicht?«
»Weil, weil … na ja, ich meine, im Vergleich zu
Saliah bin ich doch …«, sie verzog das Gesicht, »vollkommen
unscheinbar.«
Nun sah Broderick reichlich perplex aus. Er
schüttelte den Kopf, zog sie wieder auf die Füße und zurück ins
Schloss hinein. Wortlos führte er sie durch die hallenden Flure und
stellte sich mit ihr vor einen hohen, mit Goldblumen verzierten
Spiegel.
»So, und jetzt sag mir mal bitte, was an dir
unscheinbar sein soll?«
Rijana nahm eine Haarsträhne in die Hand und sagte,
eine Grimasse schneidend: »Die haben die Farbe von Kuhkacke.«
Broderick zwickte sie in die Nase. »Du bist
unmöglich! Meine Güte, Rijana, wenn ich nicht ein Mädchen in
Errindale hätte, würde ich dich auf der Stelle heiraten!«
Sie blickte ihn verwirrt an. »Blödmann«, sagte sie
verlegen, »Saliah ist viel hübscher.«
Broderick schüttelte den Kopf. »Sicher, Saliah ist
wunderschön, aber das bist du auch, eben nur auf eine andere Art.
Man kann ja auch nicht einen Schwan mit einem Wildpferd
vergleichen, oder? Saliah ist eben durch und durch eine Lady, und
du, du bist eben eher eine, wie soll ich sagen? Ein Naturkind, aber
deswegen bist du genauso hübsch.«
»Ach was«, sagte Rijana und ging mit hochroten
Wangen auf ihr Zimmer zurück. Doch sie grübelte eine lange Zeit
nach. Dann hatte Falkann also doch versucht sie zu küssen, und wenn
sie mit sich ehrlich war, war das sogar ein ganz schönes
Gefühl.
Zum Abendessen bürstete sie sich die Haare
besonders lange und band sie mit einem blauen Seidenband nach
hinten. Dann lief sie noch rasch zu dem großen Spiegel und
betrachtete sich darin.
Meine Haare sind einfach nicht so glatt und so
schön blond wie die von Saliah, dachte sie kritisch,
außerdem bin ich kleiner als sie und überhaupt …
Sie wandte sich schnaubend ab, und sie konnte sich
wirklich nicht vorstellen, dass Falkann etwas an ihr fand.
Aus einer Nische heraus betrachtete Flanworn sie
mit gierigem Blick. Die Kleine war wirklich nach seinem Geschmack,
jung, unschuldig und sehr hübsch. Er würde sie sich nehmen, das
hatte er sich fest vorgenommen.
Beim Abendessen verschlang er sie erneut mit
Blicken und verkündete dann, auch zu den anwesenden Lords gewandt:
»Ich werde während des letzten Frühlings- und des ersten
Sommermondes nicht hier sein wegen dringender Geschäfte!« Dabei sah
er sehr wichtig aus und fuhr sich über die fettigen, nach vorne
gekämmten Haare.
König Greedeon nickte. Sollte Flanworn ruhig durch
das Land reisen und Steuern eintreiben, darin war er sehr
gut.
Rijana war erleichtert. Dieser ekelhafte Kerl war
ihr wirklich zuwider. Nach dem Essen trat sie unsicher zu Falkann,
der jetzt einen Verband um den Kopf trug.
»Ist wieder alles in Ordnung mit dir?«
Er grinste verlegen und deutete auf den Verband.
»Nur eine Beule, und die ist bald wieder verschwunden.«
Rijana nickte und wusste plötzlich nicht mehr, was
sie sagen
sollte. So etwas war früher auf Camasann nie vorgekommen. Auch
Falkann wirkte verlegen, und dann kam auch noch Rudrinn und legte
Rijana einen Arm um die Schultern.
»Kommt noch jemand mit nach draußen, einen
Abendausritt machen?«
Falkann schien ihn mit Blicken erdolchen zu wollen,
doch nun kam Broderick hinzu und packte Falkann fest an der
Schulter.
»Du wirst doch sicher gerne mit ihm ausreiten,
oder?«
Rijana runzelte überrascht die Stirn, doch dann
wurde ihr klar, dass Broderick wohl wollte, dass die beiden sich
aussprachen.
Schließlich nickte Falkann und ging mit Rudrinn
hinaus.
»Ich hoffe, die beiden bringen sich nicht um«,
sagte Saliah kritisch.
»Warum sollten sie?«, fragte Tovion, der mit den
Gedanken mal wieder ganz woanders war.
Die beiden jungen Männer liefen nebeneinanderher
zu den Pferdeweiden, wobei Falkann wütenden Schrittes ein rasches
Tempo anschlug. Sie sattelten den Fuchshengst und einen großen
Rappen, bevor sie durch die Parkanlage galoppierten.
»Lass uns ein Wettrennen machen«, schlug Falkann
vor. »Einmal durch die Allee, dann über die weißen Felsen und am
Schluss durch die Obstbäume bis zur Wiese.«
Rudrinn zuckte die Achseln. »Von mir aus.«
Die beiden galoppierten los. Aber während es für
Rudrinn nur Spaß war, war es Falkann mehr als ernst. Er wollte den
vermeintlichen Konkurrenten um jeden Preis schlagen. Die beiden
jagten Seite an Seite durch die Allee. Bei den Felsen hatte Rudrinn
kurz die Nase vorn. Halsbrecherisch sprang Falkann mit ihm zusammen
über die weißen Steine, dann
war er wieder an der Spitze. Doch bei den Obstbäumen war Rudrinn
wieder vorn. Kurz vor dem Ziel drängte Falkann Rudrinn jedoch so
hart ab, dass dieser nur mit einiger Mühe verhindern konnte,
mitsamt seinem Pferd am nächsten Baum zu landen. Triumphierend und
heftig atmend hielt Falkann auf der Wiese an, auf der die
verschiedensten Frühlingsblumen blühten.
»Sag mal, bist du noch ganz bei Trost?«, fragte
Rudrinn wütend und stoppte sein Pferd vor Falkann. »Wolltest du
mich umbringen?«
Der schnaufte nur und wandte den Blick ab. Jetzt
war es ihm ein wenig peinlich, aber vorhin war sein Temperament
einfach mit ihm durchgegangen. Er hatte um jeden Preis gewinnen
wollen.
Rudrinn packte ihn fest am Arm, seine dunklen Augen
funkelten zornig. »Was ist mit dir los? Habe ich dir etwas
getan?«
»Ich werde sie nicht so einfach aufgeben, dass du
es nur weißt«, brach es aus Falkann heraus.
Rudrinn ließ ihn verwirrt los. »Wen willst du nicht
aufgeben?«
»Na, Rijana natürlich! Jetzt stell dich doch nicht
so dumm«, rief er zornig.
Einen Augenblick war Rudrinn völlig verwirrt, dann
breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus, und
Falkann war kurz davor, sich auf ihn zu stürzen.
»Deswegen!«, lachte Rudrinn und schüttelte den
Kopf. »Du meine Güte, Falkann! Rijana ist für mich wie eine kleine
Schwester.«
Augenblicklich entspannte sich der blonde junge
Mann und seufzte erleichtert. Nun wirkte er ziemlich verlegen und
senkte den Blick. »Entschuldige, Rudrinn, ich weiß auch nicht, was
in mich gefahren ist.«
Rudrinn schlug ihm noch immer grinsend auf den
Oberarm.
»Die kleine Rijana, du liebe Zeit, da hätte ich auch selbst
draufkommen können.«
»Sie ist nicht mehr klein«, murmelte Falkann und
zog die Augenbrauen zusammen.
Rudrinn nickte breit grinsend. »Nein, das ist sie
nicht. Also, Falkann, ich werde dir nicht im Weg stehen.«
Der nickte seufzend, und die beiden ritten im
Schritt zurück zu den Stallungen, wo ein Diener ihre Pferde
absattelte und auf die Weiden brachte. Anschließend gingen die
beiden lachend zurück zum Schloss. Endlich verhielten sie sich
wieder wie die Freunde, die sie eigentlich waren.
Broderick, der gerade die Treppe herunterkam,
grinste breit.
»Hurrah, sie leben noch!«, rief er zufrieden und
verbeugte sich übertrieben vor ihnen. »Ich wusste doch, dass ihr
Edelmänner seid.«
»Ich nicht«, widersprach Rudrinn mit einem frechen
Lachen. »Hätte ich sie gewollt, wäre es Falkann schlecht
ergangen.«
Falkann stieß ihn in die Seite, denn die beiden
Mädchen kamen gerade um die Ecke.
»Was ist denn hier los?«, fragte Saliah und hob
ihre perfekt geschwungenen Augenbrauen.
»Männerangelegenheiten«, erwiderte Broderick.
»So, so. Na, dann lassen wir die edlen Herren mal
mit ihren Angelegenheiten allein«, sagte Saliah augenzwinkernd zu
Rijana, und die beiden gingen mit ihren Schwertern hinaus auf den
großen Hof, um mit einigen von König Greedeons Soldaten zu
trainieren.
Auch die jungen Männer schlossen sich bald an. Als
das Training beendet war, verschwand Saliah mit Endor, dem jungen
Soldaten, der in sie verliebt war. Rudrinn stand hinter einem Baum
und beobachtete das Ganze mit kritisch gerunzelter Stirn.
Falkann schlenderte währenddessen betont lässig zu
Rijana hinüber, die gerade ihr Schwert säuberte.
»Das war ein guter Kampf, oder?«
Rijana nickte und blickte mit ihren großen blauen
Augen zu ihm auf. Falkann wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen
sollte.
»Ähm, würdest du, äh, vielleicht nachher mit mir
zusammen essen gehen?«
Rijana blickte ihn verwirrt an. »Wir essen doch
immer gemeinsam?!«
Falkann verfluchte sich heimlich, stammelte noch
etwas und wandte sich schließlich mit hochrotem Kopf ab. Hinter
einer Gruppe Bäume blieb er stehen und schlug immer wieder mit dem
Kopf gegen den Stamm einer dicken Eiche.
Broderick trat hinter ihn und zog ihn zurück.
»Du solltest nichts beschädigen, was du noch
brauchst«, meinte er grinsend.
Falkann blickte ihn verzweifelt an. »Ich stelle
mich an wie der letzte Idiot! Ich weiß gar nicht, was mit mir los
ist! Weder bei Saliah noch bei einem der Mädchen auf der Insel habe
ich mich jemals so blöd verhalten.«
Broderick schlug seinem Freund auf die
Schulter.
»Lass es langsam angehen, ich denke schon, dass sie
dich mag, aber Rijana ist noch sehr jung.« Broderick dachte kurz
nach. »Vielleicht schenkst du ihr irgendetwas. Wir bekommen doch
genügend Gold von König Greedeon.«
Falkann nickte erleichtert. »Gute Idee! Ich werde
mal zum Silberschmied des Schlosses gehen.« Damit machte er sich
mit langen Schritten auf zu der großen Schmiede, die hinter dem
gewaltigen Schloss lag.
Lachend schüttelte Broderick den Kopf. Er konnte
seinen Freund verstehen, denn er vermisste Kalina, das Mädchen aus
der Schenke, ebenfalls. Mit gerunzelter Stirn dachte er daran, dass
er seinen Brief an sie schon vor langer Zeit abgeschickt
hatte, ohne eine Antwort zu bekommen. Nun gut, sie kann selbst
nicht schreiben, es wird einige Zeit dauern, bis sie jemanden
findet, der mir zurückschreibt, dachte er. Manchmal wünschte er
sich wirklich, er wäre ein ganz normaler einfacher Mann.
Ariac kämpfte schon den ganzen Tag in dem
stickigen und düsteren Tal in der Nähe von König Scurrs Schloss.
Immer wieder ließ Worran mit bösartigem Lachen neue Orks von den
Felsen herunterstürmen, die Ariac schonungslos angriffen. Ariac
hatte das silberne Schwert mit den Runen in der Hand und kämpfte
mit geschickten Schlägen teilweise gegen zwei oder drei der
stinkenden Kreaturen auf einmal. Das Schwert ließ sich wunderbar
führen, doch es war nicht sein eigenes, das, welches seit
achttausend Jahren zu ihm gehörte. Doch Ariac wusste das noch
nicht.
Worran hasste den Jungen noch immer, aber durch
König Scurrs List war er nun ein wenig gefügiger. Der grausame,
grobschlächtige Anführer ließ einen Soldaten kommen, der einen
stählernen Käfig brachte, aus dem es gefährlich zischte. Worran
lief den mit Geröll übersäten Abhang hinunter und blieb neben dem
heftig atmenden Ariac stehen, der gerade den letzten Ork getötet
hatte.
»Hier«, sagte Worran tückisch und schlug gegen die
engmaschigen Gitter, woraufhin ein noch wesentlich boshafteres
Zischen ertönte. »Das ist eine Feuerechse, allerdings nur eine
kleine. Nimm dich vor ihren Stacheln in Acht! Es soll sehr
unangenehm sein, wenn man eine davon abbekommt.«
Worran machte den Käfig auf und rannte dann, so
schnell er konnte, den Berg hinauf. Ein etwa drei Fuß langes Wesen
kam aus dem Käfig gekrochen. Die Feuerechse sah beinahe aus wie ein
kleiner Drache mit ihren spitzen Zähnen, der schuppigen Haut und
den vielen langen Stacheln, die aus ihrem Rücken
herausragten.
Fauchend ging das Wesen auf Ariac los, der nach dem
Kopf
der Feuerechse schlug, doch diese war unglaublich wendig und griff
immer wieder mit boshaften Zischlauten an. Auch dem peitschenden
Schwanz musste Ariac aus dem Weg gehen. Ein paar Mal wurde er
getroffen, sodass er bereits drei lange Stacheln im Bein stecken
hatte, bevor es ihm endlich gelang, der Feuerechse den Kopf vom
zuckenden Körper zu trennen. Jetzt, wo die Anspannung nachließ,
brannte sein Bein wie Feuer. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er
die Stacheln heraus.
»Wäre es eine ausgewachsene Echse gewesen, würdest
du nicht mehr allzu lange leben«, sagte der Ausbilder gefühllos und
deutete auf die langen Stacheln. »Ich wünsche dir eine angenehme
Nacht. Du hast heute Wache auf dem Turm.« Damit verschwand er leise
vor sich hin lachend durch die geheimen Schluchten zurück in
Richtung Schloss.
Ariac folgte etwas langsamer. Nicht nur dass sein
Bein unheimlich schmerzte, er war auch inzwischen zu Tode
erschöpft. In einem der eiskalten Gebirgsbäche wusch er sich den
Schmutz und den Schweiß des anstrengenden Tages herunter. Dann
humpelte er langsam zum Schloss. Man sah zwar in der Dunkelheit
niemanden, doch er wusste, dass überall Wachen standen, die ihn
beobachteten. Doch mittlerweile hatte er gar nicht mehr das
Bedürfnis zu fliehen, er wollte nur eines: endlich gegen die
Krieger aus Camasann kämpfen, die seinen Clan ausgelöscht
hatten.
Vom Grunde der Schlucht aus schleppte er sich die
vielen, grobbehauenen Stufen empor zum Tor, wo mehrere bewaffnete
Soldaten standen. Ariac war schwindlig, sein Kopf schmerzte, und
sein Bein pochte unerträglich. Das musste von den Stacheln der
Echse kommen. Er biss die Zähne zusammen und lief durch die große
Eingangshalle. Er wollte zumindest noch rasch in sein Zimmer gehen
und sich frische Kleidung holen, bevor er mit der Nachtwache
begann. Er sah, wie König Scurr mit einem fremden Mann aus seinem
Arbeitszimmer
kam. Es war ein mittelgroßer Mann, der seine spärlichen, fettigen
Haare nach vorne in seine Stirn gekämmt hatte. Er wirkte sehr
unterwürfig und nervös. Während er redete, verbeugte er sich immer
wieder hektisch vor dem großen, hageren und durchaus
furchteinflößenden König.
Ariac nickte dem König nur flüchtig zu. Eine
Angewohnheit, die diesen heimlich sehr ärgerte, denn Ariac zollte
ihm noch immer nicht die Achtung, die er sich erwünscht
hatte.
»Es wird alles geschehen wie vereinbart«, sagte
König Scurr mit seiner leisen, aber durchdringenden Stimme. Damit
verabschiedete er seinen Gast, der rasch wie ein Schatten durch das
Tor verschwand.
Ariac machte sich darüber keine großartigen
Gedanken. Er zog sich in seinem Zimmer um und stieg schwerfällig
den Turm hinauf, um einen der anderen Soldaten abzulösen. Obwohl es
Frühsommer war und es selbst hier oben immer stickig und warm war,
fror Ariac. Zitternd wickelte er sich in seinen Umhang und hoffte
darauf, dass die Nacht bald vorüber sein würde.
Als er in der Morgendämmerung von einem älteren
Soldaten abgelöst wurde, konnte er kaum noch laufen. Das Fieber kam
und ging in Schüben, sein Kopf drohte zu zerspringen, und sein Bein
war entzündet. Der Soldat betrachtete ihn kritisch, ging dann
jedoch zu seinem Posten, ohne Ariac weiter zu beachten. Ariac
stolperte die enge Wendeltreppe hinunter und ließ sich in seinem
Zimmer auf sein Bett fallen. Obwohl er durstig war, hatte er nicht
mehr die Energie, sich den Wasserkrug zu nehmen, der auf dem
kleinen Holztisch stand.
König Scurr wunderte sich, dass Ariac nicht wie
sonst zum gemeinsamen Frühstück erschien. Darauf bestand der König,
seitdem Ariac hier auf der Burg war. Scurr rief Morac zu sich, der
nun auch auf dem Schloss diente und gerade im Thronsaal Wache
stand. Der einst grobknochige und sehr
große Junge war zu einem gewaltigen Mann herangewachsen. Er stand
einem Ork in nichts nach.
»Mein König«, sagte er zackig und salutierte.
»Weißt du, wo Ariac ist?«, fragte der König.
»Nein, mein König«, antwortete Morac und knirschte
mit den Zähnen. Dass gerade Ariac einer der Sieben war, wurmte ihn
besonders. Morac war immer einer von Worrans Lieblingen gewesen. Er
selbst hätte es seiner Meinung nach viel mehr verdient.
»Dann such ihn!«, befahl der König ein wenig
ungehalten.
Morac eilte mit großen Schritten davon und suchte
Ariac in der Trainingshalle, im Hof und schließlich in seinem
Zimmer.
»Bist du hier, du Abschaum?«, schrie er in den
Raum, bekam jedoch keine Antwort. Er wollte schon wieder gehen, sah
jedoch eine Bewegung im Bett. Stirnrunzelnd ging Morac näher und
hob mit der Schwertspitze die grobe Wolldecke hoch. Ariac lag
zitternd und zusammengekrümmt im Bett, ganz offensichtlich hatte er
Fieber.
Morac zerrte ihn an seinem durchgeschwitzten Hemd
nach oben. »Los, aufstehen, dein König will dich sehen.«
Ariac schien das alles gar nicht mitzubekommen. Er
stöhnte nur leise und fiel auf den steinernen Boden, als Morac ihn
losließ. Morac zuckte die Achseln und kehrte zu König Scurr zurück,
der mit Ausbilder Worran beim Frühstück war.
»Wo ist er?«, fragte Scurr mit gerunzelter
Stirn.
Morac verbeugte sich. »Auf seinem Zimmer, er sieht
nicht sonderlich gut aus.«
Scurr hob fragend die Augenbrauen, während Worran
breit grinste.
»Offensichtlich ist er krank«, meinte Morac und
verbeugte sich erneut.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Scurr zu Worran
gewandt, der leise vor sich hin lachte.
»Oh«, erwiderte der Ausbilder finster, »er hatte
eine Begegnung mit einer Feuerechse und war zu dumm, um richtig
auszuweichen.«
Mit wütendem Gesicht fuhr Scurr auf und funkelte
Worran mit seinen merkwürdigen, bösen Augen an, woraufhin dieser
sofort beschwichtigend die Hand hob. »Keine Sorge, es war nur eine
sehr kleine Feuerechse, er wird das überleben.«
»Ich hoffe«, sagte der König kalt, »dass du ihm
gesagt hast, dass die Blätter des Curuz-Busches die Wirkung des
Giftes mildern.«
Worran schluckte und schüttelte den Kopf. Scurr
sprang auf ihn zu und hob den zwar kleineren, aber sehr viel
schwereren Mann beinahe mühelos am Kragen seines schwarzen Hemdes
hoch. Worran hielt die Luft an. Er konnte es nicht ausstehen, wenn
Scurr Magie gegen ihn einsetzte.
»Dann behebe diesen Fehler«, sagte der König
harsch. »Ich möchte nicht, dass er mehrere Tage nicht trainieren
kann, nur weil er gegen das Gift kämpft. Ist das klar?«
Worran nickte übereifrig. Als Scurr ihn endlich auf
den Boden fallen ließ, rannte er beinahe aus dem Raum und hinauf in
den Turm, wo Ariac gerade mühsam ins Bett zurückgekrabbelt war. Er
hatte einen neuen Fieberschub bekommen und zitterte am ganzen
Köper.
»Los, aufstehen«, knurrte Worran und zog ihn nach
oben.
Ariac hob mühsam die Augenlider. Er konnte sich
einfach nicht auf den Beinen halten.
»Verdammt, jetzt lauf schon«, knurrte Worran
wütend, der Ariac für den Ärger verantwortlich machte, den er
bekommen hatte.
Er zerrte Ariac durch das Schloss, die Treppen
hinunter, hinaus ins Freie, wo er Ariac vor einem dornigen Gebüsch
zu Boden warf.
»Die Blätter des Curuz-Busches helfen gegen das
Gift«, knurrte der Ausbilder widerwillig und deutete auf einen der
stacheligen Büsche, die überall im Gebirge wuchsen. »Kau sie! Ab
morgen wird wieder trainiert.«
Ariac hatte kaum mitbekommen, was Worran gesagt
hatte. Sein Kopf pochte, und er hatte heftige Magenkrämpfe, die
immer schlimmer wurden. Nach einer Weile krabbelte er mühsam zu dem
Dornenbusch, riss einige Blätter ab, wobei die Dornen seine Hand
zerkratzten, und kaute auf den bitteren Blättern herum. Zuerst
merkte er gar nichts, doch als die Sonne langsam ihren höchsten
Punkt erreicht hatte, ließen die furchtbaren Kopfschmerzen nach,
und er konnte endlich aufstehen. Er sammelte noch einige Blätter
und ging dann langsam zum Schloss zurück. Einer der Soldaten
grinste ihn boshaft an.
»Eine Feuerechse?«
Ariac nickte und musste husten. Diese Blätter
schmeckten furchtbar, und ihm wurde schon wieder schlecht.
Ariac stolperte langsam die Stufen hinauf. Jede
Bewegung war anstrengend.
»Leg die Blätter auf die Einstichstellen, dann geht
es schneller«, rief der Soldat ihm hinterher.
Ariac hob nur müde die Hand. Er wusste nicht, ob
der Soldat die Wahrheit sagte, denn normalerweise half ihm nie
jemand. Später versuchte er es trotz allem, schließlich wollte er
endlich dieses Gift loswerden, das durch seinen Körper jagte. Am
Abend ging es ihm tatsächlich ein wenig besser, auch wenn er noch
völlig erschöpft war.
Wenn das eine junge Feuerechse war, dann möchte
ich nicht wissen, wie es bei einer ausgewachsenen ist«, dachte
er, bevor er einschlief.
Am nächsten Morgen fühlte er sich zwar noch immer
furchtbar, ging jedoch zum Frühstücken in die große Halle. König
Scurr betrachtete ihn kritisch von oben bis unten, in etwa so, wie
ein Pferdehändler sein wertvollstes Pferd betrachten würde.
»Lass dir das eine Lehre sein!«, sagte der König
streng. »Geh Feuerechsen aus dem Weg. Wäre es eine erwachsene
gewesen, wärst du in wenigen Tagen tot. Die Blätter verlangsamen
zwar die Wirkung, aber sie können das Gift einer ausgewachsenen
Echse nicht neutralisieren. Mit dem Saft der Dornen überlebst du
ein paar Tage länger, aber es nützt letztendlich auch
nichts.«
Ariac nickte und kaute halbherzig auf einem Stück
Brot herum.
»Du wirst heute trainieren«, befahl der König. »Das
ist eine gute Übung, auch unter schweren Bedingungen zu
kämpfen.«
Ariac nickte erneut. Es hätte ohnehin keinen Sinn
gehabt zu widersprechen. So schleppte er sich auch an diesem Tag
ins Tal und kämpfte gegen Scurrs Soldaten, Orks und die kleinen
Steintrolle mit ihren Keulen.